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Zur Lage der Uiguren: „Nicht die Hoffnung verlieren“

Ausgabe 324

Uiguren
Foto: XinjiangPoliceFiles, Adrian Zenz

(iz). Seit Jahrzehnten verschlechtert sich die Lage der uigurischen und anderen türkisch-muslimischen Muslimen in China. Im Windschatten der Weltereignisse hat die Pekinger Führung dort ein repressives Überwachungsregime etabliert, das die Welt seit dem Tode Stalins kaum gesehen hat. Insbesondere seit der Machtübernahme 2014 durch Staats- und Parteichef Xi Jinping wurden sämtliche Maßnahmen der Repression, Überwachung und kulturellen Vernichtung radikalisiert.

Hierzu sprachen wir mit Haiyuer Kuerban. Er ist Vertreter des Weltkongresses der Uiguren, einer Vereinigung von Exiluiguren mit Sitz in München. Mit ihm sprachen wir über aktuelle Lage seines Volkes, über die Nutzung des Terrornarrativs durch die Pekinger Außenpolitik und über das Verhalten muslimischer Regierungen. Unser Interview wurde vor dem Datenleak der #XinjiangPoliceFiles geführt, erhält so aber noch erhöhte Relevanz.

Islamische Zeitung: Angesichts der aktuellen Weltlage ist die Situation der Uiguren in Ihrer Heimat hinter andere Themen zurückgetreten. Können Sie uns die Verhältnisse in den uigurischen Gebieten schildern?

Haiyuer Kuerban: Die jetzige, verheerende Unterdrückungspolitik begann 2014 mit dem Machtantritt von Xi Jinping. Die Politik gegen die uigurische und andere türkischstämmige Bevölkerungen hat seitdem einen neuen Charakter angenommen. So wurde spätestens seit 2016 eine neue Art der Repression implementiert. Im Rahmen dessen wurden über 1.400 Internierungslager errichtet, in denen mindestens 1,8 bis 3 Millionen Uiguren ohne jegliches Gerichtsverfahren eingesperrt sind. Dort werden die Menschen täglich einer Gehirnmanipulation unterzogen, gefoltert, aber auch sterilisiert und getötet. Kleine Kinder, deren Eltern inhaftiert worden sind, wurde das Sorgerecht entzogen und sie müssen in den sogenannten “Kinderlagern” unter staatlicher Obhut und ohne Eltern assimiliert werden. Hier ereignet sich ein schleichender Genozid.

Parallel zur Kampagne der massiven Verhaftungswellen, wurden auch Millionen Staatsbedienstete und Sicherheitskräfte mobilisiert, bei uigurischen Familien zu wohnen und ihren Lebensalltag zu durchleuchten. Zusätzlich wurden auf den Straßen sichtbare Sicherheits- und Überwachungsmaßnahmen wie etwa Checkpoints und Gesichtserkennung-Kameras alle hundert Meter aufgestellt, sodass die Region zu einem offenen Gefängnis umgewandelt wurde. 

Zwar hat die chinesische Regierung nach der enormen Kritik der internationalen Gemeinschaft den ehemaligen regionalen Parteisekretär Chen Quanguo, der die erbarmungslose Politik von Xi Jinping kompromisslos umgesetzt hatte, abgesetzt. Sein Nachfolger Ma Xingrui hat sie jedoch keinesfalls geändert, sondern institutionalisiert. Er setzt diese Form der Unterdrückung in voller Härte fort. So sehen wir einen drastischen Zuwachs von langen Haftstrafen seit 2019, aber auch die Transferierung von Lagerinsassen zu Zwangsarbeit. Nur ein Bruchteil der internierten Menschen wurden entlassen, müssen aber in den Wohngebieten unter strengster Überwachung und Auflagen leben.

Islamische Zeitung: Richtet sich die chinesische Repression ausschließlich gegen türkischstämmige Muslime oder auch gegen die anderen muslimischen Bevölkerungsteile in China?

Haiyuer Kuerban: Nun, man muss sehen, dass die Kommunistische Partei Chinas die alleinige Herrschaftsgewalt innehat. Außerhalb dessen akzeptiert sie keine andere Kontrolle und keine andere politischen Stimme. In dieser Perspektive richtet sich Unterdrückung gegen alle, die in China leben. Aber: Der ohnehin gegebene Ausschluss von politischer Teilhabe, Machtverteilung und wirtschaftlicher Entwicklung trifft jene Bevölkerungsgruppen, die nicht der mehrheitlichen Han-Bevölkerung (über 90 Prozent) angehören, doppelt hart. Das liegt an ihrem geringen Bevölkerungsanteil und daran, dass sie komplett andere kulturelle Gewohnheiten haben, andere Sprachen sprechen sowie unterschiedliche Religionen und Wertvorstellungen praktizieren. 

