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Politik und Wahrheit: Was schrieb Hannah Arendt zum Thema?

Ausgabe 308

Foto: US N.A.R.A, via Wikimedia Commons

„Der Historiker weiß, wie verletzlich das ganze Gewebe faktischer Realitäten ist, darin wir unser tägliches Leben verbringen. Es ist immer in Gefahr, von einzelnen Lügen durchlöchert oder durch das organisierte Lügen von Gruppen, Nationen oder Klassen in Fetzen gerissen (…) zu werden (…).“ Arendt, Hannah. „Wahrheit und Lüge in der Politik“

(Aeon). Wenn ich heute Hannah Arendt lehre, lachen die Leute normalerweise, wenn ich sage, dass Wahrheit und Politik niemals auf gutem Fuße standen. Und dass die Lüge immer als Werkzeug politischen Handelns gerechtfertigt wurde.

Von Samantha Rose Hill

Fakenews sind nicht neu in der Politik. Seit langer Zeit werden Kampagnen durch PR-Experten betrieben. Es sollte uns nicht verwundern, dass die Unwahrheiten so zahlreich und so durchschaubar wurden, dass wir sie beinahe voraussetzen. Lügen wurden zur Faser im Gewebe des alltäglichen Lebens.

Aber Teil von Arendts Punkt, ihre Essays „Die Lüge in der Politik“ und „Wahrheit und Politik“ zu schreiben, die heute so häufig zitiert wurden, bestand darin, dass wir niemals wirklich in der Lage waren, Wahrhaftigkeit von Politikern zu erwarten. Wahrheit Sprechende waren Außenseiter, Aussätzige und – wie Sokrates – für Verbannung oder Tod bestimmt. Unwahrheit war immer Werkzeug für politische Vorteile und Gefälligkeiten.

Warum beklagen wir plötzlich das ­Erscheinen von Fakenews? Wieso sind Sendungen von Faktenprüfern und die Kontrolle der Tatsachenbehauptungen zum alltäglichen Gegenstand politischer Debatten geworden? Warum kümmern wir uns in diesem spezifischen Moment so sehr um die Wahrheit?

Es ist nicht so, als wäre Politik plötzlich eine Quelle für moralische Empörung. Das war sie schon immer. Wir sorgen uns um Wahrheit, denn wir haben alles andere verloren. Uns ist die Fähigkeit des unbefangenen Sprechens abhanden gekommen. Wir haben die Fähigkeit verloren, Meinungen als gegeben zu betrachten. Wir haben das Vertrauen an Wissenschaft und Experten verloren. Wir haben das Vertrauen in unsere politische Institutionen verloren (…) und das in unsere ­Demokratie selbst.

Es ist traurige Realität, dass Wahrhaftigkeit uns nicht retten kann. Wir können der Macht den ganzen Tag die Wahrheit sagen und sie wird niemals gehört werden, weil sie und Politik nie eine gemeinsame Grundlage hatten. Das ist Arendts Argument. Beide sprechen nicht die gleiche Sprache. Es heißt aber nicht, sie seien nicht verwandt.

Immer, wenn Arendt in „Wahrheit und Politik“ über Wahrheit schreibt, spezifiziert sie genau, welche sie meint: his­torische, triviale Wahrheit, irgendeine, psychologische, paradoxe, reale Wahrheit, philosophische, verborgene, alte, offenkundige, relevante, rationale, machtlose, teilnahmslose, mathematische, halb-wahre, absolute und faktische Wahrheit. Da gibt es kein „die Wahrheit“, sondern nur Wahrheit in Bezug auf etwas ­bestimmtes. Die von ihr angefügten ­Adjektive transformieren das Konzept in etwas Weltliches.

In „Die Ursprünge des Totalitarismus“ tauchen verschiede Formen von Wahrheit in Bezug auf spezifische Punkte auf, die Arendt diskutiert: Bilder verzerren beispielsweise die Realität oder politische Rhetorik ist notwendigerweise ein Akt der Verzerrung; eine Veränderung unseres herkömmlichen Verständnisses von ihr. In der Politik hören wir Phrasen wie „der Kern der Sache ist…“ oder „sagen Sie einfach die Wahrheit“. Sie wird immer in Begriffen von Nachbarschaft, Distanz und Nähe ausgedrückt. Wir nähern uns der Wahrheit und entfernen uns von ihr.

