Allah ist ­der ­Allerbarmer

Ausgabe 226

(iz). Die explizite Beziehung zwischen den Wörtern Islam und Salam (Frieden, Unversehrtheit) wurde in den letzten Jahren häufig hervorgehoben. Es ist vor allem aufgrund dieses etymologischen Zusammenhangs, dass viele Muslime sagen, der Islam sei die Religion des Friedens. In der Offenbarung selbst wird der Prophet Muhammad, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, als Prophet der Barmherzigkeit beschrieben. Die Quellen Allahs betonen außerdem, dass Barmherzigkeit Gottes Signum in der Schöpfung ist.

Es ist daher offensichtlich, dass den Muslimen befohlen ist, zu sich selbst, zu ihren Nächsten und der gesamten Schöpfung barmherzig zu sein. Ein wegweisender Ausspruch des Propheten Muhammad, Allahs Heil und Frieden auf ihm, lautet: „Der Allbarmherzige erweist dem Gnade, der anderen barmherzig ist. Seid (darum) allen auf Erden barmherzig, dann ist der mit euch barmherzig, der im Himmel ist.“

Der Allbarmherzige
Im Arabischen wird Allah mit vielen Namen bezeichnet, doch der schönste Name, der alle umfasst und einschließt, ist Allah. Die Anrufungsformel „Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Gnadenspenders“ tritt 114 Mal im Qurʾan auf und spielt eine zentrale Rolle im rituellen Leben. In dieser festen Wendung werden die beiden Namen gleich nach Allah genannt. Der Allerbarmer (Ar-Rahman) und der Gnadenspender (Ar-Rahim) beschreiben auch Allahs Beziehung zur Welt. Im Qurʾan ist festgelegt: „(Er ist) der Allerbarmer, der Sich auf den Thron niederließ.“ Barmherzigkeit ist das Signum der Schöpfung und der ontologische Faden, der sich durch alles zieht. Insofern fällt das gesamte Geschehen zu gegebener Zeit unter die Rubrik der kosmischen Gnade.

Diesen Gegenstand betreffend führte einer der großen Gelehrten an: „Hätte Allah stattdessen geoffenbart, dass ῾der Unterwerfer (Al-Dschabbar) sich auf den Thron niederließ᾿ würde die Schöpfung sich auflösen.“ In einem anderen Vers lesen wir „er hat sich selbst Barmherzigkeit vorgeschrieben“, um hervorzuheben, dass Barmherzigkeit das bestimmende Motiv des Kosmos und die fundamentale Absicht des Schöpfungsaktes ist.

Dieser Blickwinkel wird zudem von der prophetischen Überlieferung unterstützt, in der es heißt, dass Allah sagt: „Wahrlich, meine Barmherzigkeit überwiegt meinen Zorn.“

Der Prophet der Barmherzigkeit
Nach islamischer Offenbarung war Muhammad der Letzte und Größte der Gesandten Allahs, der das Erbe der biblischen und außerbiblischen Propheten erfüllte. Im Qurʾan heißt es von ihm: „Und wir entsandten dich nur als eine Barmherzigkeit für alle Welten.“ Und der Prophet selber hielt fest: „Ich wurde nicht gesandt, um zu verfluchen, sondern ich wurde als Barmherzigkeit gesandt“.

Im Arabischen ist Barmherzigkeit eng mit Milde sowie Vergebung und Verzeihung verknüpft. Theologisch gesehen definiert die islamische Lehre Barmherzigkeit als Absicht, anderen Gutes und Berei­cherung zu bringen. Als solches impliziert barmherzig zu sein den unbedingten Wunsch, Übel und Schaden abzuwenden.

