Wie die Seele das Göttliche erfährt

Ausgabe 301

Foto: imago | Liz Lenormand

(iz). Indonesien ist das bevölkerungsreichste muslimische Land der Welt. Indonesien erstreckt sich vom nördlichsten Zipfel der Insel Sumatra, Aceh, bis in den westlichen Teil der Insel Papua. Zusammen mit Brunei, Teilen Malaysias und Singapore, gehört es zu der geographischen, kulturellen und spirituellen Wirklichkeit, die allgemein als Nusantara bezeichnet wird. Nusantara bezeichnet einen Archipel von Inseln, inklusive der Meere, wobei die Meere zwischen den Inseln eine verbindende, keine teilende Rolle spielen. Ihre Menschen leben sowohl auf den Inseln, als auch auf den Meeren. Es wird angenommen, dass Islam im 11. Jahrhundert die Insel Java erreichte, da es aus dieser Zeit den ersten epigraphischen Beweis gibt. Der erste „bekannte“ Muslim in Java war eine Frau mit dem Namen Siti Fatimah binti Maimun. Nichtsdestotrotz haben wir Grund zu glauben, dass Islam bereits vor dem 11. Jahrhundert die Küste Javas erreichte. Ab dem 15. Jahrhundert wurde jedoch vermehrt der konkrete groß angelegte Versuch unternommen, den Islam in Java zu verbreiten. Neun sogenannte heilige Männer (arab. aulija), die Walisongo, spielten dabei eine bis heute anerkannte Vorreiterrolle. Im Folgenden möchte ich diese besonderen Männer kurz vorstellen und vor allem auf ihre Methoden hinweisen, wie sie friedlich und bedacht auf die Wahrung von Harmonie, die prophetische Nachricht verbreitet haben.

Islam in Indonesien
Auch wenn in manchen Teilen andere Religionen eine Mehrheit bilden, so sind doch Muslime überall zu finden. Eine Besonderheit, die die Indonesienwissenschaftler immer wieder positiv betonen, ist der Fakt, dass der Islam im heutigen Indonesien und in der Region Nusantara als Ganzes, friedlich verbreitet wurde. Lokale Kulturen, Traditionen, Wissen und Weisheiten wurden nicht radikal und rücksichtslos entfernt, sondern im Sinne der islamischen Lehre und Orthopraxie umgewandelt und adaptiert. Diese Herangehensweise hatte zur Folge, dass der Islam in Indonesien traditionell als moderat und tolerant beschrieben wird. Seine Spiritualität hat hierbei eine große Rolle gespielt und das tut sie noch immer.

Im Laufe der Geschichte und mit dem Erscheinen von ethnologischen Forschern, die die lokalen Begebenheiten versuchten zu beschreiben und durch ihre eigene kulturelle und religiöse Brille betrachteten, wurde jedoch die originelle islamische Tradition des Archipels als mit synkretistisch verwobenen Elementen und Ritualen eigene lokale Form des ­Islam beschrieben. In vielen Fällen wurde jedoch die den in Nusantara lebenden Menschen eigene Symbolsprache und Symbolik als nicht-islamisch verstanden und nicht versucht zu verstehen. Dadurch wurde das Bild eines nicht-authentischen indonesischen Islam geschaffen, dass bis heute Indonesien und indonesische Islamwissenschaften in die muslimische Peripherie katapultiert. Dass, zum Beispiel, die Walisongo die Islamische Lehre teilweise lokalisiert haben, schädigt nicht ihre Authentizität. Damals wie heute gehört die Mehrzahl zur Ahlu Sunnah wal’Dschama’a, wie sie traditionell verstanden wird, und folgt der schafi’itischen Rechtsschule und der Theologie (‘Aqidah) Asch’aris.

Wie die Seele das Göttliche erfährt
Historisch gesehen hatten die Walisongo vor allem auf der Insel Java eine ausgesprochen wichtige Rolle in der Verbreitung des Islam. Sie riefen die Menschen in verschiedenen Teilen der Insel mit verschiedenen Methoden und Da’wa-Ansätzen zur Einheit Gottes. Dabei spielte das Nutzen von Symbolen und Symbolsprache, die ein Teil der javanischen Kultur und Epistemologie ist, eine wichtige Rolle. Die Zahl neun selbst hat einen starken Symbolcharakter in Java. Sie symbolisiert die acht Windrichtungen, wobei die neunte Richtung das Zentrum ist. Die Etablierung eines 9er- Rates ist deshalb eines von vielen Beispielen, welches die wohl überlegte Strategie der Walisongo bei der Verbreitung des Islam in Java illustriert. Es schien ihnen bewusst zu sein, dass sie sich einer heterogenen Bevölkerung gegenübersahen, die jedoch verband, dass sie in Symbolen dachten, sprachen und Spiritualität lebten.

