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China übernimmt: In der Türkei hat es die Teppichproduktion immer schwerer

Ausgabe 311

(iz). Der Große Bazar ist das Herz des alten Istanbuls. Mit mehr als 3.000 Läden, Lagern, Ständen, Werkstätten (viele in den alten osmanischen Khans) sowie einem Restaurant, einem Teehaus, verschiedenen Imbissen und einer Bank sind hier mehr als 20.000 Menschen beschäftigt. Er ist eine der ältesten Einkaufszentren der Welt. Und Zentrum von Istanbuls einst florierendem Teppichhandel – der jetzt schwere Zeiten erlebt.

Man betritt die gewölbten Gänge des labyrinthischen Kapalı Çarşı – des „überdachten Basars“, wie er auf Türkisch ­genannt wird. Dort tritt man auf polierte Steinplatten und läuft Spießruten durch bewaffnete Polizisten, die Taschen mit Metalldetektoren durchsuchen.

Läden, die ähnliche Waren anbieten, sind in einer Gegend versammelt. Die Straßen wurden nach verwandten Gilden benannt, die hier in osmanischen Zeiten ihren Geschäften nachgingen. Einer der ältesten Abschnitte ist der für Teppich. Sie sind spezialisiert auf türkisches Knüpfwerk und Kelim sowie persische, kau­kasische oder afghanische. Man findet sogar – obwohl es nicht beworben wird – chinesische Auslegware, die sich als ­türkische tarnt.

In jedem gibt es rund fünf- oder ­sechshundert Produkte. Sie hängen von den Decken oder liegen gefaltet auf einem Haufen. Die Preise reichen von 200 US-Dollars für einen handgemachten Gebetsteppich bis zu 2.000 für einen seidenen Wandbehang im osmanischen Stil. Händler bieten Touristen, die vor ihren Läden stehen bleiben und vom Angebot angelockt sind, ein Glas Tee an.

Jedes Einzelstück erzählt eine ­Geschichte. Die Verkäufer wollen eifrig die gewebten Geheimnisse vermitteln. Sie sind Meister in der Kunst des ­Verkaufens. Häufig haben sie Universitätsabschlüsse und beherrschen mehrere Sprachen. Sie sind weltklug auf eine Weise, die den gut betuchten westlichen Touristen anspricht. Was oft nicht erwähnt wird, ist die Herkunft einiger der alten Teppiche und ihre langen inter­nationalen Umwege.

Im Herzen liegt Kalender Carpets. Das Geschäft ist seit mehr als 50 Jahren im Bazar. Es bleibt in der Familie. Ziya Özalp, einer der Angestellten, ist mit dem Gründer verwandt. Er ist ein Istanbulu kurdischer Herkunft, der hier seit mehr als fünf Jahren beruflich Teppiche verkauft. Sein Vater vor ihm war Teppichhändler – wie ein Bruder vor ihm. Nach dem Ende seines Studiums fing Ziya hier an.

Zu Beginn sei das gute Arbeit gewesen. Man habe sich nicht allzu sehr anstrengen müssen und Leute getroffen. Aber nach den Unruhen in Folge des versuchten Putsches und den Bombenanschlägen machten Touristen zeitweise einen langen Bogen um Istanbul und den Bazar. Also hatte er bei Tee und Zigaretten genug Zeit, um über die Geheimnisse des ­Handels zu sprechen.

Für ihn sind Teppichhändler in der Türkei ein eigener Menschenschlag. „Wenn du nach Istanbul oder irgendwo in der Türkei kommst, werden Teppichhändler wahrscheinlich die interessan­testen Leute sein, die man treffen kann“, sagt er. „Denn sie müssen etwas gebildeter sein, um einen zu beeindrucken.“ Sie müssten die Kunst des Deals kennen – wie man feilscht, wann ein Abschluss durchzudrücken ist, wann man sachte sein muss. Sie sollten überzeugend und charmant sein. Gut mit Leuten umgehen können. Dazu gehört die Fähigkeit, über eine Reihe an Themen zu sprechen, bei denen es manchmal nur am Rande um die Ware überhaupt geht. Was teilweise daran liegt, dass die potenziellen Kunden davon überzeugt werden müssen, sich von einer oft großen Summe Geldes zu trennen. „Wenn du einen Teppich kaufst, geht es nicht nur um ein Objekt. Du kaufst eine Geschichte“, sagt Ziya.

