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Was darf unsere Nahrung kosten?

Ausgabe 320

Lebensmittelausgabe unter Schutzfolie in einer Filiale der Tafeln Deutschland. Bereits heute sind viele Menschen auf die dortigen Nahrungsmittel angewiesen. Sie werden am stärksten von Preiserhöhungen betroffen. (Foto: Tafel Deutschland e.V., Thomas Lohnes)

„Der Markt versagt also, die Verursacher wälzen den Schaden auf die Allgemeinheit ab und der Staat fördert dieses Verhalten auch noch. So darf es nicht weitergehen!“ (Greenpeace)

(iz). Dass Cem Özdemir (Die Grünen) nach dem Abschluss der Koalitionsverhandlungen Ende letzten Jahres das Amt des Bundeslandwirtschaftsministers zugesprochen wurde, galt als Trostpreis, dass er das angestrebte Ministerium nicht bekam. Das hielt den Schwaben nicht davon ab, kurz danach für Schlagzeilen und eine anhaltende Debatte zu sorgen.

Am 26. Dezember forderte er im Gespräch mit der „Bild am Sonntag eine substanzielle Umgestaltung bei Erzeugung, Produktion und Handel mit Lebensmitteln. Es dürfe keine „Ramschpreise“ mehr geben. Das bisherige Modell aus niedrigen Erzeugerpreisen, Massenproduktion und entsprechend geringen Endverbraucherpreisen gefährde das Überleben von Bauernhöfen, schädige das Tierwohl, steigere das Artensterben und belaste das Klima.

Obwohl der für Landwirtschaft und Ernährung zuständige Behördenchef betonte, dass Lebensmittel kein „Luxusgut“ werden dürften, habe er „manchmal das Gefühl, ein gutes Motoröl ist uns wichtiger als ein gutes Salatöl“. Eine zukünftige Gestaltung müsse die „ökologische Wahrheit“ repräsentieren. Mit seinem Vorhaben wolle er drei Ziele erreichen: nachhaltige Einkünfte für Landwirte, gesunde Nahrung für Verbraucher sowie „mehr Tierwohl, Klima- und Umweltschutz“. Der Minister steht unter Druck eine übergeordnete EU-Strategie umsetzen zu müssen. Im Rahmen der Fork to Fork Strategie (F2F) sollen Europas Lebensmittelsysteme „gerecht, gesund und umweltfreundlich“ gestaltet werden.

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Unterstützung erhielt der Landwirtschaftsminister von Verbänden wie Greenpeace oder dem Tierschutzbund. „Wir können Cem Özdemirs Forderung nur unterstützen. Es gibt kein Menschenrecht auf Billigfleisch“, sagte dessen Präsident Thomas Schröder. Das heutige System der Preisgestaltung behindere Bauern, die auf „tiergerechte Haltung“ setzen möchten. Er verlangte eine  „Tierwohlabgabe auf Fleisch, Milch und Eier“. Außerdem brauche es einen entsprechenden gesetzlichen Rahmen für Tierschutzvorgaben.

Greenpeace begrüßte den Vorstoß am 28.12.2021. „Der Konsum von Fleisch- und Milchprodukten in Deutschland verursacht Umwelt- und Klimaschäden in Höhe von rund 6 Milliarden Euro im Jahr. Die wahren Kosten schlagen sich aber im Preis nicht nieder. Und der Verbrauch tierischer Erzeugnisse wird auch noch mit mehr als 5 Milliarden Euro jährlich gefördert, weil auf diese Produkte nur der ermäßigte Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent erhoben wird“, erklärte Matthias Lambrecht, Landwirtschaftsexperte der NGO. Der Minister habe das Problem benannt. Jetzt müsse „die paradoxe Politik zu Lasten von Klima und Umwelt“ beendet werden.

Am 3. Januar erklärten die Vereinigung, dass „der allzu große Appetit auf Fleisch und Milchprodukte“ nicht nur die Gesundheit gefährde. Er trage „maßgeblich“ zur Umweltzerstörung bei „und verschärft die Klimakrise“. Damit die Landwirtschaft die im Klimaschutzgesetz vorgegebenen Emissionsziele erreichen könne, müsse die Zahl der Tiere in den Ställen in den kommenden Jahren drastisch sinken – und in gleichem Maße der Konsum tierischer Erzeugnisse. Laut Greenpeace böte sich „ein einfache Lösung“ an: Die neue Regierung müsse schädliche Subventionen für die Produktion streichen sowie die Mehrwertsteuer auf den regulären Satz von 19 Prozent anheben.

