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Das Virus offenbart Lücken

Ausgabe 308

Pandemie
Foto: DITIB Zentralmoschee Köln, Facebook

(iz). Das Jahr 2020 hat bei sehr vielen Menschen in Deutschland Spuren hinterlassen. Seit dem massenhaften Ausbruch der Covid-19-Pandemie bei uns hat sich viel geändert. Bundesbürger mussten spätestens seit Mitte März letzten Jahres mit Einkommenseinbußen, Unternehmenspleiten, Einschränkungen ihrer Grundrechte sowie den seelischen Folgen der Seuche fertig werden. Psychologen und Kinderärzte sprechen seit Längerem von einem „verlorenen Jahr“ für Millionen Kinder, die jetzt keine Schulen und Kindergärten besuchen können.

Obwohl weiterhin eine breite Mehrheit der Deutschen die Pandemiepolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mitträgt und die Einschränkungen des „Lockdowns“ befürwortet, die seit Jahresanfang erneut verschärft und wohl auch verlängert werden, erfahren wir in Deutschland einen kollektiven „Knacks“ (Roger Willemsen). Am mikroskopischen kleinen Virus zeigen sich ansonsten unsichtbare Widersprüche unserer Realität.

Viele Bürger sehen eine nicht immer souverän wirkende politische und kohärent argumentierende Führung sowie Brüche im staatlichen Umgang mit der Pandemie. Jüngstes Beispiel dafür sind die Verzögerungen bei der Verteilung und Verabreichung verfügbarer Impfstoffe. Die Krise war mindestens Katalysator beim Aufstieg der QAnon-Bewegung, die mittlerweile nach den USA hier die zweitgrößte Anhängerschaft zählt.

Die gleiche offenbarende Wirkung, die das Virus auf die Gesamtgesellschaft hat, entfaltet es in der muslimischen Gemeinschaft im Besonderen. Mit dem 19. März trat bis in den Spätsommer hinein eine Begrenzung und dann Einstellung gemeinschaftlicher Gebete in Kraft, an der sich die meisten Moscheegemeinden konsequent beteiligten. Eine Folge war, dass – von „Ausreißern“ abgesehen – der letzte Ramadan sowie die beiden höchsten Feiertage nur im kleinsten Kreis begangen wurden. Deutschlands Muslime können es sich zugutehalten, dass ihre Moscheen bisher nicht zu Infektionsherden für den Coronavirus wurden.

Für nichtmuslimische Mitbürger mag die zeitweise Unterbrechung und spätere strenge Reglementierung der sozialen Spiritualität nicht nennenswert erscheinen. Religionsgemeinschaften wie Muslime trifft sie ins Mark, ist doch unsere religiöse Lebenspraxis bei allen „Säulen“ des Islam in ihren Pflichtelementen durch eine ­soziale Komponente geprägt. Bildlich verkörpert wurden die eindrücklichen Auswirkungen der Pandemie an den monatelang menschenleeren Heiligtümern in Mekka und Medina. Wo sich sogar außerhalb der großen Pilgerfahrt, der Hadsch, die für einen Muslim mindestens einmal im Leben Pflicht ist, Millionen Menschen um die Ka’aba und in der ­Prophetenmoschee von Medina drängten, war lange Zeit gähnende Öde. Der abgesperrte Kubus in Mekka ist Metapher für den Effekt der Pandemie.

Näher am Alltag ist, dass die Moschee in Deutschland für Muslime weit mehr ist als nur Gebetsort und größtenteils unzugänglich geworden ist. Daher standen unsere Gemeinschaften seit dem 19. März vor der Frage, ob und wie sich ein funktionierendes Gemeindeleben ohne soziale Kontakte und virtuell im Internet organisieren ließe. Durch die ungewohnten Bedingungen sahen sich viele einzelnen Gemeinden sowie zivilgesellschaftliche Projekte zu einem Innovationsschub veranlasst. Neue technische Möglichkeiten bieten Chancen, miteinander Informationen und Wissen zu teilen. Welche langfristigen Effekte das für unsere Selbstorganisation haben wird, bleibt offen.

Ein weiteres virulentes Problem wurde unter den Bedingungen der Pandemie sichtbar: Wie sind unsere Moscheen orga­nisiert und wie finanzieren sie sich? Recht früh erreichten unsere Redaktion Nachrichten von kleineren Verbänden oder verbandsfreien Moscheegemeinden, bei denen die ansonsten üblichen Spendensammlungen an Freitagen und anderen Gelegenheiten wegfielen. Hinzu kommt, dass viele Moscheen in Deutschland sich bisher auch durch die Großzügigkeit muslimischer Geschäftsleute finanzierten, deren Geschäfte nun selbst in ein schwieriges Fahrwasser geraten sind. Seit letztem Jahr stehen Verantwortliche, aber auch die Gemeinden als Ganzes in der Pflicht, alternative Lösungen zu finden. Wenn nicht, ist der Bestand einiger Moscheen gefährdet.

Die Frage nach der Zukunft bestehender Organisationsformen führt zu einer weiteren. Waren Repräsentationen der Aufgabe gewachsen, angemessene Antworten auf die Herausforderungen der Pandemie zu finden? Es ist ihnen gelungen, unter dem Dach des KRM sowie der Mitgliedsverbände die allermeisten Gemeinden auf Hygienekonzepte zu ­vereinigen. Darüber hinaus blieb es mehrheitlich still. Auf die Frage nach der materiellen Zukunft muslimischer Gemeinschaften sowie spiritueller Sozialität in Seuchenzeiten sind konstruktive ­Antworten noch nicht formuliert.