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Abu Dhabi zwischen Ost und West

Ausgabe 324

Foto: Hamdan Yoshida, Adobe Stock

Vor Kurzem besuchte ich Abu Dhabi. Meine dortigen Eindrücke vermischten sich mit Sorgen um den Krieg in der Ukraine. Parallel zur Reise las ich ein Werk zur römischen Frühgeschichte von Titus Livius, das zu Beginn unserer Zeitrechnung entstand. Darin stieß ich auf die folgenden Zeilen: „Das Studium der Geschichte ist die beste Medizin für einen kranken Verstand. Denn in Geschichte habe ich eine Aufzeichnung der unendlichen Vielfalt der menschlichen Erfahrung, die für alle erkennbar dargelegt ist.“ Von Jan Lundius

(IPS). Die gegenwärtige Lage in der Ukraine lässt sich auf die Nachwehen des Ersten Weltkrieges zurückführen: das Auseinanderbrechen von Osteuropa entlang ethnischer Grenzziehungen, dem Kampf der Sowjetunion um Vormacht in dem Land sowie die Konkurrenz anderer Nationen in der Region.

Abu Dhabis gegenwärtiger Zustand ist ebenfalls das Ergebnis dieses Krieges sowie dem Handeln fremder Staaten und der Initiative eines einzelnen Akteurs. Die von Großbritannien ausgeübte Macht über das Gebiet, das zu Abu Dhabi werden sollte, war weitaus friedlicher als die Übergriffe der Sowjetunion und Deutschlands auf das Wohlergehen der Ukraine. Allerdings war auch sie weitgehend blind und taub für die Bedürfnisse und Wünsche der lokalen Bevölkerung. Seine Geschichte wurde nicht von den kranken Geistern und Despoten wie Stalin, Hitler und Putin beeinflusst, sondern durch einen weitaus aufgeklärteren Herrscher geprägt: Schaikh Zayed bin Sultan Al Nahyan.

Nach dem Ersten Weltkrieg teilten Frankreich und Großbritannien das besiegte Osmanische Reich auf. Irak, Iran, Palästina, Jordanien und die arabische Halbinsel fielen in die britische Interessensphäre. Nach der Suezkrise 1957 und dem Treffen von Khartum 1967 (als regionale Führer erklärten, sie würden den Staat Israel niemals akzeptieren) kündigten die Briten ihre Absicht an, sich aus allen Gebieten östlich von Suez zurückzuziehen. Ihre Vorherrschaft war zu kostspielig und instabil, obwohl London weiterhin hoffte, die Kontrolle über das nicht ausgebeutete Öl von Abu Dhabi zu behalten.

In den frühen 1960ern gab es hier keine Straßen, kein Krankenhaus und keine Schule. Mit Ausnahme einiger Kinder in einer Qur’anschule waren 98 Prozent der Bevölkerung Analphabeten. Die Lage war sogar schlimmer als früher, nachdem die Entwicklung der Perlenzucht die Einkünfte durch die Perlenfischerei drastisch einbrechen ließ. Die Hauptstadt des Emirats bestand aus einem Steingebäude, in dem gelegentlich britische Vertreter untergebracht wurden, sowie einigen Hütten um das Qasr Al Hosn, der Festung der Emire aus dem Haus Nahyan. Vor 1971 hatten die Einwohner nichts mit Bürokratie oder größeren Organisationen zu tun. Wenn sie ein Anliegen hatten, „saßen“ sie im Majlis ihres Stammesführers.

Ich musste darüber nachdenken, als ich am Panoramafenster in der Wohnung eines Freundes stand, die im 56. Stock eines der beeindruckenden Gebäude der Ettihad Towers liegt. Vor mir erstreckte sich ein Anblick des azurblauen Wassers des Arabischen Golfs sowie des Qasr Al Watan, dem Präsidentenpalast und Regierungssitz der Emirate. Das ist einer der beeindruckendsten Ausblicke, den ich jemals gesehen habe. Es war kaum zu glauben, dass diese opulente, gut organisierte, extrem saubere und sehr sichere Nation in nur wenigen Jahren aus dem Sand eines bettelarmen Beduinenreichs aufgestiegen war.