Das Garn der vorausschauenden Barm­herzigkeit verlief durch das ganze Gewebe des prophetischen Lebens. Es war der Schlüssel zu seinem gewaltigen, und dauerhaften Erfolg. Die Treue und Liebe seiner Anhänger sowie die Ehrfurcht, die er unter seinen Feinden ausgelöst hatte, waren die Früchte dieses Edelmutes. Er sagte: „Die mir am nächsten am Tage des Gerichtes sitzen, sind die mit dem besten Charakter“. Muhammad scherzte mit Kindern, war humorvoll mit Erwachsenen und gab seinen Gefährten freundliche Spitznamen. Er besuchte die Kranken und erkundigte sich nach dem Wohlbefinden der Nachbarn, Freunde, Gefährten und sogar jener, die nicht an ihn glaubten. Er war warmherzig und teilte alles mit Menschen um ihn herum, einschließlich ihrer Armut. Er war immer bereit zu verzeihen. Wie Moses und andere biblische Propheten nahm Muhammad an Kriegen teil. Er war siegreich, aber kein „Welteroberer“.

Es gab nichts Blindwütiges oder gar Fanatisches in seiner Frömmigkeit. Nie war er unversöhnlich oder gar dem Krieg zugeneigt. Männer wie Abu Sufjan ibn Harb, ῾Ikrima Ibn Abi Dschahl oder Safwan ibn Umaija, die seine unerbittlichsten Feinde waren, kamen letzten Endes dazu, ihn nicht nur zu akzeptieren und ihm zu folgen, sondern auch seine Mission während ihrer letzten Jahre des Lebens leidenschaftlich zu unterstützen.

Der Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, „eroberte“ Mekka friedlich. In jeder Hinsicht war dies ein Tag der Barmherzigkeit. In Mekka versammelte der Prophet seine ehemaligen Feinde am Hause Ibrahims und fragte sie: „Was denkt ihr, was ich mit euch zu tun pflege?“ Sie erwiderten: „Du bist ein großherziger Bruder, der Sohn eines großmütigen Bruders.“ Und er antwortete: „Geht nach Hause, ihr seid frei.“

Es war diese barmherzige und verzeihende Natur, die schließlich seine Autorität in Mekka etablierte, die das gegenseitige Verständnis förderte und neue Bande knüpfte.

In Nachahmung des Propheten wird von Muslimen erwartet, dass sie barmherzig sind, dass sie das Gute für andere hervorbringen, ihnen keinen Schaden wünschen oder sich am Übel anderer erfreuen. Kommentatoren betonten diesen Punkt und erläuterten, dass die gebotene Barmherzigkeit sich nicht exklusiv nur an sie selber oder den Rechtschaffenden unter ihnen wenden soll. Sie erstreckt sich auf alle Menschen.

Barmherzigkeit beginnt beim Einzelnen, der für sich selbst im physischen, emotionalen als auch spirituellen Sinne sorgt. Es bedeutet ebenso, eine gute Meinung von sich zu haben und in ständiger Erwartung von Allahs Hilfe und Barmherzigkeit zu leben – zusammen mit anderen islamischen Forderungen des Verhaltens wie dem kategorischen Verbot von Selbstmord und Verzweiflung.

Vom individuellen Kreis erstreckt sich Barmherzigkeit dann nach außen auf ­Eltern, Ehepartner, Kinder, Familie, den Nachbarn, die Gemeinschaft und die Welt aus. Ein wichtiges Element der Barmherzigkeit für den Nächsten ist es, von ihm eine gute Meinung zu ­haben, seinen Namen in Ehren zu halten und alles dafür zu tun, was das Leben desjenigen verbessert und Schaden vermeidet.

Im Qurʾan wird auf das Eheleben als den primären Ort der Barmherzigkeit geblickt und die Ehe konsequenterweise zum Gottesbeweis und zum Schöpfungswunder erhoben. Auf der einen Seite wird die Ehe als fundamentale Weise des menschlichen Geschlechts betrachtet, welche die biologische Kontinuität der göttlichen Schöpfung sichert. Auf der anderen ist sie ein Zeichen der Liebe: „Und zu seinen Zeichen gehört es, dass er euch aus euch selber Gattinnen geschaffen hat, auf dass ihr Frieden bei ihnen finden möget. Und Er hat Liebe und Barmherzigkeit zwischen euch gesetzt. Hierin liegen wahrlich Zeichen für Leute, die nachdenken.“

Die arabischen Wörter für „Liebe“ und „Barmherzigkeit“ in diesem Vers sind Mawadda und Rahma. Eheliche Barmherzigkeit bedeutet, dass Mann und Frau einander glücklich zu machen suchen. Es impliziert, dass jeder Ehepartner den anderen ehrt. Mawadda hingegen – manchmal als Zuneigung übersetzt – geht der Barmherzigkeit in diesem Vers voran. Das impliziert, dass Liebe das spirituelle Fundament von Barmherzigkeit ist.

