Jeder hat Recht auf seinen Grabstein

„Liebe Freunde der Sehitlik Moschee,
am 20. April 2015 schrieb Marcel Leubecher in seinem Artikel in ‘Die Welt’ über zwei auf unserem Friedhof befindliche Gräber im Kontext der Armenienfrage:
„Die Sehitlik-Moschee äußert sich nicht zu den Gräbern. Fragen der ‘Welt’ blieben unbeantwortet.
Das hat uns als Gemeinde sehr irritiert. Denn leider bleibt unerwähnt, dass Herr Leubecher – gerade einmal wenige Stunden vor der Veröffentlichung seines Artikels – sich mit einer E-Mail an uns wandte und innerhalb dieser kurzen Zeit eine umfangreiche Stellungnahme zu den Gräbern von Cemal Azmi bey und Bahattin Sakir bey und zur Armenienfrage forderte. Das spricht weder für einen guten, noch für einen fairen Journalismus.
Umso enttäuschender ist dieses Vorgehen vor dem Hintergrund, dass wir als Sehitlik Moschee nie verschwiegen haben, dass Cemal Azmi bey und Bahattin Sakir bey mitverantwortlich an der Deportation von Armeniern waren. Im Gegenteil: Mit interessierten Besuchern haben wir uns schon immer offen über dieses komplexe Thema ausgetauscht und haben stets die Standpunkte aller Seiten erläutert. Die Gräber sind insofern kein Grund, die Moschee zu meiden, sondern gerade eine wichtige Gelegenheit, in einen Austausch zu treten. Eine offene und ehrliche Diskussion, die an einer Versöhnung interessiert ist und nicht an Ausgrenzung, muss aber auch einen anderen Standpunkt aushalten, ja wird sie sogar begrüßen. Denn nur so ist ein ernst gemeinter Austausch und eine Aufarbeitung der Geschichte möglich.
Zu diesem anderen Standpunkt gehört auch die Ansicht, dass die Deportation der Armenier, anders als bei anderen Vertreibungen, mitten in einem Kriegsgeschehen stattfand. Das Osmanische Reich sah sich im ersten Weltkrieg mit einer Invasion der Westmächte und der Russen konfrontiert. Armenische Milizen hatten sich zu diesem Zeitpunkt auf die Seite der Russen geschlagen und hatten laut dem Demographen und Historiker Justin McCarthy bis 1915 bereits 122.000 Türken ermordet. Die Vertreibung von Armeniern war darum eine militärstrategische Entscheidung, um die Etablierung einer sogenannten 5. Kolonne in Ostanatolien zu unterbinden und keine ethnische Säuberung. Davon kann auch deshalb keine Rede sein, weil die Armenier innerhalb der osmanischen Reichsgrenzen umgesiedelt wurden. Dies zeigt deutlich, dass eben keine ‘Rassensäuberung’ stattfinden sollte, sondern lediglich eine Entschärfung der Lage in Ostanatolien.
Fakt ist aber auch, dass diese schlecht organisierte und von korrupten Mannschaften begleitete Zwangsumsiedlung mitten im Kriegsgeschehen in einer tragischen Katastrophe endete. Dafür wurde Cemal Azmi bey als Verantwortlicher während der türkischen Militärgerichte von 1919 – 1920 zum Tode verurteilt, konnte aber nach Deutschland ins Exil fliehen. Nichtsdestotrotz rechtfertigt das aber keinesfalls eine Selbstjustiz und die Ermordung durch armenische Attentäter. Zudem hat jeder Mensch ein Recht auf eine Grabstätte, wobei der Friedhof der Sehitlik Moschee der einzige türkische Friedhof in Berlin ist.
Beide Seiten erlitten in dieser Auseinandersetzung große Verluste, weshalb die Aufarbeitung der Geschehnisse ehrlicherweise auch durch beide Seiten erfolgen muss. Noch immer wehren sich viele Kirchen dagegen, den durch Christen ermordeten muslimischen Opfern im Ersten Weltkrieg zu gedenken. Dabei ist die Zahl muslimischer Opfer im Osmanischen Reich von 1912 bis 1915 mit 2,5 Millionen sehr hoch. Diese Geschichte ist darum auch für viele Türken mit vielen Emotionen verbunden. Sie hat auch Türken in Deutschland geprägt, die zum Teil Nachfahren Ermordeter sind, oder noch in der dritten Generation mit Zeitzeugenberichten aufgewachsen sind. Wenn wir darum heute sagen, dass viele Armenier nicht mehr in Ostanatolien leben, muss uns auch bewusst sein, dass auch viele Türken nicht mehr in Armenien leben. Dabei war armenische Hauptstadt Eriwan einst eine Stadt der Moscheen und der Kirchen mit einem lebendigen muslimischen Leben. Davon ist heute nichts mehr übrig. Die Armenien-Debatte kann nicht einseitig geführt werden. Um das Geschehene zu verstehen, muss eine Gesamtschau vorgenommen werden. Dazu zählt zum Beispiel auch die Gräueltaten gegen die Aserbaidchaner-Türken, die vom Berg Karabagh vertrieben und ermordet wurden.
Wenn wir heute den Opfern gedenken, dann müssen wir den Opfern auf beiden Seiten gedenken.
Die aktuellen Debatten sind keine ehrlichen Auseinandersetzungen mit den Geschehnissen, mit unabhängigen Historikern und Juristen. Sie sind machtpolitische Debatten, die die Historie für ihre Zwecke missbrauchen und dadurch ein weiteres Unrecht an den Opfern verüben. Dabei sollte es in diesen Debatten um einen Dialog und um Versöhnung gehen. Darum lautet die Devise für uns: Jetzt sollten wir – Türken und Armenier, Muslime und Christen, Politiker und Zivilgesellschaft – uns erst Recht begegnen, und zwar wie immer auch sehr gerne in der Sehitlik Moschee.
Ender Cetin Vorstandsvorsitzender“