24 Stunden Berlin

Ausgabe 332

24 Stunden Tagesablauf Berlin maria
Foto: imago | Joachim Schulz

In dieser Stadt werden 24 Stunden ganze vier Millionen Mal gelebt. Betrachtet durch all diese verschiedenen Augen ergibt das vier Millionen Realitäten, Millionen gleiche und unterschiedliche Orte, Erlebnisse und Emotionen. Von Sebastian Langer

(iz). Hier werden exemplarisch vierundzwanzig dieser Stunden durch ein muslimisches Augenpaar beschrieben.

Kurz nach Feierabend am Donnerstag beginnt der zeitlich verschobene Tag um 18 Uhr unweit des Hackeschen Marktes in der DIA. Erst vor zwei Jahren entstanden ist die „Deutsche Islam Akademie e.V.“ für viele Menschen bereits eine feste Adresse in Berlins Mitte geworden. An diesem Ort bieten engagierte Muslim:innen in der Großen Hamburger Straße einen Raum für Austausch, Reflexion und erbauliches Beisammensein. Donnerstags bietet Ender Hodscha allabendlich eine Tafsir-Runde für Interessierte an.

Dhikr und Erinnerung

Muslim:innen und Menschen ohne Bekenntnis kommen hier nicht nur zusammen, um den Worten des Lehrers zuzuhören, sondern haben die Möglichkeit auch in kritischen Austausch und Gedankenexperimente zu treten. Gefragt werden kann alles, Tabus bestehen keine und so gehen die Teilnehmenden für gewöhnlich mit positiven Ansätzen in den Abend hinaus oder nehmen sie mit in den „Wird“.

Denn im Anschluss werden die Stühle gegen Teppiche getauscht und neuer Tee aufgesetzt zum Treffen der „Dhikr-Gruppe“. Frauen und Männer, die an vielen Donnerstagen den Diwan von dem großen Gelehrten Muhammad ibn al-Habib rezitieren. Da die Sonne derzeit früh untergeht, wird zunächst das Nachtgebet verrichtet, um im Anschluss den Wird aus der nordafrikanischen Darqawiya-Tradition zu lesen, sowie unterschiedliche Qasaid aus diesem und anderen Werken zu singen.

Dabei geht es primär um das Gedenken an Allah (Dhikr) und seinen Propheten (Friede und Segen auf ihm) aber auch um Gemeinschaft. Zur gleichen Zeit findet ein weiterer Dhikr aus der Tradition der Schadhiliya statt, in Neukölln trifft sich die Burhaniya – berlinweit gibt es viele weitere Zirkel, vor allem am Donnerstag.

23 Uhr wird auch bei der DIA das Licht gelöscht und die Muslim:innen gehen ihrer Wege, Mitte ist für dieses Klientel um diese Uhrzeit kein Sehnsuchtsort, sodass sich alle nach einem kurzen Spaziergang in ihre jeweiligen Viertel verstreuen. Islamisch gedeutet beginnt der nächste Tag mit dem Anbrechen des Abendgebets, so ist der Donnerstagabend der Beginn des wichtigen „Tag der Versammlung“.

Der Morgen des Jumu’ah

Das Morgengebet kann im Winter in Gegenden wie Kreuzberg oder Schöneberg ohne große Mühe auch in einer Moschee verrichtet werden, je nach Gebetsort sind es zwar nicht viele Muslime, die die Reihen füllen, aber um 7 trifft man mehr Betende an, als morgens um 4 in anderen Monaten. Nebeneinander reihen sich Rentner neben Studenten, Selbstständige, einen Arzt und Mitarbeiter der BSR und der BVG für die zwei morgendlichen Niederwerfungen. Denn um diese Uhrzeit ist Berlin bereits im vollen müden Trott, man versucht der kalten, grauen Dunkelheit etwas Gutes abzugewinnen und füllt Straßen, Busse und U-Bahnen bereits mit Leben und wandelndem Schlaf.

Wer in Kreuzberg 36 – also alles nördlich, östlich, südlich und westlich des Kottbusser Tors – zum Morgengebet geht und nicht direkt zur Arbeit oder in die Vorlesung verschwinden muss, findet unweit der großen Omar Ibn Al-Khattab Moschee in der Wiener Straße einen guten Ort zum Verbleiben. Läden wie Eurocan gehören zu einer aussterbenden Spezies im städtischen Raum, auf den ersten Blick mag es nur nach einer gewöhnlichen Bäckerei aussehen, wenn gleich es sich um einen Treffpunkt handelt, an dem vor allem die Arbeiterklasse Çay, Kaffee und Gebäck bereits früh morgens und zu fairen Preisen genießt. Eurocan ist gleichzeitig einer der scheinbar wenigen Orte, an welchem Rize und Yaprak Çay problemlos neben einander existieren können, egal zu welcher Tageszeit.

Vormittags in Kreuzberg

9 Uhr – immer noch in Kreuzberg. In Zeiten von Homeoffice und online stattfindenden Vorlesungen, bietet sich das Café Pfeiffers am Heinrichplatz an, eine seit vielen Jahren existierende Instanz, die guten Kaffee macht und eine ruhige doch arbeitsfördernde Atmosphäre schafft. Wenn doch Hunger eintrifft, der durch die hausgemachten Kuchen nicht bedient werden kann, bekommt man problemlos zum Beispiel Sucuklu Yumurta (Ei mit Sudschuk) zu ihrem oder seinem Flat White, was das Angebot des Pfeiffers komplett abrundet. Nicht wenige junge Muslim:innen haben hier bereits Geburtstage begangen, Kunstprojekte erarbeitet oder einfach Gesellschaftsspiele gespielt.

