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Wie sollen wir uns engagieren?

Ausgabe 302

Foto: zakat.org

(iz). Betroffen von Themen wie NSU, antimuslimische Diskriminierung, Rassismus und (wie in den letzten Wochen) Black Lives Matter wird das Gespräch in der muslimischen Gemeinschaft in erheblichem Maße durch eine aktivistische Rhetorik dominiert. Sie setzt derzeit nicht nur eine Agenda, sondern formuliert gleich die Antworten. Andere, für Muslime relevante Elemente wie die essenzielle Lehre des Islam sowie die Gemeinschaft respektive ihre Führungen sind in Hinblick auf ihre Relevanz weniger hörbar.

Nicht nur in Deutschland, sondern für viele Gemeinschaften im Westen hat diese Entwicklung Wirkungen gehabt: a) den Prozess der Säkularisierung beschleunigt und b) das Göttliche aus Theorie und Praxis verbannt. Eine weitere Folge ist die Veränderung des muslimischen Selbstverständnisses – von einer Gemeinschaft, die sich in der Anbetung Allahs findet, hin zu einem Kollektiv, das über die verschiedenen, weltlichen ­Parameter des Aktivismus verstanden wird.

Leenah Safi hat ihren Bachelor in den islamischen Wissenschaften am US-amerikanischen Zaytuna College gemacht und arbeitet heute als Seelsorgerin für Krankenhäuser und StudentInnen im Bundesstaat Michigan. Für sie sei Aktivismus zu einem „Rahmen geworden, durch den viele die Welt verstehen“. Allerdings sei er häufig auf Vorbereitung und Ausführung bestimmter äußerlicher Handlungen beschränkt. „Während die Teilnahme an solchen Protestformen ein nötiges Gut für die muslimische Gemeinschaft ist, können sie nicht der einzige Weg sein, durch den wir definieren, was das Engagement für Gerechtigkeit bedeutet. Muslime, die für soziale Gerechtigkeit arbeiten, müssen sich zuerst und vor allem ihrem spirituellen Wachstum widmen. Andernfalls riskieren die Beteiligten und ihre Absichten Schaden“, schreibt Safi.

Zusätzlich sieht Safi die Gefahr, einer dem Aktivismus innewohnenden Säkularisierung. „Muslim zu sein, wurde zu einer Identitätsmarkierung wie viele ­andere.“ Sie hat ihre vertikale Bedeutung der Zugehörigkeit zum Göttlichen ­verloren. Sei eine Person durch diese ­ver­tikale Wirklichkeit verwurzelt, werde sie auch in ihrem horizontalen Aspekt mit Fokus und Inspiration nach vorne katapultiert.

Darüber hinaus seien wir durch das prophetische Phänomen nicht nur zum Kampf gegen ungerechte und ungesunde Verhältnisse aufgerufen. Vielmehr müssten wir am Aufbau gesunder und gerechter Gemeinschaften arbeiten. Mit der richtigen Einstellung verfeinere diese ­Arbeit den Charakter, wenn die betroffene Person eine Verbindung zum persönlichen Wachstum zulasse. „Das war der Ansatz unseres geliebten Propheten, der in den Augen von Muslimen und Nichtmuslimen gleichermaßen unvergleichbar in seiner positiven Wirkung auf die Geschichte war.“

Für den muslimischen Gelehrten Imam Zaid Shakir lasse sich der Gegensatz überwinden, wenn wir uns in einen anderen konzeptionellen Bereich bewegen. Für ihn wird die aktivistische Sphäre durch Vernunft definiert. Damit solle aber nicht ihre Möglichkeit geleugnet werden, die diese nicht nur im Verständnis vom Religiösen, sondern auch unserer eigentlichen Welt spielen könne. „Of­fenbarung stellt jedoch den Rahmen, in dem die Vernunft operiert“, schreibt der Imam.