Die türkischstämmigen, muslimischen Bevölkerungen haben schon lange vor der kommunistischen Machtübernahme in diesen Gebieten mit den chinesischen Dynastien um Macht und Einfluss gestritten. Sie wurden lange als zentrale Bedrohung angesehen. Wenn man weiter in die mehr als 1000-jährige Geschichte zurückblickt, wird ersichtlich, dass die türkischstämmige Bevölkerungsgruppe – darunter Uiguren, Kasachen, Kirgisen, aber auch andere – einst sehr einflussreich waren. Und dass sie häufig Konflikte oder Konfrontationen mit dem chinesischen Reich führten. Diese Streitigkeiten oder gar Kriege haben auf beiden Seiten tiefe Wunden im kollektiven Gedächtnis hinterlassen. Daher galten die türkischstämmigen Muslime für die Han-Mehrheitsbevölkerung per se als Bedrohung. Schon lange bestand das Ziel, sie zu besiegen und diese „Problematik“ endgültig zu lösen. Diese Denkweise wurde von der kommunistischen Herrschaft einfach übernommen. In dieser Hinsicht lässt sich die Repression einerseits in der kommunistischen Ideologie erkennen, die keine andere Teilhabe an der Macht zulässt. Und andererseits setzt sie die religiösen und ethnischen Differenzen fort.

Islamische Zeitung: Ein interessiertes Publikum hat durch Medien sicherlich die Repression Ihres Volkes und anderer Muslime in Ihrer Heimat mitbekommen. Weniger berichtet wird die Auslöschung des kulturellen Erbes sowie die allgegenwärtige Überwachung durch den Staat. Wie wirken sich Repression, kulturelle Vernichtung und Überwachungsstaat auf das Leben der Uiguren aus?

Haiyuer Kuerban: Das ist eine gute Frage. Über die Binnenperspektive der kommunistischen Machthaber gibt es kaum Einsichten, weil dort komplette Intransparenz herrscht. Aber wir können Einiges aus ihrer Umsetzung ableiten. Sie wollen in China ein einheitliches System beibehalten; nicht nur im politischen Sinne, sondern in Ideologie und Kultur. Ihre Ideologie betrachtet kulturelle Vielfalt als potenzielle Quelle von Konflikten. Das heißt beispielsweise, wenn Leute andere Sprachen sprechen, haben sie andere Wertvorstellungen. Andere Wertvorstellungen könnten zu potenziellen Konflikten führen, weil Differenzen zu den Ansichten der Partei entstehen könnten. Aus dieser Motivation heraus betreibt die Kommunistische Partei ihre Politik nicht nur in der Heimat der muslimischen Uiguren und anderer türkischstämmiger Muslime, sondern auch in weiteren Landesteilen wie Tibet eine massive und systematische Assimilierungspolitik. Das betrifft Menschen, welche sogenannte Minderheitensprachen wie Uigurisch, Kasachisch, Kirgisisch und andere sprechen. Sie werden Schritt für Schritt aus dem Alltagsgebrauch entfernt. 

Islamische Zeitung: Parallel dazu gibt es seit Jahrzehnten auch eine gezielte Ansiedlung rein chinesischer Bevölkerungsteile in Ihrer Heimat… 

Haiyuer Kuerban: Ganz genau. Das ist ein Teil der Kolonialpolitik der Kommunistischen Partei. Zuvor war der han-chinesische Bevölkerungsanteil in Ostturkestan sehr gering. Zu Beginn 1949 – dem Jahr, ab dem Ostturkestan kolonisiert wurde – lag er gerade mal bei drei Prozent. Dank der massiven, staatlich geförderten Einwanderungspolitik sind Millionen chinesische Menschen nach Ostturkestan gekommen, wo sie politisch, wirtschaftlich und sozial bevorzugt werden. So kann sich die Regierung auf diese Bevölkerungsgruppe stützen und das Land für lange Zeit kontrollieren. Das kann als Beleg dafür gelten, dass die Partei die Region als fremdes Gebiet betrachtete, die ohne Binnenbesiedlung nicht unter Kontrolle gebracht werden konnte. Die Partei, und das Militär, rief dazu auf, sich dort anzusiedeln. Später geschah das im Rahmen von gezielter wirtschaftlicher und politischer Förderung. Freiwillige chinesische Siedler wurden mit großen Anreizen angelockt. Sie erhielten kostenlose Grundstücke sowie Wohnungen und konnten vergünstigte staatliche Förderungen in Anspruch nehmen. Nicht zuletzt erhielten sie die einflussreichsten Positionen in Politik und den Staatsbetrieben.

