Warum die Debatte um ein Kopftuchverbot für Kinder eine Scheindebatte ist

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(iz). Als im Dezember 2017 die österreichische Regierung mit der Beteiligung der rechten FPÖ gebildet wurde, war vielen in Europa bereits klar: Populismus wird salonfähiger. Nicht von ungefähr kam auch die Zuspitzung des Tons seitens Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz während des Wahlkampfes und nach seiner Wahl.
Es überraschte also nicht, dass Kurz, der ja bereits durch die gefälschte Kindergartenstudie den Weg für fragwürdige Kritiken bereitete, Anfang April erklärte, seine Regierung arbeite an einem Gesetzesentwurf, der das Tragen eines Kopftuchs für Kindergartenkinder und Grundschüler verbiete.
Lange dauerte es nicht, ehe das Thema in Deutschland ankam. Politiker der Landesregierung Nordrhein-Westfalens, allen voran der Integrationsminister Joachim Stamp (FDP), Staatssekretärin Serap Güler (CDU) sowie der Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) griffen das Stichwort rasch auf und stellten eine parlamentarische Diskussion, gar ein Gesetz in Aussicht.
Gemessen an der Dramaturgie der Vorstöße, könnte man annehmen, es handle sich um einen signifikante Masse von Kleinkindern, denen ein Kopftuch aufgezwungen würde. Der Professor für Islamische Theologie an der Universität Osnabrück, Bülent Ucar mahnt in einem Interview mit der Welt deshalb an, es gebe überhaupt keine entsprechenden Studien, die einen Anstieg oder einen hohen Prozentsatz nachweisen würden. Im Gegenteil sogar: Geläufige Studien weisen nach, dass der Anteil kopftuchtragender Musliminnen in Deutschland insgesamt geringer geworden ist.
Es gilt eines unmissverständlich festzustellen. Wir haben es hierbei mit einer Scheindebatte zu tun.
Das haben auch verschiedene Stimmen in der Politik erkannt, wie zum Beispiel die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung Annette Widmann-Mauz, die den Punkt „Verfassungsrecht” ins Gespräch brachte.
Betrachtet man die Fragestellung verfassungsrechtlich, wird deutlich, dass es bei geltendem Recht nicht zu einem derartigen Verbot kommen kann und darf.
Denn grundsätzlich gebe es dabei ein ”Kollisionsfeld zwischen elterlichem Erziehungsrecht aus Art. 6 GG und dem Persönlichkeitsrecht des Kindes bzw. dem Wächteramt des Staates”, wie der Jurist und Theologe Cefli Ademi feststellt. „Um das staatliche Wächteramt vor dem Hintergrund polizeistaatlicher Unrechtserfahrungen nicht zu überspannen, räumt der Gesetzgeber den Eltern in der Kindeswohl-Abwägung einen elternperspektivischen Auslegungsvorrang ein”, so Ademi. Die Rechtsstaatskontur Deutschlands zeichne sich dadurch aus, keine Verbotspolitik zu betreiben, argumentiert er weiter.
Das Verhältnis zwischen Staat und Erziehungsberechtigten ist geregelt. Und Eltern ist ein sehr weiter Ermessungsrahmen geboten. Gibt es einen klaren, nachweislichen Bruch des Kindesrechts bzw. der Elternpflicht, greift der Staat, zum Beispiel in Form des Jugendamtes, ein. Sowohl die Gesetzesgrundlage dafür wie auch die Anwendungsbedingungen gelten für jeden Bürger gleichermaßen.
Ein Kopftuchverbot bedürfte einer Definition von Kopftuch, bei der eine Benennung des muslimischen Kontextes unumgänglich ist. Ein solches Gesetz stünde in deutlichem Widerspruch zum 3. Artikel des Grundgesetzes, wonach kein Mensch aufgrund des Glaubens oder der Religionszugehörigkeit ungerecht behandelt werden dürfte sowie Artikel 10, wonach jeder Mensch vor dem Gesetz gleich sei. Ein Gesetz explizit für Muslime ist dementsprechend nicht denkbar.
Insofern könnte ein solches Verbot, sollte es überhaupt verabschiedet werden, vor dem Bundesverfassungsgericht nicht bestehen. Ganz zu schweigen vom Europäischen Gerichtshof.
Wenn man von einer echten Debatte, über die Scheindebatte hinaus, ausgehen möchte, wäre es wohl die Frage, inwiefern hier die Regierung Nordrhein-Westphalens den Staat als primäre Erziehungsinstanz für Kinder ins Spiel bringen wollen könnte. Das wiederum beträfe Eltern aller Couleur. Ein erziehender, kontrollierender Staat, dem eine ausgeweitete Grundlage zum Entzug der Entscheidungsmacht klassischer Erziehungsberechtigter gegeben wird, ist ein verheerender Einschnitt in die Freiheit der Bürger.
Eine andere, daraus resultierende Debatte, sind die Worte des Chefs des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meininger, der in der Bild zitiert wird, wenn unter 14-jährige Mädchen kein Kopftuch tragen würde, trage das dazu bei, Diskriminierung aus religiösen Gründen und antireligiösem Mobbing zumindest tendenziell den Boden zu entziehen. Obwohl Meininger anschließend, mündigen Schülern das Recht zuspricht, wird er auf eine vermeintliche Begrüßung des Verbots reduziert. Interessant ist hierbei, dass die Diskriminierung angesprochen, aber nicht weiter diskutiert wurde. Dass Angehörige einer Minderheit potenziell öfter diskriminiert werden, ist Fakt. Und dass antireligiöse Haltungen dazu beitragen können, wie es diese Scheindebatte ebenfalls tut, kommt hinzu.
