
Ende 2021 hofften viele Menschen, dass mit dem sich abzeichnenden Pandemie-Ende eine Rückkehr zur Normalität kommen werde. Trotz dieser Hoffnungen haben Krieg gegen die Ukraine, folgende Fluchtbewegungen und drastischer Anstieg von Energiepreisen sowie grassierende Inflation das letzte Jahr zu einem der multiplen Krisen gemacht.
(iz). Die seit zwei Jahrzehnten virulenten Islamdebatten traten ins zweite Glied der öffentlichen Debatte(n). Schon alleine deshalb, weil Deutschland dank des hybriden Krieges Russlands, Chinas wachsender Macht und der steigenden Gefahr ressentimentsgeladener Milieus wie der Reichsbürger seinen Blick schärfen musste. Trotzdem blieben sie bestehen und die muslimische(n) Community(s) standen vor alten wie neuen Chancen und Herausforderungen.
Januar: Nach der Schändung von muslimischen Gräbern in Iserlohn will die NRW-Landesregierung anti-islamische Straftaten besser erfassen. Jules El-Khatib, zum Zeitpunkt nordrhein-westfälischer Landessprecher der LINKEN, hielt den Beschluss für nicht ausreichend. Am 23. Januar schloss der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) mit der Deutschen Muslimischen Gemeinschaft (DMG) eines seiner Gründungsmitglieder aus. Ebenfalls am 23. trafen Luftgewehrkugeln die Fassaden eines islamischen Kulturzentrums in Halle. Verletzt wurde niemand, doch es war nicht der erste Fall dieser Art.
Februar: Seit einiger Zeit geistert das fragwürdige Konzept der „konfrontativen Religionsausübung“ an Berliner Schulen durch die Medien. Nachdem Pläne zur Schaffung einer Fachstelle angekündigt wurden, kam Widerspruch auf. Nach einer Stellungnahme von über 130 Fachleuten und Organisationen aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft haben sich der Rat Berliner Imame und das Islamforum Berlin gegen das „Pilotprojekt“ gewandt. Vier Monate nach Start eines Modellprojekts in Köln zu Muezzinrufen beantragten zwei Moscheegemeinden in der Domstadt den traditionellen Gebetsruf. Der frühere Göttinger DİTİB-Vorsitzende Keskin ist wegen Volksverhetzung und Billigung von Straftaten verurteilt worden. Am 19. Februar gedachte die Zivilgesellschaft den Opfern der rassistischen Morde von Hanau. „Schutz vor antimuslimischer Hetze und Gewalt ist eine Aufgabe der inneren Sicherheit und deshalb bekräftigen wir an dieser Stelle einmal mehr unsere Forderung nach einem Beauftragten gegen Muslimfeindlichkeit“, erklärte der Zentralrat der Muslime. Hierzu kündigte Innenministerin Faeser (SPD) einen „Aktionsplan gegen Rechtsextremismus“ an. An der Universität Münster begann das neue Programm „Islam in der Sozialarbeit“. Zeitgleich kündigte die Schura Niedersachsen die Gründung des „Zentrums für Islamische Seelsorge und soziale Arbeit in Niedersachsen“ (ZISS e.V.) an. Wie im Februar berichtet wurde, soll analog zum „House of one“ ab 2023 ein „Drei-Religionen-Kita-Haus“ entstehen. Es soll mit einer jüdischen, einer christlichen und einer muslimischen Kita unter einem Dach einen Austausch „auf Augenhöhe“ ermöglichen.
März: Wie Anfang März bekannt wurde, darf der Verfassungsschutz die AfD als „Verdachtsfall“ beobachten. Das entschied das Verwaltungsgericht Köln in einer mündlichen Verhandlung. Der russische Angriff auf die Ukraine führte dazu, dass Millionen ins westliche Ausland flohen. Muslimische Verbände riefen Mitgliedsgemeinden wie schon 2015 und 2016 zur Solidarität auf. Am 10. März gab die Bundesregierung einen Rückgang antimuslimischer Straftaten bekannt. Angesichts der Dunkelziffern forderten Muslime weiterhin, genau hinzuschauen. Der Rückgang sei unter anderem auf die Corona-Beschränkungen im öffentlichen Raum zurückzuführen. Ende März gewann die Neuköllner Begegnungsstätte e.V. einen Prozess gegen die Berliner Staatsanwaltschaft. Sie wollte ein Verfahren wegen Coronahilfen anstreben. Am 22. März warnte der Zentralrat der Muslime vor den Folgen des demografischen Wandels für Moscheen. Das Thema schlage „voll durch“, sagte der Vorsitzende Mazyek. Wie das Netzwerk gegen Diskriminierung und Islamfeindlichkeit von Inssan e.V. am 25. März bekanntgab, ist „antimuslimischer Rassismus“ in Berlin weiterhin hoch. Die Berliner Anlaufstelle für Diskriminierungsschutz an Berliner Schulen (ADAS) veröffentlichte eine Erhebung über Diskriminierungserfahrung muslimischer SchülerInnen.