Islamische Zeitung: Seit Beginn des „globalen Krieges gegen den Terror“ beruft sich Peking auf Terrorabwehr als Rechtfertigung der Repression von uigurischen Muslimen. Welche Funktion hat das Terrornarrativ im In- und Ausland für China?

Haiyuer Kuerban: Das ist eine gute Frage. Die chinesische Regierung hat von dem sogenannten Krieg gegen den Terror sogar am meisten profitiert. Vor der schrecklichen Attacke vom 11. September hat man kein einziges Wort über Terror oder ähnliches verloren. Das Land und seine Politik haben diese Begriffe niemals verwendet beziehungsweise es wurden auch nirgendwo seine potenziellen Gefahren erwähnt. Aber plötzlich, nachdem Amerika diesen Begriff nutzte, hat die chinesische Regierung fast über Nacht ihre Narrative drastisch verändert, wonach man jetzt auch Opfer des Terrorismus sei, ohne dafür Belege zu liefern. Sie hat dann unter dem Deckmantel dieses angeblichen Antiterrorkampfes ihre Unterdrückung der muslimischen Uiguren drastisch verstärkt. Gerade in der Zeit, in der die Weltgemeinschaft alles Islamische im Rahmen des Terrorverdachts interpretierte, wurde fast alles durchgewunken, was Peking unternommen hat. In dieser Zeit fand eine Eskalation der staatlichen Barbarei statt. Für die Regierung war das eine „goldene Ära“ der Unterdrückung.

Islamische Zeitung: Hier geht es ja nicht nur um Auslandspropaganda oder Rechtfertigung, sondern das hat auch ganz konkrete Auswirkungen. Seit Jahren hört man von der Abschiebung von Exil-Uiguren aus muslimischen Ländern wie Ägypten, Pakistan oder Saudi-Arabien… 

Haiyuer Kuerban: Ja, es ist eine schreckliche Entwicklung, dass gerade die Bruderländer der Uiguren, insbesondere die zentralasiatischen Regierungen, in der Vergangenheit die chinesische Politik massiv unterstützten. Sie haben in ihren Gebieten die uigurischen Exilbewegungen verboten und verfolgt sowie Schutzsuchende nach China in den sicheren Tod oder die Unterdrückung deportiert. Als besonderes Beispiel dafür wäre Pakistan zu nennen. Dieses muslimische Land, das für die Rechte der Muslime in aller Welt einzustehen vermag, hat in der Uigurenfrage eine ganz andere Sichtweise und unterhält die wichtigste regionale Partnerschaft mit China. Weltweit hat die chinesische Regierung, wenn es um die Verfolgung von schutzsuchenden Uiguren geht, das Narrativ von angeblichen Terroristen schamlos ausgenutzt. Konkrete Belege dafür konnte sie nie vorweisen. Geflohene in Indonesien, Malaysia, aber auch in Ägypten und Saudi-Arabien sowie anderen muslimischen Brüderländern wurden in die härteste Verfolgung nach China abgeschoben. 

Islamische Zeitung: In diesem Kontext gab es vor Kurzem ein Treffen der OIC-Außenminister in Islamabad unter Teilnahme des chinesischen Chefdiplomaten Wang Yi. Während die OIC-Staaten wie zu erwarten von Palästina und Kaschmir in ihrer Abschlusserklärung sprachen, war von der Lage der Uiguren nichts zu hören. Manche Stimmen sprachen hierbei von einer Kollaboration. Teilen Sie diese Ansicht?

Haiyuer Kuerban: Ja, das ist offensichtlich so. Das ist Komplizenschaft der muslimischen Machthaber. Wir müssen unterscheiden, dass sie die muslimische Welt, Gefühle und politischen Einstellungen der breiten muslimischen Bevölkerung überhaupt nicht repräsentieren, weil sie selber Autokraten oder Diktatoren sind. Diese sogenannten muslimischen Vertreter kamen hier mit einem fanatischen Gegner des Islam zusammen, der allein in Ostturkestan zwischen 2016 und 2020 – anhand von Satellitenbildern und Regierungsdokumenten belegt – über 16.000 muslimische Gotteshäuser teilweise vernichtet hat. Dort werden religiöse Symbole und Verhaltensweisen wie das Kopftuch unter drakonische Strafen gestellt. 

