
Ich lebe grad, da das Jahrhundert geht.
Man fühlt den Wind von einem großen Blatt,
das Gott und du und ich beschrieben hat
und das sich hoch in fremden Händen dreht.
Rainer Maria Rilke
(iz). Unsere Kultur hat die Welt verschlungen. Sie überspannt diese nicht als Koloss, sondern als betörender Drache. Er verbirgt sich offen in unserer Alltäglichkeit; in einer verschlingenden, attraktiven Universalität, Gleichförmigkeit der Gleichartigkeit, die als Freiheit bezeichnet wird.
Das Normale, Ordinäre, unsere Alltäglichkeit bringen Krankheiten der Zivilisation hervor: Herzkreislauferkrankungen, Diabetes, Übergewicht, Panikattacken, Depression und Krebs. Sie entstehen überall, wo unsere Lebens- und Ernährungsweisen hinkommen.
Ein umfangreicher Bestand der wissenschaftlichen Literatur dokumentiert diesen Vormarsch einer zivilisatorisch erstrebenswerten Normalität. Er nennt unsere Krankheitslast „Zivilisationskrankheiten“. Und therapiert sie unisono mit der Medizin eben jener Kultur. Unsere Ökosysteme der Krankheitslast werden pharmazeutisch als Märkte und therapeutisch als Industrien bezeichnet.
Aber findet sich Heilung darin, dass man zur Ware wird? Zu einem Konsumenten oder Markt? Und kann Erholung fabriziert werden? Das sind einige Fragen, die wir uns stellen müssen. Und ich werde mich nicht dem Irrtum hingeben, die Antworten zu haben! Klar ist: Wenn unsere Krankheiten durch diese Kultur verursacht werden, dann muss sie sich ändern, wollen wir Gesundheit.
„Wo geht ihr denn hin?“ (At-Takwir, Sure 81, 26)
Ich will das Ganze nicht unnötig politisch halten. Aber in den Bedingungen, denen wir im 21. Jahrhundert gegenüberstehen, wurden Wohlbefinden und Erholung zutiefst politisiert und ideologisch. Es liegt in der Heilung und dem gesunden Leben, dass das Framing von Politik und Rechten in diese phänomenologischen Fragen zusammenfällt: Wie entscheiden wir uns für die Lebensführung? Wie wollen wir leben? Das Ganze basiert auf dem Verlangen zur Veränderung unserer Lebenserfahrung.
Solche Fragestellungen sind geradliniger, als wir glauben wollen. Sie finden sich in der Ausübung der Entscheidung und Mutes zur Verhaltensänderung, dass wir uns mit Heilung beschäftigen, und anfangen, Gesundheit zu wählen. Im Wesentlichen wissen wir, wo wir hingehen möchten.
„Und als dein Herr zu den Engeln sagte: ‘Ich bin dabei, auf der Erde einen Statthalter einzusetzen’.“
(Al-Baqara, Sure 2, 30)
Welche Diät?
Unsere fleisch-, zucker- und kohlenhydratreiche Ernährung ist wesentlich für die westliche Lebensweise. Als ob das nicht genug wäre, fluten wir die Märkte mit diesen Lebensmitteln. Das tun wir durch industrielle Landwirtschaft, die den Mutterboden mit einer jährlichen Rate von 3,4 Tonnen pro Person zerstört. Dieser Anbau führt zur systematischen Reduzierung des Mineralanteils bei Früchten und Gemüsen. In den letzten 60 Jahren hat er sich halbiert – trotz des massiven Einsatzes von Düngern, um der resultierenden abnehmenden Bodenfruchtbarkeit zu begegnen.
Wir bekommen höhere, aber mineralärmere Ernteerträge. Wir haben die Zeit, die es braucht, um Rinder für den Markt zu mästen, radikal verkürzt; und zwar um mindestens die Hälfte der herkömmlichen Zeit, in einigen Fällen sogar bis zu dreimal weniger. Das Ergebnis ist, dass der Fett- und Medikamentenanteil unseres Fleisches drastisch wuchs, was von der Fleischindustrie als etwas Gutes vermarktet wird. Marmoriertes Fleisch wird aufgrund des höheren Fettgehalts als schmackhafter und besser angepriesen, obwohl wir ungesündere Tiere haben. Sie verzehren ebenfalls Nahrung mit weniger Mineralien. Man muss sich mit den Symptomen beschäftigen, die von Mineralmangel verursacht werden.
Wir Muslime sind aufgrund unseres Schöpfungszwecks zum Schutz der Böden, Tiere und der Menschen verpflichtet. Wir können dies tun, wenn wir uns und unsere Gemeinden über die Bedingungen informieren, unter denen die Lebensmittel entstehen. Wir können bewusst eine gemeinschaftsorientierte Kaufentscheidung treffen, indem wir unternehmerisch tätig werden und gemeinnützige Aktivitäten durchführen. Tun wir das nicht, gilt der folgende Vers:
„Da sagten sie: ‘Willst Du auf ihr etwa jemanden einsetzen, der auf ihr Unheil stiftet und Blut vergießt, wo wir Dich doch lobpreisen und Deiner Heiligkeit lobsingen?’“ (Al-Baqara, Sure 2, 30)
Veganismus, Vegetarismus, pathologisch fleischlastige Ernährung oder eine andere ideologische Position des Spektrums sind problematisch, wenn sie auf bodenzerstörender industrieller Landwirtschaft basieren. Die meisten tradierten Ernährungsweisen beinhalten viele Pflanzen und gelegentlich Fleisch. Da Gemüse alle wesentlichen Nahrungsgruppen enthält und leicht angebaut werden kann, braucht es keinen Universitätsabschluss, um zu verstehen, warum das bei tradierter Ernährung üblicherweise der Fall ist. Für eine gesündere Diät sollte der Gemüseanteil die Hälfte der Mahlzeit ausmachen. Damit hat unsere Nahrung automatisch eine höhere Nährstoffdichte. Das verringert im Laufe der Zeit die Größe der benötigten Portionen. Die Ernährungsweise wird sich so ändern, was das Risiko, an den Krankheiten der westlichen Zivilisation zu erkranken, erheblich senken würde.
