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Zwei Seiten einer ungesunden Medaille

Ausgabe 281

Foto: Pxhere.com | Lizenz: CC0 Public Domain

(IPS). Nach Experten braucht es global einen Wandel in der Art und Weise, wie wir essen und über Lebensmittel nachdenken. Das ist drängender denn je, wollen wir weitere, ökologische Verschlechterung und eine noch größere Gesundheitsschädigung vermeiden. Am Rande der UN-Generalversammlung kamen Fachleute aus der akademischen Welt, Zivilgesellschaft sowie aus verschiedenen Agenturen der Vereinten Nationen hierzu zusammen.
Ihr Augenmerk galt den wichtigen Themen der Sicherheit unserer Lebensmittelversorgung sowie der Mangelernährung. Außerdem ging es um mögliche Lösungen zur Neugestaltung bisheriger Versorgungssysteme. „Es ist erstaunlich, dass wir trotz aller Fortschritte bei Wissenschaft und Technologie immer noch eine große Lücke zwischen jenen haben, die zu viel essen, und solchen, die nicht genug Nahrung haben“, sagte Luca Di Leo. Er leitet die Öffentlichkeitsarbeit beim Barilla-Zentrum für Lebensmittel und Ernährung.
Nach Angaben des Berichts zum weltweiten Zustand der Lebensmittelsicherheit und Ernährung im Jahre 2018 ist die Anzahl hungriger Menschen 2017 auf über 820 Millionen (2016: ca. 804 Millionen) angestiegen. Das sind Werte, wie wir sie seit beinahe einem Jahrzehnt nicht mehr gesehen haben. Es ist vielleicht paradox: Im gleichen Zeitraum sind die Raten bei Übergewicht ebenfalls gestiegen (von 11,7 Prozent im Jahre 2012 auf 13,2 Prozent für 2017). Das heißt, mehr als jeder achte Erwachsene beziehungsweise über 670 Millionen Menschen sind weltweit übergewichtig.
Am häufigsten ist Übergewicht (inkl. der Raten) bei Erwachsenen in Nordamerika. Allerdings zeigen die Trends in Afrika und Asien ebenfalls nach oben. Teilnehmer des Internationalen Forums für Lebensmittel und Ernährung betonten die Notwendigkeit, mit beiden Formen von Mangelernährung umzugehen. Jeweils sei der Mangel an gesunder Nahrung der Schuldige: „Es liegt nicht nur daran, was in den Lebensmitteln ist. Es liegt auch daran, wie über sie geredet wird… es gibt mehr als einen Weg zum schlechten Essen“, sagt David Katz von der Universität Yale.
Allerdings gebe es in den Augen vieler Fachleute und Aktivisten einen Mangel an einem einheitlichen und faktischen Konsens darüber, was eine gesunde Ernährung und ein nachhaltiges Lebensmittelsystem ausmacht. Trotz der berüchtigten und schockierenden Erkenntnisse aus dem Dokumentarfilm „Supersize Me“ (2004) sind die Verbrauchszahlen von ungesunden, industriell verarbeiteten Lebensmitteln und Zucker sogar noch weiter angestiegen. Nach Angaben des Nachhaltigkeitsindex des Barilla-Zentrums für Lebensmittel und Ernährung (FSI) 2017 hatten die Vereinigten Staaten 2017 den höchsten Zuckerverbrauch unter 34 ausgesuchten Ländern.
Der durchschnittliche US-Bürger verbraucht mehr als 126 Gramm Zucker pro Tag. Das ist das Doppelte der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlenen Tagesdosis. Dieser Konsum führt nicht nur zu gesteigerten Raten beim Übergewicht, sondern trägt auch zu einem höheren Niveau von Herzkreislauferkrankungen sowie Diabetes bei. Der FSI besagt ebenfalls, dass der US-Verbrauch von Fleisch und gesättigten Fettsäuren unter den höchsten der Welt ist. Das führt zu ungesunden Ernährungsweisen und sogar zum Klimawandel.
Nach Angaben der UN-Universität tragen Emissionen der Massentierhaltung zu beinahe 15 Prozent der globalen Produktion von Treibhausgasen bei. Die Produktion von Rindfleisch und Milchprodukten macht alleine 65 Prozent dieser Emissionen aus. Tatsächlich sind Unternehmen dieses Wirtschaftszweiges momentan dabei, zu den größten Verursachern der Klimakrise zu werden. Damit überholen sie die Industrie für fossile Brennstoffe.
Nach Ansicht von Beobachtern und Experten seien gesunde und nachhaltige Ernährungsweisen in unserer Reichweite. Nachhaltige Möglichkeiten sähen im Vergleich zu früher immer besser aus und würden erheblich besser schmecken. „Sobald die Leute den Geschmack besserer Lösungen bekommen, verlangen sie diese nicht nur, sondern fordern auch eine bessere Zukunft. Die kommen zusammen, um sie möglich zu machen“, meinte eine Teilnehmerin des Treffens.
In einigen afrikanischen Ländern ist der Fall anders gelagert. Eigentlich gebe es ausreichend Essen. Es sei aber die Art der verfügbaren Nahrung, die hier entscheidend sei. In Malawi beispielsweise, wo Familien vermehrten Zugang zu Maismehl hätten, seien beinahe die Hälfte der Kinder mangelernährt.
Der fehlende Zugang zu gesunder Nahrung und seine Folgen können auch am anderen Ende der Wertschöpfungskette im Lebensmittelgewerbe gesehen werden: den Produzenten. In Afrika stellen Frauen beinahe 60 Prozent der landwirtschaftlichen Arbeitskraft. Und doch haben sie immer noch wenig Zugang zu hochwertigen Saaten, Düngern und mechanischen Werkzeugen. Gleichzeitig betreuen sie häufig die Haushalte, sorgen sich um die Kinder und bereiten die Mahlzeiten zu. Solch ungerechte ­Geschlechterverhältnisse tragen laut ­Erkenntnissen zu schlechterer Ernährung der Haushalte bei. Eine Folge davon sei beispielsweise behindertes Wachstum unter Kindern. Teilnehmer des Forums unterstrichen die Notwendigkeit zur Ermächtigung von Bäuerinnen. Ungleichheit in der Landwirtschaft müsse angesprochen werden, um die Lebensmittel- und Ernährungssicherheit anzugehen. „Das Gegenteil von Hunger ist Macht“, sagt Raj Patel von der Universität Texas.
Das Ernährungs- und Landwirtschaftssystem zu reparieren, ist keine leichte Aufgabe, aber sie müsse bewältigt werden, so die Teilnehmer. „Wir kennen die Probleme. Wir haben auch die potenziellen Lösungen ausgemacht … und die wichtigste Lösung liegt in jedem von uns“, sagte Di Leo gegenüber IPS. Eine der wichtigsten Lösungen sei die Bildung sowie die Befähigung der Menschen, Akteure der Veränderung zu werden. Es werde dann eine gesunde Lebensmittelproduktion geben, wenn die Verbraucher nahrhaftes Essen einfordern würden. „Und gesunde Ernährung gibt es dann, wenn die Konsumenten die passende ­Erziehung und Informationen haben“, meint Di Leo.