Aber darauf wird nicht eingegangen. Es wird medial das verzerrte Bild breitgetreten, es handle sich um ein penetrantes Phänomen des Zwanges und der Unterdrückung, das im Islam oder in Kulturen immigrierter Muslime seinen Ursprung habe. „Tatsächlich ist uns keine religiöse Quelle bekannt, aus der hervorginge, dass Kinder vor der Pubertät ein Kopftuch tragen müssten”, hält Professor Bülent Ucar fest. Das sei Konsens in allen islamischen Denkschulen.
Eine freie Gesellschaft muss aushalten können, dass Mädchen sich womöglich selbst entscheiden im jungen Alter, vor der Pubertät ein Kopftuch zu tragen oder Eltern ihr ein solches angewöhnen. Diese Fälle gibt es. Und auch wenn Imame oder gar Eltern dazu mahnen, dass dies für das Mädchen keine Pflicht sei, muss ihr nicht nur in der Theorie zumindest von außen der freie Wille zugestanden werden. Allenfalls die Eltern müssten als Erziehungsberechtigte Wege der empathischen Kommunikation finden, durch die sie dem Kind ihren Erziehungsanspruch geltend machen. In einer gesunden muslimischen Erziehung, die eingebettet ist im muslimischen Gemeindeleben, gibt es solche Grundkonflikte in Verständnis und Ausübung selten.
Solche populistischen Debatten, die maßgeblich durch erhöhte Medienaufmerksamkeit aufgebauscht werden, stoßen zurecht auf deutlich Kritik. Derartige Polemik auf dem Rücken einer religiösen Minderheit in Zeiten der gestiegenen Islamfeindlichkeit, die sich erkennbar in Angriffen auf Moscheen und muslimische Bürger zeigt, ist für unsere Gesellschaft nicht tragbar.
Es ist nicht die erste Scheindebatte, von der sich Deutschlands Muslime betroffen sehen. Und es wird wahrscheinlich auch nicht die letzte sein. Deshalb ist es wichtig, mit solchen Phänomenen verantwortungsbewusst und klug umzugehen.
Bei Muslimen führte dieser Fall zur Sorge. Und auch zu Handlungswillen. Viele schlossen sich deshalb zum Beispiel als Unterzeichner einer Petition an, die laut Erklärung der Initiatoren, ein drohendes Kopftuchverbot abwenden soll. Wie wir aber feststellen können, ist diese Bedrohung nicht wirklich real bzw. verfassungsrechtlich nicht realisierbar.
Eine Petition, die sowohl an das falsche Parlament gerichtet ist, da sie den Bundestag adressiert, obwohl die Debatte, wenn überhaupt im Landtag NRWs ausgetragen wird, ist nicht zielführend. Ganz im Gegenteil. Sie drängt den Bundestag, ein Kopftuchverbot zu debattieren, obwohl es auf dieser Ebene keinen derartigen Vorstoß gab, weil jede Petition mit genügend Unterzeichnern dem Bundestag vorgelegt werden kann.
Gleichzeitig ist das Problem, dass die Petition vom Umfeld einer Organisation initiiert wurde, die in Deutschland und in allen muslimischen Ländern verboten ist. Unter dem Label „Hizb at-Tahrir”, zu der die Online-Seiten „Generation Islam” und „Realität Islam” gehören sollen, tritt sie logischerweise hierzulande nicht auf und täuscht somit über ihre Interessen und Hintergründe hinweg. So etwas weiß der normale User nunmal nicht. Man könnte also sagen, dass nicht nur die Politik die Muslime hiermit ausnutzt, sondern auch jene Gruppierung. Denn die gute Absicht und der konstruktive Handlungswille vieler Muslime und Nichtmuslime wird missbraucht. Es ist fatal, wenn die Liste mit den Daten der Unterzeichner bei fragwürdigen Gruppierungen und bei Sicherheitsbehörden landet. Das hilft niemandem und tut den Unterzeichnern Unrecht. Auch deshalb haben hunderte Gemeinden verboten, Flyer für die Petition vor der Moschee zu verteilen.
Die Kritik bleibt berechtigt. Das Bündnis Islamischer Gemeinden in Norddeutschland (BIG) erklärte in aller Deutlichkeit nach dem Freitagsgebet, dass es die Sorge der Gemeindemitglieder ernst nehme. Man ginge dem Vertretungsanspruch für tausende muslimische Bürger Norddeutschlands nach und stünde in engem Kontakt zu Politik, Justiz, Polizei und Kirche. Und dementsprechend würde auf direktem Wege und im Austausch das Interesse aller verfolgt. Ähnlich ist es auch um andere muslimische Landesverbände gestellt.
Ohne Frage, auch diese Scheindebatte sollte als Hinweis verstanden werden, dass es dringenden Handlungsbedarf seitens der Muslime gibt, damit man solchen Polemiken professioneller entgegentreten kann. Die Gemeindevertreter müssen dieser Verantwortung nachgehen und die Gemeindemitglieder die damit verbundenen Projekte bestmöglich stützen. Gleichzeitig lohnt sich auch immer ein Blick hinter die Kulissen von Scheindebatten. Parallel läuft gerade in Bayern und Niedersachen der Versuch, ein Polizeigesetz zu verabschieden, das Bürgern esssentielle Rechte entzieht und eine Überwachung ohne Verdachtsfall ermöglicht. Auch andere Bundesländer haben Interesse an solchen Gesetzen. Scheindebatten lenken für gewöhnlich von größeren Themen ab.