Die Wahrheit sprechen ist verbunden mit unserem Verständnis des üblichen Bereichs der menschlichen Existenz, unserer Welt zum In-der-Welt-sein und des Teilens unserer Erfahrungen miteinander. Die Moderne hat uns gelehrt, dass rationale Wahrheit vom menschlichen Verstand hervorgebracht wird. Dass wir skeptisch, zynisch und misstrauisch sein müssten. Und nicht länger unseren Sinnen vertrauen könnten. So sehr, dass wir selbst nicht mehr die Fähigkeit haben, Bedeutungen aus unseren Erfahrungen zu schöpfen. Der Preis war das gemeinsame Gefüge der Realität, der Sinn, mit dem wir uns in der Welt zurechtfinden.

Tatsachen und Ereignisse sind das Ergebnis des gemeinsamen Lebens und Handelns. Die Aufzeichnung der beiden ist verwoben in die gemeinsame Erinnerung und Geschichte. Sie sind die ­Geschichte, die wir erzählen, und die Traditionen, welche wir herausfordern oder aufrechterhalten. Alle verleihen uns ein Gefühl für Widerstandsfähigkeit in der Welt. Wir brauchen diese Art Wahrheit, um einen gemeinsamen Boden zu haben, auf dem wir stehen können, und damit jede/r Einzelne Erfahrungen teilen und ihre Bedeutungen erkennen kann. Diese Tatsachen und Ereignisse machen aus, was Arendt „faktische Realität“ nannte. Sie werden die Artefakte des ­gemeinsamen Lebens. Und es ist ihre sachbezogene Wahrheit, die uns am ­meisten Sorgen muss.

Sie ist am meisten durch Verschwinden gefährdet und in einen Kampf mit der politischen Macht verwickelt. Es ist ihre Verwundbarkeit, die Täuschung ermöglicht. Aber selbst das ist nicht neu. Die faktische Realität war schon immer gefährdet. Sie kann leicht manipuliert werden und unterliegt Zensur und Missbrauch. Arendt warnt uns davor, dass sie gefährdet ist, „aus der Welt für eine Weile und möglicherweise für immer“ manövriert zu werden. „Tatsachen und Ereignisse“, schreibt sie, „sind unendlich viel gefährdeter als was immer der menschliche Geist entdecken oder ersinnen kann“.

Tatsachen wandeln sich, denn wir lieben in der sich ständig verändernden Welt menschlicher Angelegenheiten. Menschen können aus Geschichtsbüchern entfernt werden. Denkmäler können gestürzt werden. Sprache verändert sich, denn Bedeutungen sind formbar. Nichts davon ist neu. Das geschah immer und wird weiterhin geschehen, es zeigt aber „wie verletzlich das ganze Gewebe faktischer Realitäten ist, darin wir unser tägliches Leben verbringen (…)“.

Als Hannah Arendt diese Worte schrieb, antwortet sie auf die Lügen, die vom Präsidenten Richard Nixon über den Vietnamkrieg erzählt und in den Pentagon-Papieren enthüllt wurden. Die Unwahrheit, vor der wir heute stehen, ist sowohl ähnlich als auch verschieden. Man könnte behaupten, dass ein gewisses Ausfransen nötig sei, um neue Geschichten zu weben. Aber die Schlussfolgerung der Denkerin ist eine andere: Wenn wir die Fähigkeit verlieren, aus unseren Erfahrungen ungehindert einen Sinn zu ziehen und ihn in die Aufzeichnung der menschlichen Existenz aufzunehmen, gefährden wir zusätzlich unsere Fähigkeit, Urteile zu fällen sowie zwischen Fakten und Fiktionen zu unterscheiden.

