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Wie stehen ­Muslime zu Europa?

Ausgabe 262

Foto: © Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons)

(iz). In diesem Jahr stehen einige Wahlen an, die vielleicht wichtigste dürfte dabei die Präsidentschaftswahl in Paris sein. Dort stehen zwei Politikmodelle zur Wahl: entweder die Rückkehr zum antiquierten Nationalstaat, oder aber die Zustimmung zu einem vereinigten Europa. Emmanuel Macron und seine Bewegung „En Marche!“ haben dabei gute Chancen, zu gewinnen. Wird er Präsident, kann die europäische Idee überleben, sollte allerdings Le Pen als Siegerin in den Elysee-Palast ziehen, steht Europa vor einer historischen Zäsur. Die Muslime Europas sollten also dem charismatischen Macron den Sieg wünschen, denn eine Niederlage würde auch für Millionen Muslime in Europa wachsende Unsicherheit bedeuten.
Die Lage ist also durchaus ernst. Der Trend zur Rückkehr zur alten Nationalstaatlichkeit, bis hin zur abgründigen Forderung der identitären Bewegungen nach einer „Reconquisita“, geht einher mit anti-islamischen Stimmungen. Im „European Islamophobia Report“ der Organisation SETA kann man nicht nur nachlesen, wie sich bereits ein neuer Rassismus in Europa auswirkt, sondern auch, in Formen von Statistiken, die Vorbehalte vieler Europäer gegenüber dem Islam studieren. In den Köpfen vieler Menschen hat sich die Vorstellung der Fremdheit des Islam in Europa durchgesetzt. Hierbei wird oft übersehen, dass eine sehr große Zahl von Muslimen keine Immigranten, sondern längst europäische Bürger sind. Diese muslimischen Europäer müssen nicht integriert, sondern vielmehr muss ihre politische Partizipation sichergestellt werden.
Auch in Deutschland steht die klassische Definition des Deutsch-Seins, das Bekenntnis zum Europäischen, zum Übernationalen und zur Weltbürgerlichkeit zur Disposition. Die dahinter liegenden Identitätskrisen werden zumeist mit einer Dialektik gegen die Muslime überspielt. Es ist ein Spiel mit dem Feuer. Die eigentliche Leistung der Europäischen Union, eine über 70-jährige Friedensphase in Europa gestaltet zu haben, könnte auch hierzulande in Vergessenheit geraten. Nebenbei erinnert der Terror im Baskenland oder in Irland daran, dass das Problem des europäischen Extremismus facettenreich ist.
Inzwischen hat sich mit „Pulse of Europe“ in vielen europäischen Städten eine junge Gegenbewegung für Europa gebildet. Sie versucht, dem technokratisch verfassten Gebilde mehr Leben einzuhauchen. Unlängst hat sie sich auch in Köln versammelt: Die Beteiligung von Muslimen ging dabei gegen Null. Das ist kein Zufall. Von den muslimischen Organisationen kommen bisher leider kaum europapolitische Impulse und die Eigenschaft, Europäer zu sein, spielt bei der Selbstdefinition nur eine untergeordnete Rolle. Stattdessen bestimmt das Referendum und damit die politische Zukunft der Türkei die innerislamischen Diskussionen. Ganz logisch ist diese einseitige Ausrichtung nicht, ist doch die künftige politische Ausrichtung Europas auch für die europäischen Muslime eine echte Schicksalsfrage.
Es mag sein, dass die Begeisterung für die Europapolitik größer wäre, wenn die historische Chance der Einbindung der Türkei in die EU nicht ausgeschlagen worden wäre. Sie gilt vielen Muslimen als eine symbolische Ablehnung gegenüber dem Islam in Europa. In der Zeit, als die Türkei eindeutig demokratische Reformen eingeführt hatte, scheiterte das Projekt letztendlich an dem Widerstand der europäischen Konservativen. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass das moderne Europa auch ein großes muslimisches Land umfassen könnte. Die Geschichte wird zeigen, ob hier nicht eine große historische Chance für Europa verspielt wurde.
