,

Was kann „Deutschland“ bedeuten?

Ausgabe 306

Foto: Shutterstock

(iz). Deutschlands liebster arabischer Autor, ­Hamed Abdel-Samad, hat mit „Aus Liebe zu Deutschland – ein Warnruf“ eine neue Polemik veröffentlicht. Nach Büchern wie „Der Islamische Faschismus: Eine Analyse“ und „Mohammed – eine Abrechnung“ zielt dieser Text darauf ab, der deutschen Öffentlichkeit ein gesundes Maß an Nationalstolz einimpfen zu wollen. Dieser sei in seinen Augen nötig, um Deutschland einen Weg inmitten widerstrebender migrantischer Ideologien, „Nationalismen“, „Tribalismen“ und „Mythen“ zu bahnen, die das Land zu zerreißen drohen.

Im Wesentlichen tut Abdel-Samad genau das, was viele vor ihm taten. Sie fordern eine klare und entschiedene „Leitkultur“. Diese soll den Ton neben dem angeben, was er als Deutschlands oft fehlgeleitete „Willkommenskultur“ sieht.

Er hat hier einen Vorteil: Viele Deutsche, die ähnlich argumentieren, werden mit Rassismusvorwürfen konfrontieren, die sie selbst als „Nazikeule“ wähnen. Seiner Herkunft ­erfreut sich Abdel-Samad als Fremder an ­seiner „Narrenfreiheit“, um Deutschland an einem seiner empfindlichsten Punkte zu kritisieren. Und hier liegt die Anziehungskraft für viele aus seinem Zielpublikum.

Der Autor beginnt mit einem hymnischen Lob für sein Gastland. Dieses habe es ihm erlaubt, sich vom Korsett seiner strikt islami­schen Kindheit (der Vater war Imam in Ägypten) zu lösen. Er nahm das kritische Denken und die „aufgeklärte Philosophie“ von Spinoza, Nietzsche und Sartre an. Dann fährt er fort mit der Aufzählung all der Dinge, die er an Deutschland liebt. Das reicht von Beethoven und Wagner, Goethe und Schiller über Schwarzbrot bis hin zur „Waldeinsamkeit“ der deutschen Wälder. In ihnen sieht er eine grundlegende Erfahrung, welche die deutsche Identität begründe.

Mitten in seinem Buch hatte ich das Gefühl, dass ich diesen Text vor zwanzig Jahren hätte schreiben können. Bevor ich nach Berlin ­zurückkehrte – wo ich geboren wurde und einen Teil meiner Kindheit verbrachte – lebte ich im Bann der deutschen „Hochkultur“. Ich verbrachte fünf Jahre in Prag; versunken in Kafka und dem deutschsprachigen „Prager Kreis“ von Bord, Werfel, Kisch, Rilke etc. Ganz zu schweigen von Goethe, Schiller, Adalbert Stifter, romantischer Malerei und klassischer Musik.

2000 kehrte ich nach Berlin heim. Mein Kopf voller deutscher Klassiker. Genau wie Hamed Abdel-Samed stellte ich zu meiner Enttäuschung und meinem Verdruss fest, dass Deutschland – einst Land der Dichter und Denker – sich für einen fehlgeleiteten Multikulturalismus und dem Fetisch des „Anderen“ aufgab. Während Abdel-Samad ob des Nationalstolzes in Deutschland die Hand ringt und die Deutschen auffordert, sich mit den sich ändernden demografischen und kulturellen Realitäten ihres Landes ­auseinanderzusetzen, beschloss ich, mich von den Peripherien Europas inspirieren zu lassen. Ich hoffte, dort das Völkische zu finden – ein Gefühl von ethnischem Nationalstolz und Bewusstsein.

Eigentlich ungewollt endete ich im Sandžak. Einer muslimischen Enklave in Südserbien, wo ich, die früher von mir misstrauisch ­beäugten Muslime vor Ort beobachten und kennenlernen konnte. Während ich Muslime in Berlin zuvor als bedrohlich und die ­deutschen Kernwerte untergraben sah, wurde ich hier willkommen geheißen. Hier gab man mir Essen und Trinken. Zum ersten Mal in meinem Leben hörte ich den ‘Adhan, den Gebetsruf. Er hallte in mir nach, als wäre ich plötzlich auf die Straßen einer mysteriösen und weit entfernten Wüstenkarawanserei ­gebracht worden.

Zurück in Berlin suchte ich nach der ­Zustimmung des muslimischen Balkans. Ich besuchte bosnische, albanische und türkische Imbisse, Kebabläden, Gemüsehändler sowie Cafés – und schließlich Tekken und Moscheen. Was ich vor meiner Balkanreise für bedrohlich hielt, fesselte mich jetzt. Schlussendlich war es die Wärme und Gastfreundschaft der balkanischen oder tür­kischen Händler, Kellner und Verkäufer in Berlin, die mich entlang meines Weges zum Islam begleiteten. Acht Jahre nach meiner ersten Reise auf dem Balkan sollte ich ­schließlich den Islam annehmen.

So wie Hamed Abdel-Samed Deutschland für die Ermutigung dankt, dem „Gefängnis“ seines islamischen Aufwachsens zu entkommen, so bin ich Deutschland – insbesondere Berlin – paradoxerweise dankbar für seine Vielfalt und Pluralität der Kulturen. Sie ­haben mir das Finden eines Weges zum Islam ermöglicht. Schlussendlich sind der Autor und ich wie zwei aneinander vorbeifahrende Schiffe in der Nacht.