Zur Überwindung dieser Dialektik hat sein ebenfalls US-amerikanischer Kollege Dawud Walid einen kompakten Band über „heiligen Aktivismus“ geschrieben. In seinem Band geht es weder darum, das eine gegen das andere auszuspielen. Noch fordert er eine religiös begründete Passivität gegenüber den Dingen der Welt – insbesondere angesichts von greifbaren Ungerechtigkeiten. Vielmehr wolle er den Rahmen formulieren, in dem das Heilige und Aktivismus harmonisieren können.

Imam Zaid Shakir seinerseits betont die Anerkennung der zentralen Rolle ­Allahs in den menschlichen Angelegenheiten. Diese sei wesentlich für die Verwirklichung eines solchen Engagements für Gerechtigkeit in der Welt. „Die Anerkennung erlaubt uns, dass nichts unabhängig vom Wissen, Willen und der Macht Allahs besteht.“ Das sei wichtig für alle engagierten Muslime. Denn er/sie sowie seine/ihre Taten seien eine Manifestation des göttlichen Willens in der Welt. „Die Erkenntnis ist einer der ersten Schritte zu einem heiligen Aktivismus. Dieser verleiht ihrem/ihrer Inhaber/in ein Tauhid-Bewusstsein sowie ein Gefühl für den Zweck, der sie motiviert, Wissen davon zu erlangen, dass der göttliche Wille unser Handeln bestimmt.“

Dawud Walids Überlegungen zielen nicht nur auf bloße Kritik oder abstrakte Analyse ab. Er hat sein Buch „Towards a Sacred Activism“ als Ratgeber und ­Hilfestellung für praktizierende Muslime geschrieben, die sich für Gerechtigkeit engagieren wollen. Unzählige Ratgeber und Artikel behandeln derzeit die ­Notwendigkeit der Selbstfürsorge (engl. self-care) für aktive Menschen. Von Sozialarbeitern, über Menschen im Gesundheitssystem und darüber hinaus – die ­Bedeutung, das eigene Wohlbefinden im Blick zu haben, gilt als Mittel zur ­Verbesserung körperlicher Gesundheit und der persönlichen Beziehungen. Diese Eigensorge soll helfen, mit den Folgen emotionaler Verletzungen durch stressige Situationen fertig zu werden.

„Fürsorge für sich selbst ist ebenfalls wichtig für religiöse Führer und Muslime, die sich engagieren. Genauso wie die richtigen Mengen Schlaf, gesunde Ernährungsgewohnheiten und Bewegung wesentlich für die Erhaltung angemessener körperlicher Gesundheit sind, sind Schritte zur Verbesserung des spirituellen Wohlbefindens nötig für das menschliche Wesen“, schreibt Walid.

Daher sollten MuslimInnen, die sich engagieren wollen, Gewohnheiten zum Wachstum geistiger Gesundheit entwickeln. Angesichts der belastenden Natur der westlichen Welt nach dem 11. September 2001 und ihrer Spannungen und Dramen in aktivistischen Räumen sei das umso wichtiger. „Es ist unwahrscheinlich, dass gebrochene Personen bei der ­Heilung kranker Gesellschaften viel erreichen können.“ Dawud Walid formuliert eine ganze Reihe an praktischen Aspekten, die muslimischen AktivistInnen helfen sollen:

1. Die täglichen fünf Gebete vollziehen und sich zu bemühen, dies in ihren festgesetzten Zeiten zu tun. Danach kommen die freiwilligen Gebete, die mit den verpflichteten verbunden sind. „Unsere grundsätzliche Verbindung zum Schöpfer findet durch sie statt.“