Hinter jedem alten Teppich oder Kelim steht ein Narrativ. Die meisten gehörten zur Brautgabe, die in einer gesonderten Kiste aufbewahrt wurden. Deren Muster erzählt Geschichten über die Frauen, die sie gemacht haben, sowie ihren Stamm, ihre Überzeugung und ihre Herkunftsregion. Auf den meisten türkischen Knüpfwerken finden sich keine menschlichen oder tierischen Formen, da sie im Qur’an verboten werden. Einige der ­Läufer sind Gebetsteppiche, die von ­Nomaden als Ersatz für eine Moschee gewebt wurden.

Diese Tage der Kunst des Teppichknüpfens in der Türkei liegen zurück. Bis vor 30-40 Jahren wurden Teppiche von Frauen in anatolischen Dörfern gewebt – insbesondere in den Gegenden um ­Konya und Kayseri. Die Traditionen ­wurden von Mutter an Tochter weitergegeben. Oft gingen Regierungs-Banken in die Dörfer, spendeten Webstühle und gaben Teppiche in Auftrag. Diese Praxis wurde eingestellt. Heute gibt es in den anatolischen Dörfern immer weniger Frauen, die weben. Die Zahl derjenigen schwindet, die für hundert Dollar im Monat arbeiten wollen. In der heutigen Türkei kann davon niemand mehr leben.

Einige der Istanbuler Händler gehen nach China, um dort einzukaufen. Die Chinesen brauchen einen Monat für einen Teppich und verkaufen sie für 50 bis 100 Dollar. Sie sind nicht nur billiger, sondern sollen auch eine bessere Verwebung haben. Heute kommen 20 Prozent aller Waren auf dem Teppichbazar aus China.

„Die Tradition wird sterben“, sagt ein anderer Händler, mit dem ich spreche. „Sie ist bereits gestorben. Sie ist schon vor langer Zeit gestorben. Das Einzige, was die Händler haben, ist, dass sie an Touristen verkaufen. Man geht in ein Geschäft und es ist komplett für Touristen eingerichtet. Es basiert auf einer Lüge, einer großen. Und alles, was auf einer Lüge basiert, wird verlieren. Viele Touristen kommen aus verschiedenen Ländern, ohne jegliche Kenntnisse, und wollen einen türkischen Teppich kaufen. Sie bekommen etwas verkauft, ohne sich zu informieren und zu recherchieren. Eines Tages werden sie möglicherweise feststellen, dass er nicht aus der Türkei stammt.“

Südlich von Istanbul auf der asiatischen Seite, am felsigen Ufer des Marmarameers und umgeben von kleinen, verschlafenen Fischerdörfern, liegt die Kleinstadt Hereke. Sie ist Heimat einer der letzten großen Bastionen der türkischen Teppichherstellung. Gegründet im Jahr 1843 haben vier Generationen von Teppichknüpfern hier ihre Ware mit traditionellen osmanischen Mustern geknüpft. Sie profitieren vom natürlichen Wasser, das von den Bergen herabfließt und ins Meer mündet, mit dem die Weber die Teppiche waschen. Einer der heutigen Besitzer wurde in dem Gebäude geboren, das vor 19 Jahren der Regierung gehörte, bevor es privatisiert wurde.

Vor 20 Jahren gab es zwischen 60-70.000 Weber, die in Hereke arbeiteten. Heute sind hier 5-6.000 Menschen für eine Firma tätig. Sie weben für Kunden von den USA bis Japan sowie den heimischen Markt. Die Tradition wird von Mutter zu Tochter weitergegeben. Neben traditionellen osmanischen Dessigns bedient das Unternehmen auch den modernen Geschmack der Neureichen.

Während wir im Ausstellungsraum türkischen Kaffee schlürfen, sind wir von Fotos bekannter Figuren umgeben, die Teppiche aus Hereke erhalten haben. Dazu gehören Papst Benedikt XVI., Kanzlerin Merkel und Bill Clinton. An Wänden eingerahmte Dankesbriefe vom Buckinghampalast und anderen Orten. Wir sehen zwei Frauen zu, die an einem Webstuhl einen Seidenteppich von hoher Qualität weben, sich aber am fragwür­digen, typischen Geschmack der Neu­reichen orientiert.

Das halbfertige Produkt stellt eine grelle Szene an einem modernen Pool mit knapp bekleideten Frauen, Pfauen und Topfpalmen dar. Im fertigen Zustand soll er an der Wand eines Istanbuler Fastfoodmanagers hängen. Solch ein Teppich braucht eineinhalb Jahre zur Fertigstellung. Jede der Frauen erhält 400 Dollar monatlich für ihre Arbeit. Der Endpreis wird bei rund 40.000 Dollar liegen und sollte der Herstellerfirma einen Gewinn von 2-5.000 Dollar bringen.