In Bezug auf Allah (Al-Wadud) meint Mawadda sowohl Seine sorgende Obhut der Schöpfung, als auch die persönliche Großzügigkeit, die Allah denjenigen gewährt, die Er liebt. Im Hinblick auf die menschliche Interaktion im Allgemein wie auch im familiären Zusammenhang bedeutet Mawadda die liebevolle Beteiligung im Leben des Anderen.

Gesetz der universellen Wechselseitigkeit
Wie zu Beginn gezeigt worden ist, ist Barmherzigkeit – Gottes Signum der Schöpfung – mit dem universellen Gesetz der Wechselseitigkeit verbunden: Gnade wird den Barmherzigen erwiesen und den Grausamen entzogen. Die positive Seite dieses universellen Gesetz spiegelt sich in der erstrangigen Tradition wieder: „Seid (darum) allen auf Erden barmherzig, dann ist Der mit euch barmherzig, Der im Himmel ist.“ Der Prophet sagte: „Wahrlich Gott zeigt nur dem Diener Barmherzigkeit, der zu sich selber barmherzig ist.“ Ebenso warnte der Prophet seine Gemeinschaft: „Barmherzigkeit ist nur von den Verdammten geraubt.“ Das heißt, dass Barmherzigkeit der ursprüngliche und natürliche Zustand der Seele ist und allenfalls nur ausgetauscht werden kann gegen Grausamkeit und Gefühllosigkeit. Herzen, die nicht länger Barmherzigkeit spüren können, werden kein Gefäß für Erlösung oder gar wahren Glaubens sein.

Demnach ist dem Gesetz der universellen Wechselseitigkeit eine weitere Dimension inhärent: Die Tatsache, dass Barmherzigkeit mit Glauben verbunden ist und die Tür des Heils öffnet, hingegen Erbarmungslosigkeit verbunden mit der Ablehnung Gottes ist und somit die Tür zur Verdammung öffnet. Klassische Kom­mentatoren erläutern hierzu, dass Barmherzigkeit einem gesunden Herzen entspringt, das spirituell lebendig ist und sich damit für aufrichtigen Glauben eignet.

Schlussfolgerung
Die Forderung nach Barmherzigkeit und damit, Gutes in die Welt zu bringen, muss dem Verständnis der Wirklichkeit zugrunde liegen und die Einstellung gegenüber der Gesellschaft widerspiegeln. Der Islam sieht es nicht vor, auserwählte Menschen entstehen zu lassen, die exklusive Ansprüche für sich selbst äußern, während sie auf den Rest der Menschen niederschauen, als seien sie Unberührbar. Vielmehr sind Muslime aufgefordert, sich als Vorreiter für Barmherzigkeit, Fürsorge und Wohl zu engagieren. Jedoch sollte der Aufruf zur Barmherzigkeit Muslime nicht unfähig machen, eine weise und angemessene Antwort auf Unterdrückung und Ungerechtigkeit zu finden.

In einem Glauben wie dem Islam, welcher lehrt, dass eine Person möglicherweise zur Hölle verurteilt werden kann, weil sie eine Katze verhungern lässt, ist es selbstredend, dass Akte grausamer Barbarei komplett abgelehnt werden und ihnen niemals die Aura des Religiösen gegeben werden dürfen. Das erbarmungslose Herz weilt unter den Verdammten, wohingegen das gesunde Herz instinktiv human ist. Es sind gerade jene Menschen, die menschlich intakt und spirituell lebendig sind, an die sich der Prophet wendet und mahnt: „Befrage dein Herz. Das Gute ist das, was die Seele und das Herz besänftigt. Und Sünde ist, was in der Seele webt und in der Brust widerhallt, selbst wenn die Menschen dir wieder und wieder einen guten Bescheid darüber gegeben haben.“ (Veröffentlichung der Nawawi Foundation. Aus dem Englischen von Tarek El-Sourani)