Wir sind wie Schlüsselfiguren in Flauberts ungeschriebenem orientalistischen „Hassan Bey“; über einen Mann aus dem Westen, der in den Osten geht, fasziniert von sein Kultur, und einen Mann aus dem Osten, der vom Okzident angezogen ist. Das Gras ist auf der anderen Seite immer grüner, wie es scheint.

Hamed Abdel-Samad musste als Kind zwangsweise Qur’ansuren rezitieren. Ihm wurden Hadithe eingedrillt. Erleichterung fand er schließlich in Nietzsche und Sartre. Im College wurde ich zu Nietzsche, Freud und Marx gezwungen, aber durch meine „Störrigkeit“ fand ich den Weg zu Mevlana Rumi und zum Qur’an. Sie sprachen mich persönlicher an als die negativistische kritische Philosophie, die mir auf der Schule ­zugeführt wurde. Wir beide haben Deutschland gemein. Deutschland machte Hamed Abdel-Samad zum kritischen Denker, der er heute ist. Und Deutschland – allen voran Berlin – machte mich umgekehrt zu dem, was ich bin.

Abdel-Samed schreibt abschätzig über die „Mythen“, archaischen Rituale und „Stammesstrukturen“, welche rückwärtsgewandte Einwanderer aus der muslimischen Welt nach Deutschland gebracht hätten. Das seien Dinge, die dem aufgeklärten Individualismus des Westens widersprächen und eine Gefahr für Deutschlands Demokratie und Lebensweise seien. Was er jedoch übersieht: Viele Menschen in Deutschland und im Westen haben genug von einem unbeschränkten ­Individualismus, der zu einer atomisierten Gesellschaft, Einsamkeit und Depression führt. Sie sehnen sich nach gemeinschaft­lichen Ritualen und Feiern der Menschen und Gesellschaften des Orients und anderen Teilen der nichtwestlichen Welt.

Als jemand, der viel über die Musik des ­Balkans, der Türkei und des Nahen Ostens in Berlin und Städten des Westens schrieb, kann ich auf Gespräche mit vielen Musikern Bezug nehmen, die Balkan-, Klezmer und orientalische Musik machen. Sie schreiben ihren Erfolg im Westen der Sehnsucht ­dortiger Menschen ihrer Musik des gemein­schaft­lichen Rituals zu. Bevor Corona 2020 ­zuschlug, nahm ich an einem syrischen Dabke-Workshop in Berlin teil. Geleitet wurde er von einem syrischen Tänzer und Flüchtling, der bereits unzählige Berliner im Kreistanz unterrichtet hat. Einer der Organisatoren berichtet, Deutsche und Westler seien durch den Dabke-Tanz in der Lage, „mit einem gemeinsamen Geist in Verbindung zu treten, der vor hundert Jahren in Deutschland bekannt war, aber in der ­Moderne verlorenging“.

„Die Sonne wird im Westen aufgehen“, zitierte der zypriotische Schaikh Nazim gerne aus der Tradition. Damit meinte er, dass, während Menschen im Osten die materialistischen Werte des Westens übernahmen, Menschen im Westen vom ungebremsten Materialismus und ­Individualismus abge­stoßen wurden. Sie ­nehmen Islam an und ­ermöglichen so eine, im Westen angetriebene islamische Wiederbelebung.

Er gibt viel an Hamad Abdel-Samads Buch zu kritisieren. Sein Narrativ vom Anstieg der Fluchtzahlen in Europa durch Erdoğans ­militärisches Engagement in Syrien ignoriert die Tatsache, dass sich die Hauptwelle der Menschen aus Syrien in den Westen 2015 ereignete. Die türkische Grenzoffensive gegen die YPG begann aber nicht vor 2019.

Es gibt eine Reihe anderer Fehlangaben und offenkundige Irrtümer und Fehlinterpretationen in seinem Buch. Am Ende erwähnt er die Teilnahme an einer Konferenz mit dem britischen Atheisten Richard Dawkins. Abdel-Samed berichtete, er habe sich nicht ohne Leibwächter bewegen können, während Dawkins nicht auf Bodyguards angewiesen gewesen sei. Seine Schlussfolgerung: Das Christentum sei jahrhundertelang kritischem Denken unterzogen worden, sodass es heute tolerant gegen äußere und innere Kritik sei. Islam habe keine vergleichbare Geschichte, sodass viele Muslime heute gewaltsam auf Angriffe gegen ihre Religion reagierten.

Tatsache ist – und der Grund, warum ­Dawkins die Welt bereisen kann, um die christliche Lehre anzugreifen und sich keine Sorgen machen muss –, dass das Christentum eine tote, verbrauchte Kraft ist. Niemand kümmert sich mehr darum.

Islam auf der anderen Seite ist dagegen ein Faktor, mit dem zu rechnen bleibt.

Ein Kommentar zu “Was kann „Deutschland“ bedeuten?

  1. Salem Aleikum
    Ich bin ein Deutscher (früher evangelisch -heute Atheist) und bei der Suche nach Kommentaren über Hamed abdel Samad auf Ihren Kommentar in der Islamzeitung gestossen. Sie haben hierin auch Ihren eigenen, durchaus nachvollziehbaren Weg zum Islam beschrieben. In Ihrer Kritik an Samad`s Buch vermisse ich aber die Haltung zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung in Deutschland, wie sie Samad bei den Muslimen anmahnt. Wie stehen Sie zur Aufklärung, den Menschenrechten wie Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung (der Frauen), Freiheit zur Selbstbestimmung.
    Haben sie sich als Muslim dann auch von diesen “westlichen Werten” abgewandt?
    Es wäre nett, wenn Sie mir auf diese Frage antworten würden.
    mit freundlichem Gruß
    Roland Walter

Die Kommentarfunktion ist deaktiviert.