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Stellen wir die falschen Fragen?

Ausgabe 245

Die Gelehrten müssen sich ihrer Verantwortung bewusst werden. Dafür brauchen sie das richtige Umfeld.

(iz). Spätestens seit dem Erscheinen irrationaler Strukturen wie Al-Qaida oder einem angeblichen „Islamischen Staat“ ist vielen die fundamentale Rolle von Gelehrten wieder in den Sinn gekommen. Nicht von ungefähr formulierten diese die bisher substanziellsten Zurückweisungen von verschiedenen sektiererischen Gewaltideologen und dem konkreten Verhalten ihrer Anhänger. Ganz unabhängig davon ist seit Längerem eine Rückwendung zu den Wissenden und ihrer Funktion wahrzunehmen – gerade unter jungen Muslimen. Nicht selten das Resultat einer Enttäuschung mit dem Modernismus des 20. Jahrhunderts sowie den diversen Spielarten des „politischen Islam“ – sei dieser staatstragend oder nicht.
Allerdings bleibt, wenn wir uns auf die europäischen Gemeinschaften beschränken, die „Berufung“ beziehungsweise die „Person“ oft noch unbestimmt. Keine Frage, ein durch Gelehrte vermitteltes und qualifiziertes Wissen ist auch eine Antwort auf die negativen Tendenzen unter heutigen Muslimen. Ihr, idealerweise, greifbares Vorbild, eine soziale Realität im Rahmen einer lebendigen Gemeinschaft sowie der Prozess der Übertragung von Wissen (siehe S. 10), erfuhr in den letzten Jahren allerdings stellenweise eine Veränderung.
Ich mache immer gerne den Versuch und frage viele Gesprächspartner in Deutschland, wer für sie derzeit die zehn relevantesten muslimischen Gelehrten sind. Im Laufe der Zeit werden interessanterweise nicht mehr, sondern weniger Personen genannt.
Drei mögliche Entwicklungsrichtungen haben sich kristallisiert (es geht natürlich um abstrakte Typen, nicht um reale Personen): Der Gelehrte, der zum „Politiker“ oder einer „Person des öffentlichen Lebens“ wird. Alleine schon aus Gründen einer de facto Abhängigkeit vom symbolischen Kapital ist die Freiheit der Lehre gefährdet. Ein zweiter Typus ist der öffentlich bestallte Gelehrte, der – unabhängig vom Geldgeber – zu liefern, und zu schweigen, hat, weil ihm (oder ihr) ansonsten die Subsistenz entzogen wird. Und schließlich haben wir denjenigen, der sich in der Heiligkeit selbst abgesteckter Komfortzonen bewegt. Naturgemäß gibt es wenig Antrieb, diese beim Versuch zu verlassen, zu relevanten Fragen Stellung zu beziehen. Und weil jedes Sein in der Welt Fehler und Kompromisse mit sich bringt, verharrt er, wo er ist, um korrekt zu bleiben. Es ist kein Zufall, dass es in Deutschland – von Ausnahmen abgesehen – seit dem 11. September nur wenige Wortmeldungen (jenseits des Terror- und Sicherheitskomplexes) von Gelehrten zu den größten Herausforderungen der Community gegeben hat. Dabei gäbe es doch so viel zu sagen…
Am 11. September dieses Jahres veröffentlichte der britische Mediziner und Blogger Sameer Mallick auf dem dortigen Ableger des lesenswerten Medienpro­jektes Islamicate eine kritische Bilanz der jetzigen Gelehrsamkeit in seinem Land. Trotz aller regionalen Unterschiede benennt der Autor Aspekte, Herausforderungen und Fehlentwicklungen, die sich so auch bei uns finden lassen. Und er schreibt ganz bewusst von der „Warte eines Laien“. Als reflektierender deutscher Muslim findet man sich in Mallicks Beschreibungen durchaus wieder.
Es werde im Überfluss deutlich, so der Brite, dass angesichts von Herausforderungen, die von den großen Fragen „bis zu den mondänen Punkten wie der Festlegung von Gebets- und Fastenzeiten“ reichen, ein massives Vakuum bei der islamischen Gelehrsamkeit in Großbritannien herrsche. Als einfacher Muslim, der sich um eine gewissenhafte Praxis in seiner Gesellschaft bemühe, fühle er sich manchmal verlassen, weil niemand die fundamentalen Fragen anspreche.
Viele andere, die so dächten wie er, würden zustimmen, dass die Gelehrten sich gemeinschaftlich um Strukturen kümmern müssten, denen die nötige Autorität zukomme. Überhaupt war es ja nicht der einzelne Gelehrte als „Star“ oder „Persönlichkeit“, sondern vielmehr die „Republik der Gelehrten“, die die Rückbindung des Wissens an das Phänomen Medina gewährleisteten. Mallick geht es auch nicht um „bessere Vorbeter“ mit nur oberflächlicher Kenntnis „des islamischen Rechts und seiner Anwendung“. Vielmehr braucht es: „Eine Gruppe von Individuen, die von dem gleichen Kaliber sind wie die klassischen Gelehrten, an die wir uns so gerne erinnern.“ Sie hätten die Gesellschaften, in denen sie leben, verstanden und böten Lösungen für die Fragen ihrer Zeit und ihres Ortes an.
Es wäre allerdings unfair, die jetzige Lage der Gelehrsamkeit in den Gemeinschaften der westeuropäischen Muslime ausschließlich den „Profis“ vorhalten zu wollen. Positiv gedacht ist unser Din ein soziales Phänomen. So wie der Qur’an, woran mehrere Gelehrte in den letzten Jahren erinnerten, „nicht vom Himmel fiel“, sondern sich in einer sozialen Situation entfaltete, sind Lage und Verhalten dieser Experten der islamischen Wissenschaften nicht von den sie umgebenden Gemeinschaften zu trennen.
Im negativen Fall stellt sich die Frage, wie die soziale Realität von Muslimen beschaffen ist, welche die jetzige Lage der Realitäten hervorbringt. „Vielleicht wird uns die Realität der Situation bewusst“, so Mallick, „dass die Wurzel des Problems unter uns liegt“. Tatsächlich „würden wir als die religiösen Laien“ den wahren Wert der Gelehrten nicht zu schätzen wissen. Man sei nicht vorbereitet, ihnen die nötige finanzielle Unterstützung für eine langfristige Entwicklung zu verbindlichen religiösen Stimmen zu gewähren. Sameer Mallicks Aussage ließe sich so direkt auf die deutsche Lage übertragen. Während die muslimischen Organisationen mindestens 20 Jahre Zeit hatten, verbindliche Einrichtungen für die Höhere Bildung zu schaffen, setzen sie nun mehrheitlich auf den Staat als ausführendes Organ zur Ausbildung von „Gelehrten“. Ist das ein Abbild der realen Wertschätzung für diese nötigen Fachleute?