Nach wie vor haben viele Muslime so das Gefühl, dass sie in Europa nicht willkommen sind, obwohl der Satz „der Islam ist Teil Europas“ eindeutig bejaht werden kann. Der Islam hat nicht nur historische Spuren auf dem Balkan oder in Andalusien hinterlassen, sondern auch eine beeindruckende Infrastruktur, die man noch heute in Städten wie Sarajevo oder Cordoba studieren kann. Auch ist die große Tradition des europäischen Islam im toleranten Umgang mit anderen Religionen gerade heute von größter Aktualität. Es wäre fatal, wenn die europäische Idee den Beitrag der Muslime in Europa ignoriert.
Natürlich ist es nicht ausgeschlossen, dass die Millionen europäischen Muslime künftig für eine Einbindung der Türkei in die EU votieren. Diese Vision geht einher mit dem Ausbau der europäischen Strukturen der Muslime, die zwar vom Einfluss von Drittländern unabhängig sind, aber aus dieser souveränen Position heraus europapolitische Themenfelder besetzen. Langsam aber sicher bilden sich europäisch verfasste Organisationsformen der Muslime heraus, die in der logischen Konsequenz sich eines Tages auch in der Zusammensetzung des Europäischen Parlamentes zeigen werden. Nimmt man die Zahl der Muslime in Europa zum Maßstab, zeigt ein Blick nach Brüssel und Strasbourg, dass sie kaum über eine entsprechende Lobby verfügen.
Teil des politischen Engagements der Muslime wird nicht nur die Forderung nach Religionsfreiheit und der Erfüllung ihrer Bürgerrechte sein, sondern auch die Stärkung der innerislamischen Solidarität. Muslime leben nicht nur in Westeuropa, sondern auch in Südosteuropa, sind gut vernetzt und leben im Rahmen offener Grenzen längst den europäischen Gedanken. In diesen Kontext gehört auch die Forderung nach der Einbindung südosteuropäischer Staaten, also auch der Muslime Albaniens oder Bosniens, in die EU. Der Bosnienkrieg der 90er Jahre erinnert in unserer jüngsten Geschichte daran, welche fatale Folgen ein aggressiver Nationalismus zeitigen kann. Ein Europa der Regionen verkörpert wohl die einzige dauerhafte Friedensvision für diese Region. Scheitert das Vorhaben, könnten die Balkanstaaten schnell unter den Einfluss anderer Regionalmächte geraten.
Muslime sind also durchaus geeignet für eine aktive Europapolitik, ihre Lebenspraxis umfasst keinen Nationalismus und sie verkörpern ganz unterschiedliche kulturelle Traditionen. Die Idee des freien Marktes ist nicht nur Bestandteil der eigenen Überlieferung, sondern auch der Idee eines abgeschotteten Europas wesensfremd. Natürlich verstehen Muslime auch, dass im Zeitalter grenzenloser Technik und globalisierter Märkte der Rückzug auf den Nationalstaat illusorisch ist und einem ökonomischen Selbstmord gleichkommt.
Gleichzeitig ist es gerade das Verhältnis von Ökonomie und Politik, dass wohl wirklich über die demokratische Zukunft Europas entscheiden wird. Die simple Gleichung, ein Europa ohne den Islam ist ein demokratisches Europa, ist dabei naiv. Die Debatten über die Gefahren des politischen Islam bestimmen zwar noch den aktuellen Diskurs, lenken aber auch von den Gefahren für die Demokratie ab, die in der Banken- und Schuldenkrise Europas deutlich wurden. Trotz Vernunft und Aufklärung gilt es heute das Paradox zu erklären, wie zum Beispiel die uferlose Geldpolitik der EZB eine rationale Wirtschaft ermöglichen soll.
Fakt ist, wer der europäischen Idee neue Impulse geben will, kann die europäischen Muslime nicht ignorieren. Die absolute Mehrheit der jungen Muslime will – wie ihre Altersgenossen mit anderen Konfessionen – weder autoritäre Strukturen noch geschlossene Grenzen. Es wird Zeit, diese Bevölkerungsgruppen für die Idee eines geeinten und offenen Europas zu begeistern. Letztendlich stehen auch die Muslime Europas vor einer Grundsatzentscheidung. Entweder, sie schaffen ihre eigene Einflusssphäre in Europa, auf der Grundlage einer bürgerlich-europäischen Identität, die sie offensiv vertreten oder aber sie werden nur noch als Fremdkörper oder gar als Ableger von muslimischen Staaten wahrgenommen. Innerhalb eines freien Europas ist immerhin die Chance gegeben, Lebenspraxis und Lehre unter dem Vorzeichen der Freiheit zu etablieren. Wo sonst sind diese Voraussetzungen gegeben?