Im Augenblick müht sich Hereke ­darum, mit der Konkurrenz aus China mitzuhalten, erklärt der Pressesprecher Nurhan Ör. Um den Namen Hereke legal benutzen zu dürfen, haben sie sogar eine Stadt gleichen Namens gegründet, wo sie Teppiche knüpfen lassen. „Das Problem ist die neue Generation“, ruft Ör aus. „Es gibt keine neue Generation für die Produkte. Wir hoffen, noch zehn, fünfzehn Jahre lang produzieren zu können. In zwanzig Jahren werden wir keine neuen Weberinnen mehr finden. Ent­weder das oder wir zahlen tausend Dollar im Monat.“

Der Markt für alte türkische Teppiche hat schwere Zeiten hinter sich. Zurück in Istanbul bringt mich Ali Kemal in sein Lager im Basarviertel. Er wirft einen ­antiken Kelim nach dem anderen hin, bis hier Ware im Wert von mehreren ­Millionen Dollar auf dem Boden liegt. Alles Teppiche, die er nicht verkaufen könne. „Die neue Generation hat einen anderen Geschmack. Sie haben eine andere Einrichtung“, sagt Kemal. „Das Geschäft wird immer weniger profitabel. Die großen Händler machen etwas neben Teppichen. Diese sind nur das Image.“

Bevor ich nach Deutschland aufbreche, macht Kemal mir einen Vorschlag. Es sei eine bekannte Tatsache, dass die besten, alten Teppiche nicht mehr in der Türkei zu finden sind, sondern in Haushalten wohlhabender Deutscher. Diese seien in den 1970ern nach Anatolien gereist, wo sie hochwertige Ware vor Ort gekauft hätten. Ich soll nach Deutschland heimkehren und meine Augen für Teppiche sowie Kelims offenhalten und Kemal anrufen, wenn ich etwas Interessantes sehe.

Zurück in Berlin fand ich einige Händler, mit denen ich über ihr Geschäft sprechen wollte. Ich traf Dr. Razi Hejazin, Besitzer von Art Teppich Kelim, im gutbürgerlichen Stadtteil Wilmersdorf. Dr. Hejazian kam 1986 nach Berlin, um hier Zahnmedizin an der Freien Universität zu studieren. Schließlich interessierte er sich mehr für Kunst und Ethnographie. 1994 eröffnete er seine erste Gallerie, wo er Teppiche beziehungsweise Kelims zeigte, die er bei Forschungsreisen im Nahen Osten und Zentralasien gekauft hatte. Er ist auch einer von 14 vereidigten Experten in Deutschland. Die Leute kontaktieren ihn häufig über den Wert von Ware, die an sie übergegangen ist.

Im Moment stirbt die Generation der deutschen Sammler, die in den siebziger und achtziger Jahren im Rahmen der „Kelim-Welle“ zum Einkaufen von Teppichen und Kelims nach Anatolien reisten, sagt Dr. Hejazian. Sie hinterlässt diese ihren Erben, von denen viele den Experten kontaktieren. Einige Nachkommen haben ihre Ware bei eBay inseriert und wurden von türkischen Händlern angesprochen. „Wenn Sie in Deutschland in Auktionshäuser gehen, finden Sie nur türkische Händler, die hier Teppiche aufkaufen und in der Türkei verkaufen wollen“, sagt Dr. Hejazian. „Ich wage zu behaupten, dass fast jeder antike Kelim, der in Istanbul verkauft wird, aus Deutschland kommt. Jede Woche habe ich zwei oder drei Händler aus der Türkei. Sie sind hungrig nach türkischen Kelims.“

Das Telefon klingelt. Anruferin ist eine Frau, die eine Reihe Teppiche und Kelims geerbt hat und seine Dienste erbittet. Kurz zuvor hatte sie ihre Erbstücke auf eBay inseriert. Sofort hätten sich diese Händler wie Falken auf sie gestürzt. Sie wollten ein Schnäppchen machen und sagten der Frau, die Auslegeware hätte keinen echten Wert. Aber wenn sie ­keinen wirklichen Wert hatten, warum dann das sofortige Interesse?

Es sei tatsächlich so, dass man hier Stücke für ein Butterbrot kaufen und sie in Istanbul teuer verkaufen könne, sagt Dr. Hejazian. „Ein Amerikaner geht nach Istanbul und denkt, dass es dort antike Teppiche geben muss. Und die gibt es auch. Aber er ahnt nicht, dass sie dort in den sechziger oder siebziger Jahren gekauft, nach Deutschland gebracht, repariert und wieder an einen türkischen Händler in Deutschland verkauft wurden. Das ist im Moment der Kreislauf.“