April: Seit 2005 erfasst das Statistische Bundesamt den „Migrationshintergrund“. Er ist eine wichtige Kategorie in Statistik und Forschung. Seit Jahren mehrt sich die Kritik daran. Im April berichte der „Mediendienst Integration“ über einen Neuvorschlag der Fachkommission Integrationsfähigkeit. Die schlug vor, ihn durch „Eingewanderte und ihre Nachkommen“ zu ersetzen. Das Bundesamt führt nun diese neue Kategorie ein. Viele junge MuslimInnen wollen laut einer Studie nicht zuerst als „migrantisch“ definiert werden. Die Befragten fühlten sich hier zu Hause.
Mai: Soweit An- und Übergriffe auf Moscheegemeinschaften betroffen sind, hat der Verein FAIR International e.V. im Rahmen seines Projektes #brandeilig mit dem ersten Jahresbericht (für 2018) eine wichtige Einführung in das Phänomen und seine Aspekte vorgelegt. Neben der statistischen Aufarbeitung erfasster Vorfälle erhält man eine Erklärung des Phänomens sowie verschiedene Aspekte wie Ideologie der Täter, Reaktionen von Staat und Behörden sowie angemessene Sicherheitsmaßnahmen. Mitte Mai stellte der DİTİB-Jugendverband Bund der Muslimischen Jugend (BDMJ) eine Jugendstudie vor. In der Studie wurden Einstellungen junger, ehrenamtlich aktiver MuslimInnen zu lebensweltlichen und gesellschaftlichen Fragen behandelt.
Juni: Die Muslimische Jugend in Deutschland e.V. setzte sich vor dem Finanzgericht Berlin-Brandenburg gegen die Aberkennung ihrer Gemeinnützigkeit durch. Zuvor wurde ihr diese für die Jahre 2007 bis 2017 nach einer Verdachtsberichterstattung von vier Verfassungsschutzämtern entzogen. „Das Urteil ist eine wichtige Klarstellung darüber, dass das zivilgesellschaftliche Engagement der MJD für eine deutsch-muslimische Identität authentisch ist und zu Unrecht behindert wurde“, erklärte der Verein. Am 8. Juni wurde das Berliner Institut für Islamische Theologie (BIT) der Humboldt Universität feierlich eröffnet. Erstmals wurden bekenntnisgebundene Islamstudien an einer Hochschule der Hauptstadt verankert. Vom 9. bis zum 12. Juni feierte die Kölner Zentralmoschee mit einem „Tulpenfestival“ ihr fünfjähriges Bestehen. Nach Ende des Fastenmonats zog das Projekt NourEnergy e.V. eine positive Bilanz einer Kampagne „Grünes Fastenbrechen 2022“. Es blicke auf einen erfolgreichen Verlauf zurück. Dabei ging es für teilnehmende Gemeinschaften in Deutschland, der Schweiz, Österreich und den Niederlanden um eine substanzielle Vermeidung von Ressourcenverbrauch und Energie.
Juli: Am 1. Juli gründete die Schura Hamburg eine Meldestelle für Muslimfeindlichkeit. „Als islamische Religionsgemeinschaft beobachten wir mit Sorge, dass Antimuslimischem Rassismus innerhalb der Gesellschaft, der medialen Landschaft und der Politik wenig bis gar keine Beachtung geschenkt wird“, sagte Co-Vorsitzende Özlem Nas. Der Besuch des ägyptischen Präsidenten und Putschgenerals Abd Al Fattah Al Sisi am 18. Juli in Berlin wurde von Protesten durch Menschenrechtsorganisationen überschattet. Er hielt sich in der deutschen Hauptstadt auf, um die Zusammenarbeit mit Deutschland – vorrangig auf dem Gebiet der Energieversorgung und Investition – zu intensivieren.
August: Diskriminierung sei nach jüngsten offiziellen Daten weiterhin weit verbreitet, erklärte Diskriminierungsbeauftragte Ataman bei einer Vorstellung der Zahlen für 2021. So wurden der Antidiskriminierungsstelle des Bundes im vergangenen Jahr insgesamt 5.617 Fälle gemeldet. Am 12. August wurde der bei einem umstrittenen Polizeieinsatz erschossene jugendliche Mohammed D. beerdigt. Der Einsatz hatte bundesweit eine Debatte über tödliche Gewaltanwendung durch die Polizei angeheizt. Zur Jahresmitte sind explodierende Energiepreise längst bei Deutschlands Moscheegemeinschaften angekommen. Der Wirtschaftsingenieur Tanju Doğanay rechnete mit Preisanstiegen von bis zu 600 Prozent im Falle von mit Gas betriebenen Anlagen. Spätestens jetzt sei es an der Zeit, über „langfristige Strategien im Gebäudemanagement“ nachzudenken. Mitte August kündigte der Moscheeverband IGMG an, prüfen zu wollen, welche Maßnahmen zur Senkung des Energieverbrauchs in den Mitgliedseinrichtungen führen könnten. Eine entsprechende Kommission solle hierzu Empfehlungen und Richtlinien entwickeln. Am 30. August gab die DİTİB-Pressestelle den Rücktritt des bisherigen Vorsitzenden, Kazım Türkmen, bekannt.