Die Häufigkeit von Angst und Depression
Im kleinen Wirtschaftseinmaleins lernen wir, dass sie auf Kredit oder Schulden basiert, was Menschen zur Arbeit antreibt. In unserer Ökonomie ist Geld von Anfang an sich eine Schuld. Im Laufe der Zeit wächst Verschuldung als Teil der Wirtschaft exponentiell weiter. Wucherschulden treiben die Schaffung von Sozialsystemen und Einstellungen zum Tätigsein an, was die Psychologie von Arbeit prägt. Erziehung wurde auf das reduziert, was uns für Tätigkeit vorbereitet. Unsere Familien sind kaum mehr als Orte zur Aufrechterhaltung und Erzeugung von Arbeitskraft.
Das gewöhnt uns an normalisierte Stresslevel sowie die passive Akzeptanz des Status quo. Reichtum und Vielfalt des sozialen Lebens geraten ständig unter ökonomische und gesellschaftliche Drücke. Das schafft ein Ökosystem, das industriellen Bedürfnissen dient, aber nicht den menschlichen. In Schulen wird uns gelehrt, normal zu sein. Das stellt sicher, dass der Kreislauf fortbesteht.
Da Stresspegel steigen und die vielfältigen sozialen Erfahrungen, die das frühere Gemeinschaftsleben bietet, nicht mehr vorhanden sind, um sich zu erholen, ist Belastung zunehmend zu einer festen Erwartung an unser Leben geworden. Wir müssen wissen, dass chronischer Stress das hormonelle Verhalten verändert, Gehirnchemie und -architektur restrukturiert, Darmflora beeinträchtigt sowie das natürliche Schutzgewebe umbaut. Wahrscheinlich ist ein großer Anteil von Krankheiten wie Asthma, Morbus Crohn, Ekzemen und vielen weiteren darauf zurückzuführen. Dies erklärt, warum bei Angst und Gemütskrankheit die limbischen oder emotionalen Zentren des Gehirns verstärkt Verbindungen zum Hypothalamus und zur Hypophyse herstellen, die die hormonelle Aktivität zentral steuern.
In meiner klinischen Praxis habe ich mit Angst und Depression als natürlicher Reaktion des Körpers zu tun, der sich in einer Krise befindet und versucht, die Aktivität zu bremsen. Üblicherweise verändern sich diese Bedingungen innerhalb von sechs bis neun Monaten radikal, wenn sich Personen ihrer Lebensumstellung widmen. Ich verabreiche Medikamente zum Umbau der hormonellen Widerstandsfähigkeit. Ein ökonomisches und soziologisches Problem lässt sich nicht pharmazeutisch oder mehr Therapie lösen. Medikamentöse und therapeutische Lösungen werden helfen, mit unseren pathologischen, finanziellen und soziale Bedingungen fortzufahren. Da sich wirtschaftliche und soziale Probleme wahrscheinlich verschlimmern werden, werden wir zusätzliche Behandlung und Arzneimittel brauchen. Die Lösungen müssen aus den gleichen Gebieten kommen wie ihre Ursachen. Entgegen unserem Interesse werden psychische Schwierigkeiten von der Industrie als pharmazeutisch und therapeutisch definiert, was ihnen dauerhaft einträgliche Märkte verschafft.
Kontext ist alles
Ja, es gibt Kräuter, Medikamente und Therapien. Als Muslime müssen wir einen Schritt zurücktreten und den Zusammenhang zur Kenntnis nehmen. Wir laufen Gefahr, unsere Finger in die Ritzen eines undichten Dammes in der Hoffnung zu stecken, dass es eine katastrophale Flut aufhalten wird. Das wird es aber nicht!
Aus diesem Grund habe ich in meiner Forschung damit begonnen, den Umgang von Gemeinschaften mit Krankheiten in ihren eigenen Reihen zu untersuchen und darüber zu sprechen. Wir brauchen eine umfassendere und differenziertere Diskussion. Möge Allah uns helfen! Und wenn wir uns an Ihn wenden, wird Er es tun. „Allah ist der Schutzherr derjenigen, die glauben. Er bringt sie aus den Finsternissen heraus ins Licht.“ (Al-Baqara, Sure 2, 257)
Faszinierender und vielversprechender ist, dass wir, wenn wir anfangen, funktionierende Antworten für diese Probleme zu entwickeln, unseren breiteren Gesellschaften tiefgreifende Lösungen anbieten können. Ein Beispiel dafür ist die urbane landwirtschaftliche Revolution, die nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch der ehemaligen Automobilmetropole Detroit stattfand. Sie beendete die ungerechten Ernährungsverhältnisse, unter denen die innerstädtische Bevölkerung dort litt.
Um aus dem Song „So much things to say“ von Bob Marley and the Wailers zu zitieren: „Oh, wenn der Regen fällt, fällt er jetzt. Er fällt nicht auf das Hausdach eines Mannes. Merke dir das. Wenn der Regen fällt, fällt er nicht auf eines Mannes Hausdach.“