US-Muslime über Abtreibung – eine hitzig diskutierte Frage

Ausgabe 326

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Abtreibung gehört nicht nur in den USA zu den umstrittensten Fragen. Auch in europäischen Staaten ist sie derzeit Gegenstand des Streites zwischen den Lagern. Während sich christlich-konservative Gruppen, die sich häufig als „Lebensschützer“ bezeichnen, ein „Recht auf Abtreibung“ ablehnen, wird es von Progressiven im Westen verteidigt.

(iz). Am 24. Juni 2022 erhielt diese umstrittene Frage eine neue Dynamik. Der von Donald Trump mit konservativen Richtern besetzte Oberste Gerichtshof der USA hob das seit dem 22. Januar 1973 geltende Urteil zu Roe gegen Wade auf. Der damalige Präzedenzfall begründete die Autonomie einer Frau, über Aufrechterhaltung oder Abbruch einer Schwangerschaft zu bestimmen. Im Ergebnis können US-Bundesstaaten jetzt nach eigenem Gutdünken einen Schwangerschaftsabbruch verbieten, was einige von Republikanern regierte bereits getan haben.

Die muslimische Gemeinschaft in den USA hat wie die Gesamtgesellschaft teils polarisiert auf das wegweisende Urteil des höchsten Gerichts reagiert. MuslimInnen, die den Demokraten nahestehen oder einem „woken“ aktivistischen Lager angehören, schlossen sich der heftigen Kritik an der Entscheidung an. Sie befürchten, dass die anti-muslimische, christliche Rechte gestärkt hervorgegangen ist. Politisch Konservative begrüßten die Aufhebung. Ein signifikanter Bestandteil der US-Muslime bewegt sich irgendwo dazwischen.

Am 30. Juni veröffentlichte der Rat für Amerikanisch-Islamische Beziehungen (CAIR) eine Erhebung zu Einstellungen der US-MuslimInnen anlässlich der anstehenden Zwischenwahlen zum Kongress im November 2022. Dabei wurden auch Meinungen zum Thema Abtreibung und Roe gegen Wade abgefragt. Es wird klar, dass sich unter den Gemeinschaften und ihren Mitgliedern kein einheitliches Meinungsbild feststellen lässt. Allerdings ergaben die Befragungen, dass schwarze Muslime durchschnittlich für eine striktere Regulierung von Abtreibung votieren als alle anderen ethnischen Herkunftsgruppen.

13,7 Prozent der Befragten gaben an, dass sie Gesetze unterstützen würden, die einen Schwangerschaftsabbruch in jedem Stadium der Schwangerschaft bis zur Geburt ohne Einschränkungen erlauben. 14,9 sprachen sich für Gesetze aus, die Abtreibungen bis zur 20. Schwangerschaftswoche erlauben, sofern es eine Ausnahme für medizinische Notfälle gibt. 12,8 befürworten Gesetze, die Abtreibungen bis zur 15. Schwangerschaftswoche erlauben, sofern es Ausnahmen für medizinische Notfälle gibt. 13,1 befürworten Gesetze, die einen Schwangerschaftsabbruch bis zur sechsten Schwangerschaftswoche zulassen, sofern es sich um einen medizinischen Notfall handelt. 7,2 der Befragten gaben an, sie würden Gesetze unterstützen, die Abtreibungen in jedem Stadium der Schwangerschaft ohne Ausnahmen verbieten.

Dr. Yasir Qadhi, ein bekannter konservativer Redner und Prediger, warnte die Muslime seines Landes, sich von den beiden zerstrittenen politischen Lagern vereinnahmen zu lassen. Das islamische Recht sei weder „republikanisch“ noch „demokratisch. Es sei verständlich, wenn sich MuslimInnen von aktuellen Debatten mitreißen ließen. Allerdings verlange die Religion des Islam „ein höheres Maß an akademischer Integrität“. Öffentliche Stimmen sollten sich vorher mit der rechtlichen Position zum Streitfall Abtreibung vertraut machen, bevor sie „sich im Namen des Glaubens zu einem so sensiblen Thema äußern“.