Das ist der Kern von Lüge in der ­Politik. Politische Unwahrheit wurde ­immer genutzt, um es den Menschen schwer zu machen, sich zu vertrauen oder eine mündige Meinung auf Grundlage von Tatsachen zu formulieren. Dank der Schwächung unserer Befähigung, auf die eigenen geistigen Fähigkeiten zu vertrauen, müssen wir auf die Urteile anderer ausweichen. Gleichzeitig, und wie Hannah Arendt in der Zeit von Nixon sah, hat das Lügen im politischen Handeln auch den Effekt, politische Institutionen ins Wanken zu bringen, indem die Fähigkeit der Bürger zerstört wird, auf ­Politiker zu vertrauen und sie zur Rechenschaft zu ziehen.

Wir brauchen die faktische Wahrheit, um Menschen zu schützen – wie das Wissen von Ärzten, die helfen können, die Ausbreitung von Covid-19 zu stoppen. Wir müssen in der Lage sein, einige dieser Tatsachenwahrheiten als selbstverständlich zu betrachten, damit wir die Welt gemeinsam teilen und uns frei durch unser tägliches Leben bewegen können. Aber heute wird Unsicherheit durch Selbstzweifel und Angst vor Selbstwiderspruch angeheizt. Wenn wir uns nicht mehr vertrauen können, verlieren wir ­unseren gesunden Menschenverstand – unseren sechsten Sinn –, der unser ­Zusammenleben ermöglicht.

Wahrheit ist nicht politisch. Wenn überhaupt, ist sie unpolitisch. In der ­Geschichte stand sie oft gegen die Politik. Wahrheit Sprechende standen als Ziele der kollektiven Verachtung immer außerhalb des Politischen. Sokrates wurde zum Tode verurteilt, Thoreau ins Gefängnis geworfen und Martin Luther King ermordet. Ich denke, das ist der Grund, warum Leute lachen, wenn ich Arendts Beobachtung wiederhole, ­wonach Wahrheit und Politik niemals auf gutem Fuße stünden. Wir wissen, dass diese Wahrnehmung etwas Wahres hat. Und doch hoffen wir immer, dass Wahrheit uns retten wird. Es ist ein verzweifelter Ruf und Bitte um Anerkennung – das Geräusch einer trauernden Demokratie.

Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass Hannah Arendt „Wahrheit und Politik“ als Entgegnung zu den Reaktionen schrieb, die sie nach der Veröffentlichung ihres Buches „Eichmann in Jerusalem“ erfahren hatte. Was sie am meisten sorgte, war eine Form politischer Propaganda, die Lügen benutzt zur Auflösung von Realität. Aber die Nebenwirkung dieser Lügen und Propaganda ist die Zerstörung eines Gefühls, dank dem wir uns in der Welt zurechtfinden können. Das ist der Verlust des Allgemeinguts wie des gesunden Menschenverstands.

Wie Arendt selbst realisierte, ist das wahre Sprechen in der Öffentlichkeit gefährlich. Sie glaubte, eine Aufzeichnung ihrer Erfahrungen anzubieten und ihr Urteil bezüglich Eichmann schriftlich weiterzugeben. Als Gegenleistung erlebte sie eine Anklage gegen ihre Persönlichkeit und eine Litanei von Lügen, die auf ein Buch reagierten, das sie nie geschrieben hatte. Trotzdem machte die ewige Gefahr des wahren Sprechens Arendt mehr, und nicht weniger, entschlossen, der Lüge im politischen Handeln zu widersprechen. Sie erkannte, dass man, wenn man Menschen aufgrund ihrer Meinung oder ihrer gelebten Erfahrung von Realität einen Platz auf der Welt verweigert, das ­gemeinsame Gefüge der Menschheit zerstören könnte – die Tatsache, dass wir gemeinsam auf der Erde leben und die Welt gemeinsam schaffen.

Zum Ende ihres Lebens befragt, ob sie „Eichmann in Jerusalem“ trotz aller entstanden Schwierigkeiten veröffentlicht hätte, blieb sie entschlossen. Sie berief sich auf die klassische Maxime „Lass ­Gerechtigkeit geschehen, obwohl die Welt zugrunde geht“ und lehnte sie dann ab. Stattdessen stellte sie eine Frage, die ihr drängender erschien: „Lass Wahrheit sprechen, obwohl die Welt zugrunde geht?“ Ihre Antwort war: ja.

Der Text wurde vom Online-Magazine „Aeon“ im Rahmen einer CC NC-­Lizenz veröffentlicht.