Dafür brauche es eine Voraussetzung: Alle Menschen in Deutschland müssten sich gesunde und nachhaltige Ernährung in Deutschland leisten können. „Das muss bei der Kalkulation des von der Ampel-Koalition beschlossenen Bürgergelds berücksichtigt werden, mit dem die Hartz-IV-Grundsicherung ersetzt werden soll. Und dafür müssen faire Löhne gezahlt werden.“ Laut den Umweltschützern gebe es eine breite Unterstützung für diese Umgestaltung bei Landwirtschaft, Produktion und Handel. Dafür führten sie eine Umfrage von Kantar (im Auftrag der Verbraucherzentrale Bundesverband) an, wonach sich 71 Prozent dafür aussprächen, „dass die Lebensmittelpreise die wahren Kosten abbilden sollten“. Außerdem seien 78 Prozent für eine verbindliche Kennzeichnungspflicht der Haltungsbedingungen. „Dieses klare Ergebnis ist eine dringende Aufforderung an Cem Özdemir, jetzt anzupacken, was viel zu lange liegen geblieben ist“, sagte Martin Hofstetter von Greenpeace.

Bereits während der Koalitionsverhandlungen hatte Greenpeace gemeinsam mit dem Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) und dem Sozialverband VdK (VdK) die Ampel aufgefordert, umzusteuern und in einem ersten Schritt, gesunde und klimafreundliche Lebensmittel für alle bezahlbar zu machen: Dazu sollte die Regierung die Mehrwertsteuer auf frisches Obst und Gemüse, Hülsenfrüchte und Milchersatzprodukte soweit wie möglich senken. Der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) schloss sich Özdemirs Forderungen an. Sein Vorsitzender Olaf Brandt hielt die angestoßene Diskussion für „längst überfällig“. Brandt sagte aber auch, dass nicht nur Verbraucher:innen beansprucht werden dürften. „Oft verstecken sich Einzelhandel und Industrie hinter angeblich preisverliebten Käuferinnen und Käufern. Alle, die Teil unseres Ernährungssystems sind, müssen sich an einem neuen Preissystem beteiligen. Nur so können Bäuerinnen und Bauern unsere Lebensmittel umwelt- und naturverträglich herstellen.“

Wie zu erwarten stieß das ministerielle Vorhaben bei anderen Akteuren auf Kritik. Neben der Linken sowie Wohlfahrtsverbänden (siehe unten) nahmen Unionspolitiker und die „BILD“ die Vorlage dankbar auf. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) wies das Ansinnen Özdemirs zurück. Es sei nicht die Aufgabe der Bundesregierung, „den Menschen vorzuschreiben, was oder wie sie sie essen“ sollten, meinte er gegenüber dem Springer-Blatt. Stattdessen forderte Söder, der Landwirtschaftsminister solle die enorme Marktmacht des einflussreichen Lebensmittelhandels einschränken sowie Bürokratie reduzieren.

Eine substanziellere Kritik bei gleichzeitiger Anerkennung für einen dringend benötigten Umbau von Lebensmittelerzeugung und -produktion kommt von der Linken sowie von Verbänden der Wohlfahrt. Nach Ansicht von Jan Korte, dem parlamentarischen Geschäftsführer der Partei im Bundestag, sei ein ökologischer Umbau nur mit einem sozialen Ausgleich möglich. Ansonsten bleibe es „ein Projekt ausschließlich für Gutverdiener“. Auf der Plattform Twitter legte er nach. Dort bezeichnete Korte das Vorhaben als „die wohl zynischste Art, den rund 13,4 Millionen von Armut betroffenen Menschen in diesem Land (…) frohe Weihnachten zu wünschen“.

Im Interview mit der „Welt“ vom 27. Dezember forderte Ulrich Schneider, Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, dass zu erwartende Preiserhöhungen durch Özdemirs Vorhaben mit einer erkennbaren Steigerung der Regelsätze einhergehen müssten. „Es geht nur ökosozial, sonst verliert man die Unterstützung der Bevölkerung.“

VdK-Präsidentin Verena Bengele stimmte Forderungen nach einer notwendigen Verbindung ökologischer und sozialer Aspekte zu. Eine Absenkung von Steuersätzen auf gesunde Nahrung, wie sie von Greenpeace und anderen favorisiert wird, könne nur ein erster Schritt sein. Sie forderte darüber hinaus neue Hartz-IV-Regelsätze sowie eine bessere Grundsicherung im Alter. „Gerade Kinder und Ältere sind auf gesunde, frische Lebensmittel angewiesen. Chronische Erkrankungen und Medikamente erfordern eine besondere Ernährung. Gesundes Essen trägt wesentlich zu einer höheren Lebenserwartung bei. Schon bisher reichten die 5,09 Euro pro Tag aus dem Regelsatz dafür nicht. Die Inflation macht es nun vollends unmöglich.“

In der oberflächlichen Behandlung der Zukunftsaufgabe einer ökosozialen Umgestaltung von Landwirtschaft sowie Lebensmittelerzeugung und -handel geraten zwei systemische Probleme in den Hintergrund: Inflation sowie die Marktdominanz des Lebensmitteleinzelhandels.