24 Stunden
Mevlana
Moschee

Foto: Autor

Beten in der Mevlana Camii

In hanafitisch-geprägten Moscheen beginnt das Freitagsgebet direkt mit Eintreten der errechneten Gebetszeit. Im Winter also Pi mal Daumen um 12 Uhr. Zwar gibt es nicht wenige Gebetsorte in Kreuzberg 36, doch bietet sich die neue Mevlana Camii in der Skalitzer Straße für das Verrichten des Dschumua-Gebets an. Durch die bunten Fenster und Gläser an der Südfassade dringt Licht abwechslungsreich in den großen, einladenden Saal. Dieser ist vor allem freitags gut gefüllt.

Viele hundert Muslime ganz unterschiedlicher Herkünfte, Berufe, Altersgruppen und Realitäten versammeln sich auf zwei Ebenen, um den Bedürfnissen der Nachbarschaft entsprechend auf Arabisch, Deutsch und Türkisch einer kurzen aber prägnanten Predigt beizuwohnen. Der Saal ist geschäftig, bietet jedoch genügend Möglichkeiten spirituell zur Ruhe zu kommen. Auch die Architektur der Moschee trägt mit der großen, herrlich dekorierten Kuppel ebenso dazu bei, wie die Säulen und die stilvolle Akustik. Schweigend oder besser gesagt innehaltend verlässt die Hälfte der Gläubigen langsam den Gebetsraum, während sich die Verbleibenden der Sunna und des Dhikrs widmen.

24 Stunden
Berlin
Kotto
Kreuzberg

Foto: imago | Uwe Steinert

Essen am Kotti

13:15 Uhr hat die Mehrheit der Moscheegänger die Mevlana am Kotti verlassen und begibt sich auf die Arbeit, zur Familie oder verbringt die verlängerte Mittagspause mit Essen und Gesprächen. Dafür bieten sich viele Orte rund um das Kottbusser Tor an. Die Hast derjenigen, die schnell zur Arbeit zurück müssen wechselt sich ab mit der Geduld und dem Schlendern derer, die zu dieser Stunde keine zeitliche Bredouille aufweisen.

So scheinen die meisten zufrieden, wenn sie bei Stari Most Cevapi, bei Gio’s Küche georgischen Bohnen oder etwas weiter ab in der Skalitzer Straße bei Heimweh Kumpir essen. Sofern das Wetter mitspielt, bietet sich im Anschluss ein Besuch des Wochenmarktes am Paul-Lincke-Ufer an. Freitag als traditionellen Markttag nehmen dort viele Menschen in Anspruch um allerlei sinnige oder auch mitunter unsinnige Erledigungen zu treffen, die hier am Kanal auf ordentlich berlinerisches Flair treffen.

Fürs Nachmittagsgebet wird’s knapp

Gegen 14 Uhr wird im Berliner Winter bereits das Nachmittagsgebet verrichtet, vom Paul-Lincke-Ufer sind verschiedene Moscheen zu Fuß erreichbar, sodass Muslim:innen danach weiter hasten oder flanieren können. Für die Glücklichen unter ihnen bietet seit zwei Jahren das Café Fourty Years einen guten und von jungen Muslim:innen geführten Ort zum Verbleib für alle an. Die Besonderheit hier ist die Tatsache, dass man neben Kaffee und hausgemachten Kuchen auch getrocknete Blumen bekommen kann, während des Lesens oder Arbeitens an Laptop und Co.

Wedding und Moabit sind ebenso wie Kreuzberg 36 ein Besuch wert. Wer zwischen Fourty Years und dem Abendgebet noch freie Zeit hat, macht gerne in der Friedrichstraße beim Kulturkaufhaus Dussmann halt und stöbert auf den Etagen nach Büchern. Zwar ist die Auswahl an theologischen Büchern noch immer nicht der Rede wert, wenn gleich es auch andere wichtige Themen gibt und selten jemand leerer Hand Dussmann verlässt.

Abends in Moabit

Das Abendgebet gegen 16:20 Uhr bietet sich im Anschluss in Moabit in der Aya Sofya Camii an. Diese kleine Moschee hat nicht nur einen jungen deutschsprachigen Imam, sie gibt gleichzeitig das heimelige Gefühl einer kleinen Moschee im Hinterhof, wenn gleich sie von der Hauptstraße aus sichtbar ist.

Von dort ist es nur ein angenehmer Spaziergang zum Haus der Weisheit in der Waldstraße, wo freitags gegen 18 Uhr ein Dhikr mit Gesang und Instrumenten stattfindet, zu welchem stets die gesamte Familie geladen ist. Ein Angebot, das auch rege von Kindern und muslimischen Frauen angenommen wird und mit Essen und Gesprächen nach einigen Stunden endet.

Die 24 Stunden eines Tages

Regelmäßig sind dies 24 Stunden in Berlin und doch nur eine Lesart von vier Millionen. Muslimisches Leben in dieser Stadt vibriert und äußert sich mannigfaltig. Abseits schlechter Presse und Diffamie gilt es auch dies zu zeigen, zu benennen und vielleicht auch in den Vordergrund zu rücken.