September: Immer mehr Menschen leben in Armut. Bei den Tafeln wird ihre schwierige finanzielle Lage dramatisch sichtbar: Die Zahl der KundInnen habe sich aufgrund von Inflation, Pandemie und Kriegsfolgen seit Jahresbeginn um etwa die Hälfte erhöht. Als Reaktion auf den Terror von Hanau richtete der Berliner Senat die Expert*innenkommission antimuslimischer Rassismus ein. Planmäßig löste sich diese am 1. September auf und legte ihre Handlungsempfehlungen vor. Wie der „Sachsen-Monitor“ feststellte, sind Vorurteile gegenüber MuslimInnen im Freistaat weiterhin hoch. Ressentiments und menschenfeindliche Haltungen seien insbesondere stark gegenüber Langzeitarbeitslosen, Ausländern, MuslimInnen sowie Sinti und Roma. Der Unabhängige Expertenkreis Muslimfeindlichkeit (UEM) der Bundesregierung sieht viel latente Diskriminierung. Im Sommer 2023 soll er seinen Abschlussbericht vorlegen. Am 18. September wählte der ZMD auf seiner Vollversammlung einen neuen Vorstand. Der bisherige Vorsitzende Aiman Mazyek wurde im Amt bestätigt, ebenso sein Stellvertreter Abdassamad El Yazidi.
Oktober: Der diesjährige Tag der Offenen Moschee (TOM) war der Ressourcenfrage und dem Einsparen von Energie gewidmet. Die Veranstalter verwiesen darauf, dass die Verpflichtung für ein klimaneutrales und nachhaltiges Verhalten nicht nur beim Einzelnen liege. Gefordert sei ebenso die Gemeinschaft. Rund 3.000 Menschen sind am 14. Oktober zum ersten öffentlichen Gebetsruf an der DİTİB-Zentralmoschee in Köln gekommen. Die Stimmung war andächtig und freudig. Schätzungsweise 3.000 Gäste kamen zur Premiere. Ende Oktober verstarb Mevlüde Genç im Alter von 79 Jahren. Sie hatte bei dem rechtsextremistischen Brandanschlag in Solingen vor fast 30 Jahren zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte verloren. Mevlüde Genç rief schon kurz nach dem Attentat zu Versöhnung und einem friedlichen Miteinander auf. Eigentlich sollten die hessischen NSU-Akten 30 Jahre unter Verschluss bleiben. Nun wurden sie am 28. Oktober vom Team um den Moderator Jan Böhmermann auf der Plattform „Frag den Staat“ veröffentlicht. Die DİTİB hat am 28. Oktober den ersten 25 AbsolventInnen ihrer Ausbildung zum Imam/Religionsbeauftragten feierlich ihre Lehrerlaubnis (Idschaza) verliehen.
November: Die CLAIM Allianz feierte in diesem Jahr ihr fünfjähriges Bestehen. Das Bündnis hat sich dem Kampf des antimuslimischen Rassismus verschrieben. Am 14. November unterzeichnete der ZMD eine Kooperationseinigung mit der Internationalen Islamischen Fiqh-Akademie der OIC. Am 15. des Monats zog die Hilfsorganisation Islamic Relief Deutschland eine positive Bilanz ihrer Aktion „Speisen für Waisen“. Dabei wurden ca. 230.000 Euro für Waisenkinder gesammelt. Mitte des Monats wies der Bundesverband Deutscher Bestatter darauf hin, dass in beinahe allen Bundesländern sarglose Bestattung möglich sei. Nachgefragt sei sie mehrheitlich von größeren muslimischen Gemeinschaften in Ballungsräumen. Am 20. November erklärte das umstrittene Islamische Zentrum Hamburg (IZH) seinen Rücktritt aus der Schura Hamburg. Aus Reaktion zogen Anfang des Folgemonats fünf schiitische Vereine nach. Die Kritik an seine Iranbindungen sei „eine gravierende Diffamierung des wichtigsten europäischen Gotteshauses der Schiiten“.
Dezember: Ein neues Buch behandelt die Beiträge von muslimischen und jüdischen Gemeinschaften in der Hilfe für Geflüchtete und Beiträge zu ihrer Integration. Demnach hätten sich beinahe die Hälfte der Muslime daran beteiligt. Am 7. Dezember begann die neue Runde der Deutschen Islam Konferenz unter Leitung von Bundesinnenministerin Nancy Faeser. Im Zentrum standen Imamausbildung und Islamophobie. Islamratsvorsitzender Burhan Kesici begrüßte die DIK prinzipiell, sah aber die Notwendigkeit eines „neuen Formats“.