
Von Grozny bis Gaza wird gegen Städte Krieg geführt: über Dekonstruktion und Rekonstruktion des urbanen Raums.
(The Conversation). Die USA und Israel haben mit ihrer durchgesickerten Vision für den Wiederaufbau des zerstörten Gazastreifens internationale Kritik ausgelöst. Von Jonathan Silver
Der „Stadtentwicklungsplan“ scheint sich seit seiner Veröffentlichung Anfang des Jahres weiterentwickelt zu haben. Er umfasst wirtschaftliche Impulsgeber wie Blockchain-basierte Handelsinitiativen, Rechenzentren und „Resorts von Weltklasse“.
Durch die Anbindung an das geplante örtliche Logistiknetzwerk, den Indien-Nahost-Europa-Korridor (Imec), soll es zum Zentrum einer proamerikanischen regionalen Architektur werden.
Die Bilder und Details, die in dem Entwurf des Gaza Reconstitution, Economic Acceleration and Transformation (Great) Trust zu sehen sind, deuten auf eine Vision hin, die eindeutig dem Urbanismus der Golfstaaten huldigt. Ähnliche Megaprojekte, Hochhäuser und spekulative Immobilienvorhaben haben seit den 1980er Jahren den Wandel Dubais und anderer Städte am Golf vorangetrieben.
Das 38-seitige Dokument, das original in der „Washington Post“ veröffentlicht wurde, ist eine architektonische Fantasie einer hypermodernen Küstenenklave. Seine planerischen Ursprünge scheinen zweierlei zu sein.
Es basiert auf den libertären Ideologien der sogenannten Charter City – Stadtentwicklungsräume mit anderen Gesetzen und Institutionen als die Gerichtsbarkeit, in der sie sich befinden, wie beispielsweise Prospera in Honduras.
Foto: Ashraf Amra, UNRWA
Der Plan wurde Berichten zufolge von der Boston Consulting Group unterstützt, wobei Mitarbeiter des Tony Blair Institute offenbar in vorherige Diskussionen eingeweiht waren. Die Beratergruppe hat inzwischen verlautbart, dass zwei ihrer ehemaligen Partner ohne deren Wissen an der Arbeit beteiligt waren. Auch das Institut hat sich distanziert und erklärt, dass es niemals Vorhaben zur Umsiedlung von Bewohnern aus Gaza „verfasst, entwickelt oder unterstützt“ habe.
Der von Investoren initiierte Plan im Wert von 100 Mrd. US-Dollar (ca. 85 Mrd. Euro) enthält alle Standardkomponenten einer neuen Stadt. Dazu zählen prestigeträchtige Wasserfront-Projekte für die globale Elite. Geplant sind Wohnblocks, die internationalen Immobilienentwicklern gehören.
Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass Gaza das „nächste Dubai“ wird. Der Plan sieht massive israelische Sicherheitspufferzonen vor, was darauf hindeutet, dass militante Gruppen Widerstand gegen die Besatzung leisten könnten. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde dies auch jede Aussicht auf eine Zwei-Staaten-Lösung endgültig zunichtemachen.
Die Risiken für Investoren wären enorm. Dazu gehören mögliche rechtliche Haftungsrisiken im Zusammenhang mit Landraub und eine Einbeziehung in Gerichtsverfahren wegen Völkermordes vor dem Internationalen Gerichtshof, sollten solche stattfinden.
Kein Wunder, dass der Plan von einem leitenden Mitarbeiter des Thinktanks Royal United Services Institute als „wahnsinnig” bezeichnet wurde und von einigen Teilen der israelischen Medien abgelehnt wird.
Um die städtischen Dimensionen des „Gaza-Riviera“-Plans zu verstehen, bedarf es mehr als nur einer planerischen Perspektive. Es geht darum, seine Entwicklung in den größeren historischen und geografischen Kontext Palästinas einzuordnen. Dadurch wird die Initiative weniger als Wiederaufbaumaßnahme, sondern vielmehr als nächster Schritt zur Auslöschung der palästinensischen Präsenz in diesem Gebiet positioniert.
Wissenschaftler, die sich mit Siedlerkolonialismus befassen, haben gezeigt, dass dessen Logik auf Eliminierung beruht. Dies, so wird erklärt, dient dazu, die territoriale Kontrolle zu ermöglichen und eine erneute Siedlergesellschaft auf dem Land zu etablieren.
Wie Theodor Herzl, der Gründervater des Zionismus, argumentierte: „Wenn ich ein altes Gebäude durch ein neues ersetzen will, muss ich erst abreißen, bevor ich bauen kann.“
Der Plan stützt sich auf zwei Faktoren vor Ort, die über finanzielle und geopolitische Aspekte hinausgehen: Urbanizid (Tötung von Städten) und Vertreibung. Erstens erfordert die Errichtung dieser neuen Gesellschaft den Abriss jahrhundertealter historischer Bauwerke und die Destruktion der Unterstützungsnetzwerke des städtischen Lebens.
Foto: Israeli Defence Forces Spokesperson’s Unit, via Wikimedia Commons | Lizenz: CC BY-SA 3.0
Für Gaza ist das die absichtliche Zerstörung seiner zivilen Infrastruktur, seiner bebauten Umgebung, seiner Straßen und Krankenhäuser, wodurch sein physischer Charakter und seine Funktionalität als Siedlung beseitigt werden.
Forensic Architecture ist eine Forschungsgruppe, die architektonische Techniken einsetzen, um staatliche Gewalt und Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen. Ihre Datenbank „Cartography of Genocide“ dokumentiert, dass die räumliche Repression der israelischen Streitkräfte in vielen Gebieten des Gazastreifens nahezu vollständig war. Damit sind die notwendigen Voraussetzungen für die Umsetzung des Plans gegeben.
Das Vorhaben lässt kaum Raum für die 2,3 Mio. Palästinenser, die in Gaza leben. Es gibt Berichte, wonach den Bewohnern bis zu 5.000 US-Dollar angeboten wurden, um Platz für die „Riviera“ zu machen, angeblich auf vorübergehender Basis.
Unterdessen tötet die IDF weiterhin Zivilisten und treibt die massive Vertreibung innerhalb Gazas selbst voran, während rechtsextreme israelische Politiker öffentlich ihren Wunsch bekunden, die Palästinenser aus dem Gebiet zu entfernen.
Dieser Plan zur Neugestaltung des Territoriums lässt sich auch im Rahmen einer kolonialen Logik verstehen: eine städtebauliche Idee, deren Verwirklichung die Auslöschung all dessen erfordert, was zuvor existierte – durch die Vertreibung der Bevölkerung und die Zerstörung der bebauten Umgebung.
Übersetzung und Veröffentlichung im Rahmen einer CC-Lizenz.