Ausgesprochen professionell verstanden die Walisongo, wie die Seele des traditionellen Javanischen Menschen das Göttliche erfährt und passten an dieses Verständnis ihre Da’wa-Methoden an. Der Rat der neun Heiligen verstand, wie die Javanische Seele die göttliche Wahrheit erfuhr, weil sie die geographischen, linguistischen, kulturellen und spirituellen Rahmenbedingungen verstanden, in die sie hineingedrungen waren. Das scheinbar Fremde, Islam, wurde durch die Walisongo lokalisiert und so der ­Javanischen Seele zugänglich gemacht.

Die Walisongo
Die Mehrzahl der Walisongo war ursprünglich nicht aus Java. Sie kamen, so die Überlieferung, aus verschiedenen Teilen der muslimischen Welt nach Java, um den Islam zu verbreiten. Bei ihrer Ankunft nahmen sie jedoch lokale javanische Namen an, sprachen die einheimische Sprache und heirateten in die lokale Gesellschaft ein. So wurden sie nicht mehr als Außenseiter wahrgenommen, sondern waren nun Insider und Teil der porösen Austronesischen Verwandtschaftsstruktur.

Die Walisongo hatten außerdem die dualistische Weltanschauung der Javanischen Kultur erkannt, die allgemein mit dem femininen und maskulinen oder dem Yin und Yang Prinzip, und auch mit der dualistischen Unterscheidung von Schönheit und Majestät beschrieben werden kann. Gleichzeitig hatten sie auch die Wichtigkeit der Phonozentrizität (die Überzeugung, dass gesprochene Sprache und Geräusche der schriftlichen Sprache überlegen sind) und akustischen Frömmigkeit der Javaner verstanden. Beides rührt von dem jahrhundertelangen Einfluss der Sanskrit Sprache auf die damals Hindu-Buddhistischen Javaner.

Herzen erreichen
Nachdem sich die Walisongo als Insi­der in der javanischen Gesellschaft etabliert hatten, versuchten sie mit verschiedenen Methoden die Menschen mit dem Islam bekannt zu machen. Eine dieser Methoden war die Modalität von Klang, gesprochenem Wort und Klangwelten. Sunan Kalijaga (1455-1586), der vor allem in Zentraljava tätig war, setzte zum Beispiel das Schattenpuppentheater, Wayang Kulit, als Da’wa-Werkzeug ein. Dabei hatte er nicht nur Hindu-Buddhistische Symbole re-interpretiert sondern auch die Zuschauer durch die Klangwelten des Gamelans (ein traditionelles vielschichtiges Javanisches Schlaginstrument) für die theologischen, ethischen und spirituellen Lehren des Islam gewonnen. Weiterhin war Sunan Kalijaga ursprünglich aus Java und hatte somit auch einen noch besseren Zugang zu der lokalen ­Bevölkerung als seine Kollegen aus dem neuner Rat. Andere Mitglieder des Rates der neun heiligen Männer nutzten ­traditionelle javanische Dichtkunst, die gewöhnlich in überlieferter Weise gesungen wird. So zum Beispiel Sunan Muria (wahrscheinlich 1551 gestorben), der auch in Zentraljava predigte und die Methode die javanische Kultur zu nutzen, um die Lehren des Islam zu verbreiten von seinem Vater übernommen hatte. Nachdem die Herzen der Menschen in Java geöffnet waren, den Walisongo zugeneigt und ihre Methoden wohlwollend angenommen wurden, begannen die ­Walisongo mit dem Unterrichten und der Weitergabe von weiteren wichtigen Aspekten der Religion.

Strategien
Neben den oben bereits erwähnten Methoden zur Verbreitung des Islam, nutzten die Walisongo weitere Strategien. Viele von diesen erinnern auch an die Methoden, die der Prophet Muhammad nutzte, um den Menschen der damaligen Zeit auf der arabischen Halbinsel den ­Islam zu vermitteln. Die Walisongo bauten Moscheen beziehungsweise das, was wir heute islamische Zentren nennen. Denn es ­waren nicht nur Orte der Anbetung sondern auch Orte des Lernens und der Lehre. Weiterhin wird überliefert, dass das erste Pesantren (traditionelle Islamschule in Java, die mittlerweile in ganz Indonesien verbreitet sind) von einem der Walisongo gegründet worden ist.

Ein weiterer interessanter Punkt in der Dawah-Strategie der Walisongo ist die geostrategische Aufteilung der Insel Java in verschiedene Gebiete. Auch hier ist die Versiertheit über die lokalen Begebenheiten und Spezifitäten der Walisongo ausschlaggebend. Wie bereits ­detailliert beschrieben wurde der Islam durch eine Strategie der überzeugenden Nähe an die Bevölkerung herangetragen. Die Unterrichtung (nicht die Inhalte) in der islamischen Glaubenslehre (‘Aqida) wurde an die Umstände und Situation angepasst.