Allein im November lag die deutsche Teuerungsrate bei 5,2 Prozent. Dieser Fakt an sich mache nach Ansicht von Ulrich Schneider eine Erhöhung der Hartz-IV-Sätze um mehr als fünf Punkte nötig. „Nun ist es aber so, dass die Regelsätze an sich schon wesentlich zu niedrig angesetzt sind. Wir brauchen eine Erhöhung auf deutlich über 600 Euro, um wenigstens den Mindestbedarf sicherzustellen.“ Es gebe keinen Bereich, der nicht von Preissteigerungen betroffen sei. „Wenn wir diese Diskussion um Inflation nicht hätten, dann würde heute auch kein Mensch über die Regelsätze sprechen und davon, dass diese auch ohne Inflationsrate eklatant unter der Armutsgrenze liegen.“

Schon im September 2021 warnten Sozialverbände und Ernähungswissenschaftler vor den sozialen und gesundheitlichen Konsequenzen spürbarer Preisanstiege bei vollwertigen Zutaten. Allein im August 2021 stiegen Preise laut dem Statistischen Bundesamt im Vorjahresvergleich um 4,6 Prozent an. Gemüse zog zur Jahresmitte um 9 Punkte an, Obst um 2,5. Gesundheitspolitische Vereinigungen wie die Deutsche Diabetes Gesellschaft plädierten daher für eine komplette Mehrwertsteuerbefreiung für gesunde Zutaten wie „Obst, Gemüse und Nüsse“.

Das andere strukturelle Problem ist die Marktbeherrschung des Lebensmitteleinzelhandels (LEH) von nur vier Konzernen. Nach Angaben der Fachzeitschrift Lebensmittel Praxis (März 2021) steigerten die größten Akteure ihren Umsatz um 10 Prozent auf fast 264,1 Milliarden Euro. Führend sind dabei die vier großen Ketten: Edeka, Rewe, die Schwarz-Gruppe sowie der Aldi-Konzern. Gemeinsam kontrollieren sie über 70 Prozent des Marktes. Sie sind so dominant, dass ausländische Riesen wie die US-Kette Walmart in Deutschland bisher nicht Fuß fassen konnten.

Seit mehreren Jahren beschäftigt sich die Hilfsorganisation Oxfam mit Geschäftspraktiken von Supermarkt- und Discounterketten. Im Februar 2022 dokumentierte sie 100 „absurde Konditionen und unfaire Handelspraktiken“, damit Erzeuger überhaupt in ihren Filialen verkaufen dürften. „Lieferanten müssen also zahlen, wenn der Supermarkt eine Filiale renoviert, sie bezahlen Abschläge, wenn Erträge hinter den Erwartungen des Handels zurückbleiben und wenn Waren nicht vor dem Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums verkauft sind, müssen sie die Kosten ebenfalls mit übernehmen“, erklärt Marita Wiggerthale, Agrarexpertin bei Oxfam Deutschland.

Am 6. Mai beschloss der Bundestag das Gesetz zu unfairen Handelspraktiken sowie eine neue Ombuds- und Preisbeobachtungsstelle.

Damit reagierte das Parlament auf EU-Vorgaben. „Einige unfaire Handelspraktiken wie kurzfristige Stornierungen und lange Zahlungsfristen sind nunmehr gesetzlich verboten. Für Edeka, Rewe, Lidl & Aldi ist es jedoch ein Leichtes, die vorgesehenen Verbote zu umgehen. Sie können Landwirte und Lieferanten weiterhin systematisch im Preis drücken und ihnen neue unfaire Handelspraktiken aufzwingen“, erklärte Wiggerthale am gleichen Tag. „Unfaire Preise sind für Bauern und Bäuerinnen hierzulande und im globalen Süden existenzbedrohend. Die Preise müssen die Produktionskosten decken sowie die sozialen und ökologischen Kosten widerspiegeln.“