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Zum Jahreswechsel: Der Ausblick auf die Zukunft erfordert Mut

Foto: Sailko, vie Wikimedia Commons | Lizenz: CC BY 3.0

(iz). Im Jahr 1755 wurde Europa von einem Jahrhundertereignis erschüttert: das Erdbeben von Lissabon. Nach etwa vier Wochen hatten Berichte über den Tod von zehntausenden Menschen die Metropolen Hamburg und Berlin erreicht. Die Auswirkungen auf das, von der Aufklärung geprägte geistige Leben Europas waren erheblich. „Wie konnte Gott dies zulassen?“ Unter dem Eindruck der Zerstörungen beschäftigte das Theodizee-Problem die Gelehrten. Der zum Zeitpunkt des Ereignisses sechs Jahre alte Goethe verarbeitete das Erdbeben in seinen Erinnerungen „Dichtung und Wahrheit“: „Ja. Vielleicht hat der Dämon des Schreckens zu keiner Zeit so schnell und mächtig seine Schauer über die Erde verbreitet.“

Die Medienwelt des 18. Jahrhunderts wirkt aus heutiger Sicht idyllisch. Mit enormer Geschwindigkeit drängen sich heute negative Meldungen, die den Zustand der ökologischen Systeme betreffen, aus allen Erdteilen heran. Weltuntergangspropheten und Visionäre, die Science-Fiction-Lösungen anbieten, haben Konjunktur. Sicher ist: Der Mensch und sein technologischer Fortschritt haben die Verhältnisse unumkehrbar verwandelt. „Das Ökosystem schlägt zurück“, ist ein geläufiges Wort.

Der Wesenszug der modernen Technologie, die Natur immer mehr herauszufordern, beschreibt das Kernproblem des 21. Jahrhunderts. Zur Jahreswende sorgt uns nicht nur die, sich abzeichnende Klimakatastrophe, der dritte Weltkrieg, in Form einer atomaren Auseinandersetzung, ist in den kommenden Jahren eine durchaus denkbare Option. 

In diesem Kontext gilt der alte Aphorismus Nietzsches: „Auch der Mutigste von uns hat nur selten den Mut zu dem, was er eigentlich weiß.“ Die psychologischen Wirkungen, die der tägliche Blick in den Abgrund verursacht, zeigen sich in Depression und Erschöpfung. Wer sich nicht in das sogenannte Privatleben zurückzieht oder auf anderen Wegen die Augen verschließt, benötigt gute Nerven, den Ausblick in die Zukunft auszuhalten. „Hoffe auf das Beste und sei auf das Schlimmste vorbereitet“, riet mir einmal ein islamischer Gelehrter in Anbetracht der Wirrnisse unserer Zeit.

In das Negativszenario führt eine Analyse des Philosophen Thomas Fasbender unter der Überschrift „Das unheimliche Jahrhundert“ ein. Das Buch ist eine Diskussionsgrundlage. Aus Sicht des Autors verliert die europäische Welt an Bedeutung, ihr Wohlstandsversprechen ist in die Defensive geraten. Global setzen sich andere Wertmaßstäbe durch.

Den Techno-Optimismus, der den Glauben definiert, wonach Wissenschaft und Technologie die wesentlichen sozialen und Umweltprobleme unserer Zeit lösen, bietet der Philosoph ebenso wenig an. Sein Fazit ist ernüchternd: Der Klimawandel kommt, ob wir wollen nicht. Mindestens zwei Grad Erderwärmung ist in den nächsten Jahrzehnten garantiert, wenn wir fatalistisch oder passiv werden, ist sogar mehr möglich. Das Problem: Die Interessenlage auf dem Planeten ist zu unterschiedlich, um dieses Schicksal aufzuhalten. Die Idee der „Menschheit“, die unter den Maßstäben der Vernunft agiert, gehört für den Philosophen in das Reich der Phantasie.

Fasbender predigt keinen Fatalismus. Im Gegenteil: Jede Maßnahme gegen den Klimawandel ist für ihn geboten. Die Diagnose des Buches der Begleitumstände sich abzeichnender Veränderungen sind alarmierend: „Unsere Rationalität ist dem Unheimlichen nicht gewachsen“. Es kündigen sich radikal andere Verhältnisse an: Wohlstandsverlust, Kriege und große Wanderungsbewegungen. Das neue Jahrhundert droht zum Antipoden der bürgerlichen Ordnung zu werden. Die reale Lage wird nach der Einschätzung des Autors in der Gesellschaft eher verdrängt. „Wir haben das Heilige verbannt, wir werden auch das Unheilige verbannen, das Unheimliche“, stellt er fest. 

Der Klimawandel und die These der Politik „Wir schaffen das“, mit mehr Geld, mehr Schulden, mehr Technik ist aus dieser Sicht eine Illusion. Das Problem entzieht sich simplen Lösungen, denn „wir erleben in diesem Augenblick keine Weltrevolution, sondern eine geophysische Revolution“, wie es Ernst Jünger formulierte. Auf elementarer Ebene herausgefordert wird der Mensch um seine Humanität ringen. Fasbender fordert, einen Begriff zu reaktivieren, der „tief verschüttet unter dem Geröll des zynischen Zeitgeistes liegt“: Sittlichkeit. Es geht – so eine Pointe des Buches – um einen neuen Menschen, der zugleich Schöpfung ist und den Schöpfer vertritt. 

Zweifellos ist die Verbreitung von Hoffnung die entscheidende Intention aller Gläubigen. Dies schließt nicht aus, den Realitäten ins Auge zu sehen, die sich am Horizont abzeichnen. Dieser Realitätssinn führt zu einer Vertiefung des Glaubens. Religionen, die für sich Relevanz beanspruchen, sind mehr denn je gefordert, in diesem unheimlichen Jahrhundert Orientierung zu stiften. Von den Gelehrten und Theologen werden klare Positionierungen in der Frage des Klimawandels oder gegenüber den drohenden Gefahren, die sich aus dem Ukrainekrieg ergeben, erwartet.

Studiert man das Leben des Propheten, Friede sei mit ihm, begreift man schnell, dass die islamische Lebenspraxis nicht nur aus spiritueller Selbstoptimierung besteht. Die Perfektion des Charakters, der niveauvolle Umgang mit Anderen und die Etablierung von Moscheen und Marktplätzen, die Idee von Gerechtigkeit überhaupt, fügt den einzelnen Gläubigen in ein Gemeinwesen ein. Die Herausforderungen der Zukunft wird die Menschen zwingen, ihre Wertvorstellungen aktiv zu verteidigen. Die alte Weisheit, dass man nur gemeinsam stark und sicher ist, wird wieder in das kollektive Bewusstsein rücken.

* Thomas Fasbender, Das unheimliche Jahrhundert: Vor der Zeitenwende, Manuscriptum Verlagsbuchhandlung, 2022, 186 Seiten, ISBN-13 78-3948075491, Preis: EUR 26.– (gebundene Ausgabe)