In seinem fünfbändigen Epos „Cities of Salt“ erzählt Abdelrahman Munif davon, wie die rapide Modernisierung der Küstengebiete auf der Arabischen Halbinsel die Armen betroffen hat. Die Bände sind voller Symbolik, haben keine Helden, während Tausende Namen und Personen am Leser vorbeiziehen. So schafft er ein verschlungenes Gewebe aus Stimmen und Geschichten. Die meisten Geschichten konzentrieren sich um den fiktiven Stadtstaat Harran, der einen an beinahe jede Stadt der erdölreichen Region erinnert. Hier gibt es eine Welt aus Mythen, Erzählungen und Liedern, die sich schrittweise in die Vision einer modernen Gesellschaft mit all ihren Komplikationen und Differenzen wandeln – zwischen reich und arm, den Mächtigen und Machtlosen, der Volksreligion und dem Säkularismus.

Mein Besuch in Abu Dhabi veranlasst mich zur Ansicht, dass die Entwicklung dieser Nation von Munifs düstere Beschreibung unterscheidet. Einer der Gründe dafür kann in der Persönlichkeit von Schaikh Zayed liegen. 1965 stürzte er seinen Bruder Shakhbut vom Thron und wurde unangefochtener Herrscher. Er hatte die Bedeutung der populären Unterstützung im Austausch für Verbesserungen von Lebensstandards, Jobs, Wohnen, Gesundheitswesen und Bildung verstanden. Nach dem Abzug der Briten 1967 eröffnete er das Land für die massive Zuwanderung von Arbeitern. Allerdings legte eine Klausel fest, dass diese Expats erst nach 30 Jahren Aufenthalt die Staatsbürgerschaft erhalten sollten.

Die Schulpflicht für Jungen und Mädchen wurde eingeführt, Universitäten gegründet und Religionsfreiheit gewährleistet. Gleichzeitig blieb die staatliche Kontrolle von Medien bei. Neben Straßenbau gab es erstmals einen allgemeinen Zugang zu Trinkwasser und Gesundheitsvorsorge. Vor allem aber verhandelte Schaikh Zayed die Vereinbarungen zur Erdölförderung neu. Damit stellte er sicher, dass Abu Dhabi die Kontrolle über die Mehrheit der Anteile der Ölproduktion erhielt. Damit war das britische Monopol zu Ende.

Von den 9,9 Millionen Menschen, die derzeit in den VAE leben, sind nur etwa 12 Prozent Staatsbürger, die restlichen 88 sind Gastarbeiter. Die Herrscher der Emirate haben ihren Bürgern und Einwohnern ein Modell geboten, das ihnen zwar keinen politischen Einfluss verlieh, dafür aber für Sicherheit und relativen Wohlstand sorgte. Es wird jedoch befürchtet, dass eine Wirtschaft, die sich von der Abhängigkeit vom Energieexport in Richtung Handel, Finanzdienstleistungen, Immobilien und Tourismus bewegt, Geldwäsche, Menschenhandel und andere illegale Aktivitäten anzieht. Eine Situation, die durch die unkontrollierte Macht einiger weniger reicher Personen noch verschlimmert werden könnte.

Sein Nachfolger, Schaikh Khalifa, erlitt 2014 einen Schlaganfall. Seitdem hatte dessen 13 Jahre jüngerer Halbbruder, Kronprinz Mohammed bin Zayed Al Nahyan, die de facto Kontrolle über Abu Dhabi inne. So war er Oberkommandierender der Streitkräfte der Emirate und ihr Außenminister. Seit dem 14. Mai ist er auch offiziell zum Staatsoberhaupt gewählt worden, nachdem sein Bruder Khalifa am 13. Mai verstarb.

Im weiteren Rahmen agieren die Emirate außerhalb eines konventionellen „liberalen, westlich orientierten Systems“ und orientieren sich zunehmend nach Osten. Das Land ist der größte arabische Handelspartner Pekings und macht 28 Prozent des gesamten chinesischen Nicht-Öl-Handels Chinas mit der Region aus. Dabei fungieren sie als Brennpunkt für den Reexport chinesischer Waren in den weiteren Nahen Osten und nach Afrika.

Darüber hinaus haben die Emirate in den letzten Jahren häufiger aufseiten Russlands als auf der amerikanischen gestanden. Dazu gehört eine vorsichtige Annäherung an den syrischen Diktator und Unterstützung für den libyschen Warlord General Haftar. Beide sind stabile Bündnispartner Putins. Ein Grund für die Suche nach russischer Unterstützung ist, dass die VAE gemeinsam mit Saudi-Arabien und Israel den Iran und von Schiiten unterstützte Milizen wie die Hisbollah und die Huthis im Jemen fürchten. Sie kaufen derzeit Waffen aus Russland. Wladimir Putin und Mohammed bin Zayed haben vor Kurzem darüber konferiert, wie die Stabilität des Energiemarktes gewährleistet werden kann, während die VAE weiterhin ihren politischen Balanceakt zwischen Ost und West vollziehen.