2. Wichtig ist Gesellschaft mit den aufrichtigen Leuten im Islam, die sich um die Verbesserung ihrer selbst bemühen. Einer der positivsten Effekte für den ­eigenen spirituellen Zustand ist die ­Gesellschaft (arab. subh) mit dem Umfeld. In vielen Fällen könne dies für die AktivistInnen bedeuten, dass man nicht mehr mit spezifischen Personen außerhalb von Arbeit oder dem sozialen Engagement in Verbindung stehe. Der ­Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, sagte: „Einsamkeit ist ­besser als schlechte Gesellschaft. Und rechtschaffener Umgang ist besser als ­Alleinsein.“

3. Annahme eines spirituellen Leiters oder Mentors. Ein Teil vom Zerbrechen des Egos geschieht in einer traditionellen Beziehung zwischen Lehrer und Schüler. Das Selbst neigt zur Eigentäuschung. ­Daher ist eine solche Rechtleitung notwendig, um den Prozess der eigenen Vervollkommnung zu ermöglichen. In der Sure Al-Kahf erfahren wir, dass selbst die aufrichtigsten Personen wie Musa, Friede sei mit ihm, die Führung von Al-Khidr benötigte, bevor er Pharao begegnen konnte.

4. Eine Litanei für die tägliche Re­zitation und Reflexion – insbesondere in den Zeiten des Morgen- und Abend­gebets. Spirituelle Führer können eine solche empfehlen.

5. AktivistInnen sollten versuchen, sich an der strukturierten Aneignung von islamischem Wissen zu beteiligen. Sollte es lokal keine Klassen geben, die in den Tagesablauf von Arbeit und Familie passen, dann geht dies zumindest online. „Meine Meinung“, so Imam Dawud ­Walid, „ist, dass jeder engagierte Muslime nach grundlegendem Wissen von der Glaubenslehre (arab. ‘aqida) und den Fundamenten des islamischen Rechts (arab. usul al-fiqh) streben muss“.

6. Allah, den Allerhöchsten, zu bitten und auch regelmäßig um Segen für den Propheten zu beten, möge Allah ihn ­segnen und ihm Frieden geben. Beides sind Mittel der Suche nach Hilfe und Ruhe in Zeitung von Unordnung und Verwirrung. Allah sagt in Seinem Edlen Qur’an: „Wahrlich, in der Erinnerung an Allah finden die Herzen Ruhe.“ (Al-Ra’d, Sure 13, 28)

7. Man müsse dem Drang widerstehen, auf jedes umstrittene Ereignis zu reagieren, das in das eigene Blickfeld gerate – ganz besonders, wenn man sich empört fühle. „Es gibt eine Zeit fürs Reden, eine Zeit zum Schweigen.“ Weisheit bestehe darin, zu wissen, wann was angebracht sei. Einmal bat ein Mann den Gesandten Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, um einen Ratschlag. Er sagte drei Mal: „Werde nicht wütend.“ Das heißt, nicht reagieren auf Grundlage von Ärger.

8. Erinnern wir uns daran, dass der Ausgang der Dinge bei Allah, dem Allmächtigen und Erhabenen, liegt. Sich auf die beste Weise zu bemühen und die Ergebnisse Allah zu übergeben, hilft dabei, einen großen Teil von Enttäuschung und Verzweiflung zu vermeiden. Weder wir noch irgendjemand anderes ist der endgültige Bestimmer davon, ob sich etwas manifestiert oder nicht. Eine Erinnerung daran ist die Überlieferung (arab. hadith), in dem ein Mann zum Propheten kam, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben. Er fragte ihn: „O Gesandter Allahs, soll ich sie (die Kamelstute) anbinden und vertrauen (dass Allah sie beschützen wird) oder sie nicht anbinden, aber (auf Allah) vertrauen?“ Der Gesandte Allahs antwortete: „Binde sie an und vertraue (auf Allah).“

Allah sagt in Seinem Qur’an: „Wer nun auf die Begegnung mit seinem Herrn hofft, der soll rechtschaffen handeln und beim Dienst an seinem Herrn (Ihm) niemanden beigesellen.“ (Al-Kahf, Sure 18, 110)