Die nahezu perfekte Beherrschung der Javanischen Sprache durch die Walisongo möchte ich an dieser Stelle noch einmal hervorheben, denn sie war für die erfolgreiche Verbreitung des Islam von herausragender Bedeutung. Dies beinhaltete auch die drei Sprachebenen, die je nach sozialer Schicht und familiärer Stellung teilweise ein vollkommen unterschiedliches Vokabular gebraucht. Die zum großen Teil nicht-javanischen Walisongo beherrschten Javanisch in einer Art und Weise, dass sie die javanische Dichtkunst für die Verbreitung ihrer Mission nutzen konnten. Sie erwarteten nicht, dass die Mehrheit der Bevölkerung Konzepte in arabischer Terminologie verstand, sondern übersetzten und übertrugen essentielle Lehren in die lokale Sprache. Sunan Ampel (1401-1481) zum Beispiel, der in Surabaya, in Ostjava tätig war, ist bekannt für seine Fünfer-Lehre, in der er die Javanische Bevölkerung über fünf negative Gewohnheiten aufklärt, die im Islam verboten sind. Moh Main, Moh Ngombe, Moh Maling, Moh Madat und Moh Madon. kein Glücksspielen, kein (Alkohol) trinken, nicht stehlen, keine Drogen ­konsumieren und keine außereheliche Beziehungen unterhalten. Eine ähnliche Herangehensweise finden wir auch in der Verbreitung des Islam in China, wo selbst das Wort ‘Islam’ in die chinesische Sprache, Weltanschauung und Spiritualität übersetzt und somit zugänglich gemacht wurde ohne die eigentliche innewohnende Essenz zu verlieren.

Weiterhin hatten die Walisongo sehr darauf geachtet, dass sie die Lehren des Islam nicht nur predigten, sondern diese auch im Alltag lebten. Hilfe für die ­Armen, Benachteiligten und Nachbarn und ein harmonisches Zusammenleben hatten dabei hohe Priorität. Und sie hatten sich neben ihrem Fokus auf die normale Bevölkerung auch speziell auf die führende Elite Javas konzentriert.

Orte der Walisongo heute
Bis heute werden die Walisongo von der indonesischen Bevölkerung respektiert und ihre unvergessliche Arbeit für den Islam in Indonesien wertgeschätzt. Unter anderem indem ihre Gräber besucht werden (arab. zijara) und für sie Bittgebete und Koran gelesen werden. Die historischen Moscheen, die von den Walisongo errichtet worden sind, sind spirituelle Orte der Einkehr und Besinnung. Sie zeigen des Weiteren ein wunderschönes architektonisches Beispiel wie der Islam in Indonesien lokalisiert wurde, denn die meisten alten Moscheen sind in einem lokalen Stil gebaut worden.

Zusammenfassung
Dieser Artikel stellt eine kurze Einleitung in das komplexe Thema der Verbreitung des Islam in Indonesien und speziell auf der Insel Java dar. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Islam in der südostasiatischen Region und speziell in dem Archipel von Nusantara friedlich verbreitet wurde und bis heute fast ausschließlich friedlich gelebt wird. Die ­Lokalisierung der islamischen Lehre ist dabei ein hervorstechendes Merkmal. Die harmonische Existenz verschiedener ­Religionen, Kulturen und ethnischen Gruppen ist typisch für Indonesien.

Meiner Meinung nach können wir von der Art wie Islam in Indonesien verbreitet wurde und heute gelebt wird auch für unseren deutschen und europäischen Kontext einige wertvolle Hinweise und Inspirationen finden. Die Methode der Lokalisierung sollte hierbei genauer ­betrachtet werden. Es ist weiterhin essentiell, dass wir diesem bevölkerungsreichsten muslimischen Land, seinen muslimischen Gelehrten und seiner ­islamischen Geschichte mehr Aufmerksamkeit in unserem framing der muslimischen Welt schenken. Und vor allem auch in der akademischen Welt, speziell in den Islamwissenschaften und der ­Islamischen Theologie, endlich anerkennen, dass auch die sogenannte und falsch verstandene „muslimische Peripherie“ in Südostasien zu unseren muslimischen und inter-religiösen Diskursen wertvolle Beiträge leisten kann.

Anmerkung: Die Jahresangaben sind teilweise nicht vollkommen authentisch nachvollziehbar, da mit der Kolonialisierung Javas durch die Holländer der traditionelle javanische Kalender teilweise nicht akkurat oder vollständig erhalten wurde. Wir können jedoch davon ausgehen, dass die Walisongo ab dem 15. Jahrhundert in Java wirkten.

Dr. Claudia Azizah Seise ist promovierte Südostasienwissenschaftlerin. Ihr Buch „Religioscapes in Muslim Indonesia“ ist bei regiospectra Verlag erschienen.

IG/Twitter: @clazahsei