Wir müssen hier unbedingt erwähnen, dass Berichte zur verheerenden Lage der Uiguren von Amnesty International, von Human Rights Watch sowie vielen anderen dokumentierten, wie diese Menschen in die Internierungslager gekommen sind. In diesen Reports wird über Menschen berichtet, die zu Hause den Koran oder andere religiöse Literatur hatten, die mit Bart oder Kopftuch offensichtlich als religiös zu erkennen waren oder die muslimische Länder wie Malaysia, die Türkei oder Ägypten bereisten. Noch schlimmer trifft es diejenigen, die die Pilgerfahrt absolviert haben, oder die plötzlich nicht mehr rauchen oder trinken. Solche Menschen, die aus Sicht der Kommunistischen Partei also religiöse Wertvorstellungen haben können, werden in diese schrecklichen Orte gesperrt. 

Dort müssen sie Gott abschwören und vor jedem Essen sagen: „Dieses Essen wurde mir nicht von Gott gegeben, sondern von der Kommunistischen Partei. Lang lebe die Kommunistische Partei! Ich bin Chinese. Ich verweigere Religion. Ich glaube an nichts anderes als Kommunismus.“ Die wenigen Augenzeugen dieser schrecklichen Verbrechen berichten von diesem Vorgehen. Auch dass die chinesische Regierung offensichtlich massenweise religiöse Literatur, inklusive des Heiligen Korans, an öffentlichen Plätzen sammelt und verbrennt. Und dass sie ausgerechnet während des heiligen Fastenmonats die Leute zu einem Trinkwettbewerb aufgerufen hat. Dadurch sollen sie in ihrer Stadt unter Beweis stellen, dass sie sich vom Islam insgesamt fernhalten.

Chinas Präsident Xi Jinping hat in deutlichen Worten gesagt, dass der Islam ein Krebsgeschwür sei. Es ist zynisch von diesen angeblichen Vertretern der muslimischen Welt, dass die chinesische Unterdrückung auf dieser eigentlich wichtigen Plattform für die muslimischen Gemeinschaft, die ja auch der Solidarität und dem guten Willen dienen soll, nicht erwähnt wird.

Islamische Zeitung: Was können Muslime und andere in Deutschland tun, die mit den Uiguren solidarisch sein wollen?

Haiyuer Kuerban: Danke für diese Frage. Rational betrachtet sieht die aktuelle Lage ziemlich aussichtslos aus. Aber man darf nicht vergessen, dass wir in einer dynamischen Welt leben und dass das Unrecht nicht für immer existiert. Man hat zum Beispiel vor gut drei Monaten nicht daran geglaubt, dass Russland in die Ukraine einmarschieren und schreckliche Dinge gegen ihre Bevölkerung begehen würde. Niemand hätte gedacht, dass kommunistische Diktatoren – in Ostdeutschland oder der Sowjetunion – einmal gestürzt werden.

Zuerst dürfen wir unseren Glauben nicht verlieren, dass das Unrecht der Kommunistischen Partei in Ostturkestan und gegenüber der muslimischen Bevölkerung wie Uiguren und andere türkischstämmigen Muslimen nicht für immer haltbar ist. Es ist sehr wichtig, dass Unterstützerinnen und Unterstützer nicht die Hoffnung verlieren. Auf der anderen Seite leben wir hier in einem Rechtsstaat. Das gibt uns eine enorme Macht, die wir erkennen und nutzen müssen. Durch soziale Mobilisierung und Widerstand, im Rahmen des Rechts, können Menschen ihre Politiker mobilisieren, das Richtige zu tun und die hiesigen Grundwerte verteidigen. Das können sie leisten, indem sie ihr Möglichstes tun, um die massive Unterdrückung und den laufenden Genozid in China zu stoppen.

Auch Ihre Leserinnen und Leser, die die Uiguren unterstützen wollen, können die Politiker ihres Wahlkreises ansprechen, und motivieren, das Thema in die politische Diskussion einzubringen; also die öffentliche Aufmerksamkeit zu erhöhen. Aber auch, um konkrete politische Maßnahmen einzuleiten. Es gibt weitere Möglichkeiten, indem sie die Öffentlichkeitsarbeit der uigurischen Organisationen – in Deutschland und anderswo – mit der Teilnahme an Kundgebungen oder mit eigenen Kompetenzen unterstützen. Es muss nicht unbedingt finanzielle Unterstützung sein, die allerdings auch sehr wichtig ist. Öffentlichkeitsarbeit unter dem Dach des Uigurischen Weltkongresses braucht enorme Ressourcen, auch finanzielle. Wir sind sehr dankbar, wenn wir auch in dieser Hinsicht unterstützt werden. 

Islamische Zeitung: Geehrter Herr Haiyuer Kuerban, wir bedanken uns für das Gespräch.