Völkerrechtlerin Heike Spieker zum 150. Geburtstag der Genfer Konventionen. Interview: Christoph Arens

Berlin (KNA) Die Genfer Konventionen werden am 22. August 150 Jahre alt. Doch wer die Nachrichten über die aktuellen Konflikte und Krisengebiete verfolgt, muss den Eindruck gewinnen, dass die Regelungen zur Zivilisierung von Kriegen und Konflikten wirkungslos bleiben. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) äußerte sich die Völkerrechtsexpertin des Deutschen Roten Kreuzes (DRK), Heike Spieker, am Donnerstag in Berlin zu diesen Fragen. Die Juristin ist stellvertretende Leiterin des Bereichs „Nationale Hilfsgesellschaft“ beim DRK.

Frage: Frau Spieker, wie aktuell sind die Genfer Konventionen überhaupt noch?

Heike Spieker: Wenn man sieht, dass sich die erste Genfer Konvention von 1864 mit dem Schutz von medizinischem Personal und medizinischen Einrichtungen im Krieg befasste, muss man leider sagen: sehr aktuell. In den gegenwärtigen Konflikten werden immer häufiger humanitäre oder medizinische Helfer und Einrichtungen Ziele von Angriffen. Die Zahl der Opfer in dieser Personengruppe nimmt stark zu. Offenbar hat das Bewusstsein für dieses Thema bei vielen Konfliktparteien stark abgenommen.

Frage: Wenn man nach Syrien, Gaza oder in den Irak schaut, muss man den Eindruck gewinnen, dass die Konfliktparteien insgesamt nicht viel vom humanitären Völkerrecht halten. Sind die Genfer Konventionen zu einem stumpfen Schwert geworden?

Heike Spieker: Ich gebe zu, dass man den Eindruck gewinnen kann. Aber das heißt natürlich nicht, dass die Schutzvorschriften der Genfer Konventionen deshalb sinnlos werden. Regeln werden immer wieder gebrochen, ohne dass sie deshalb abgeschafft werden müssten. Das ist im nationalen Recht auch so. Außerdem glaube ich, dass wir als Öffentlichkeit für solche Verstöße sehr sensibilisiert und durch die Medien auch viel besser informiert sind als früher. Wir merken ja, wie schnell auch Bürgerkriege in anderen Weltregionen Auswirkungen auf uns haben. Ich kann deshalb gar nicht sagen, ob die Zahl der Verstöße größer geworden ist. Man muss auch immer genau hinschauen, ob es sich wirklich um Verstöße gegen das Völkerrecht handelt.

Frage: Was meinen Sie damit?

Heike Spieker: Schauen Sie beispielsweise auf den Konflikt im Gazastreifen. Das Völkerrecht unterscheidet zwischen militärischen Zielen und zivilen Objekten. Wenn Israel eine Schule angreift, scheint vordergründig klar zu sein, dass es sich um einen nicht rechtmäßigen Angriff auf ein ziviles Objekt handelt. Wenn dort aber Waffen gelagert oder Kämpfer versteckt waren, ist die Schule ein militärisches Ziel und ein Angriff wäre vom Völkerrecht gedeckt, wenn er ansonsten verhältnismäßig ist. Man muss also auf den Einzelfall schauen und genau prüfen – auch angesichts der Darstellungen beider Seiten.

Frage: Giftgas in Syrien, Folterungen durch den „Islamischen Staat“ im Irak sind da vermutlich eindeutigere Tatbestände…

Heike Spieker: Es ist leider eine Tatsache, dass es Gruppen, Regierungen und Einzelpersonen gibt, die Menschenrechte und Völkerrecht ganz bewusst brechen und missachten. Wenn jemand dazu fest entschlossen ist, kann das Völkerrecht auch keine vorbeugende Wirkung entfalten. Auch das widerlegt aber nicht die Bedeutung des humanitären Völkerrechts. Wenn es die Genfer Konventionen nicht gäbe, wäre ja die logische Konsequenz, dass jedes Verhalten in Kriegen und Konflikten erlaubt wäre – und das ist für mich undenkbar.

Frage: Sowohl in Syrien als auch im Irak handelt es sich ja vor allem um innere Konflikte und nicht um zwischenstaatliche Kriege. Hat das eine Bedeutung?

Heike Spieker: Die Genfer Konventionen bezogen sich zunächst nur auf Kriege zwischen Staaten. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aber nimmt die Zahl der Bürgerkriege und innerstaatlichen Konflikte stark zu. Für solche gewaltsamen Auseinandersetzungen enthält das Vertragsrecht weniger Regelungen, und diese sind auch weniger detailliert – das hat unter anderem damit zu tun, dass die Staaten ihre nationale Souveränität bewahren wollen. Wissenschaft, internationale Rotkreuz-/Rothalbmond-Bewegung und internationale Staatengemeinschaft arbeiten zwar daran, die größten Lücken zu schließen. Aber es gibt nur kleine Fortschritte, etwa wenn Verbote für die Anwendung bestimmter konventioneller Waffen im Krieg auch auf innerstaatliche Konflikte übertragen werden.

Frage: Entscheidend für die Durchsetzung des humanitären Völkerrechts ist sicherlich auch, ob Vergehen strafrechtlich verfolgt werden. Sehen Sie da Fortschritte?

Heike Spieker: Zweifellos. Allerdings möchte ich gleichzeitig vor zu großen Hoffnungen warnen. Selbst wenn wir die Instrumente dafür hätten, Verstöße gegen das Völkerrecht umfassend zu verfolgen, gäbe es solche Vergehen weiterhin. Auch im nationalen Strafrecht haben wir ja Gesetze, die Mord und Totschlag verbieten, aber trotzdem werden weiterhin Menschen umgebracht. Darüber hinaus gibt es noch riesige Regelungslücken: Wir können zwar einzelne Täter vor dem Internationalen Strafgerichtshof zur Verantwortung ziehen. Was aber ist mit der Verfolgung verbrecherischer Organisationen? Die Frage, ob es auch eine kollektive Verantwortlichkeit gibt, ist international nicht geklärt. Aber auch im nationalen Strafrecht ist das ja – siehe Mafia oder Terrorismus – eine ungelöste Frage.

Frage: Nach dem Völkermord in Ruanda und nach Srebrenica gibt es in der UNO Bestrebungen, eine internationale Eingreifmöglichkeit bei schweren Menschenrechtsverletzungen zu etablieren. Sehen Sie da Fortschritte?

Heike Spieker: Das Konzept der „responsibility to protect“ ist grundsätzlich weithin anerkannt. Aber es muss sich erst noch herauskristallisieren, was da völkerrechtlich verbindlich werden kann. Klar geworden ist beispielsweise auch im Zusammenhang mit Syrien, dass die Staatengemeinschaft keinen Automatismus will, der sie zum (gewaltsamen) Eingreifen rechtlich zwingen würde. Problematisch ist auch, dass der Weltsicherheitsrat als entscheidendes Gremium oft sehr unterschiedliche Interessen unter seinem Dach vereint. Wichtig finde ich deshalb Bemühungen der Staaten, jenseits bestehender Gremien handlungsfähige Foren zu schaffen, um aktuelle Probleme zu erörtern und möglicherweise auch Ermittlungskommissionen einzusetzen. Da können bestehende Blockaden in der Weltgemeinschaft möglicherweise aufgelöst und eine bessere „Einhaltungskultur“ mit Blick auf bestehende Regelungen geschaffen werden.