Musa Furber, ein US-amerikanischer Gelehrter und Fachmann für islamisches Recht, sprach sich ebenfalls gegen die Politisierung aus. Keine einzige Schule – ungeachtet ihrer konkreten Haltung – hätte „gesellschaftspolitische Identitätspolitik“ oder „Kulturkampf“ als Grundlage ihrer Rechtsquellen. Genauso wenig würden diese sich auf die US-Verfassung und den Obersten Gerichtshof beziehen. Es gäbe für Muslime keine Notwendigkeit, sich die Ansichten der politischen Lager in den USA zu eigenen zu machen, noch ihre differenzierte Sichtweise auf „eine einzige“ zu reduzieren, die der gesellschaftlichen Meinung der US-Partei entspräche.

Furber verwies darauf, dass sich die Positionen der islamischen Rechtsgelehrten nicht auf die Dialektik von Christkonservativen und Liberalen in den USA herunterbrechen lassen. So hätten viele einen Schwangerschaftsabbruch bis zum Zeitpunkt der Einhauchung der Seele (je nach Ansicht 40 bis 120 Tage nach der Zeugung) als zulässig erklärt. In Fällen einer Schwangerschaft als Ergebnis von Vergewaltigung gingen manche davon aus, dass ein Abbruch danach möglich sei.

Ein Blick auf die verschiedenen Positionen der Gelehrten und ihrer Schulen zeigt kein einheitliches Meinungsbild. Während die Mehrheit der Fuqaha in der Nachfolge von Imam Malik der Ansicht sind, dass das Einhauchen der Seele mit dem Zeugungsakt beginnt, gehen andere von einem Zeitpunkt zwischen 40 und 120 Tagen aus. Malikitische und hanbalitische ‘Ulama sehen das göttliche Eingreifen in jedem Entwicklungsstadium des Fötus in jedem Moment seiner Entwicklung am Wirken. Viele andere, gerade aus der hanafitischen Schule, sehen innerhalb der Frist bis zum Einhauchen der Seele (max. 120 Tage) eine Erlaubnis von Abtreibung.

Der US-amerikanische Gelehrte und Autor Dr. Abdullah bin Hamid Ali fasste die verschiedenen Positionen muslimischer Schulen und Rechtsgelehrter zur Abtreibung wie folgt zusammen: unrechtmäßig in allen Stadien einer Schwangerschaft; erlaubt während der ersten 40 Tage, aber danach haram; unbeliebt (makruh) während der ersten 40 Tage, aber danach haram; erlaubt, wenn eine Schwangerschaft Folge von unrechtmäßigem Geschlechtsverkehr ist; bedingungslos erlaubt vor dem 120. Tag; und erlaubt nur mit einem legitimen Grund. Darüber hinaus ist Bin Hamid Ali der Meinung, dass Muslime nicht nur beachten sollten, was Rechtsgelehrte dazu sagen. Sie sollten zusätzlich die entsprechende Theologie und Ethik in Betracht ziehen.

In einem relevanten und bündigen Beitrag für das Online-Magazin „IslamiQ“ führte der Gelehrte und Übersetzer Abdurrahman Reidegeld am 23. Juli in wichtige Konzepte und Positionen rund um Schwangerschaft, Beginn des Lebens und Abtreibung ein. Er macht deutlich, dass man (anders als es Evangelikale in den USA tun) erst dann von einem „vollständigen Menschen“ sprechen könne, wenn dem entstehenden Körper die Seele eingehaucht worden ist. Je nach Interpretation vorliegender prophetischer Aussagen beginne dies frühestens mit dem 40. Schwangerschaftstag und endet maximal mit dem 120.

Nach Ansicht von Abdurrahman Reidegeld sei der Unterschied zwischen einem unbeseelten Embryo und einem beseelten Fötus entscheidend. Ungeachtet der jeweiligen Frist gäbe es nach ihrem Ablauf nur zwei „ethisch unbedenkliche“ Gründe für einen Abbruch: wenn das Leben der werdenden Mutter bedroht sei oder ethische Argumente wie Vergewaltigung oder Inzest vorlägen. Eine tatsächliche oder befürchtete Behinderung des ungeborenen Kindes sei davon nicht betroffen.

Reidegeld machte deutlich, dass es bei der Frage nach der Abtreibung (wie der Scheidung) einen Unterschied zwischen einer negativen Einstellung seitens der Lehre und einem „moralisch verwerflichen“ Charakter gäbe. „Es gibt hier keine Maximalposition, sondern eine vielschichtige Abwägung, die sich auch in den unterschiedlichen Rechtsschulen recht unterschiedlich ausdrückt.“