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Islam: Der Tradition und dem Kontext gerecht werden

Ausgabe 266

Foto: Bjørn Christian Tørrissen | Lizenz: CC BY-SA 3.0

(iz). Ali Ghandour wurde 1983 in Casablanca geboren. Er studierte an der Universität Leipzig Arabistik und ­Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Islamwissenschaft. Seit dem Sommer 2012 promoviert er in der Islamischen Theologie. In seiner Dissertation untersucht er die Erkenntnistheorie von Muhji ad-Din Ibn Arabi.
Mit Ali Ghandour sprachen wir über aktuelle Entwicklungen und Veränderungen im muslimischen Denken, die ganzheitliche Tradition der muslimischen Lebensweise und warum sie gerade heute so wichtig ist.
Frage: Um zu wissen, woher man kommt und wohin man will, muss man wissen, wo man sich gerade befindet. Wo stehen wir im Moment?
Ali Ghandour: Ich glaube, wir stehen nicht, sondern werden von einer Welle gezogen. Sie spült uns zum Strand einer Wirklichkeit, in welcher die Welt anders, als wir sie heute kennen, aussieht. Eine Welt, in der beispielsweise die Grenze zwischen virtuell und materiell immer verschwommener wird. Wir bewegen uns auch in einer Zeit, in der Konzepte und Begriffe, die bis dato für viele selbstverständlich waren, stark in Frage gestellt beziehungsweise umgedeutet oder gar überwunden werden.
Diese radikalen Veränderungen, die auf kurze und mittlere Sicht immer präsenter in allen Lebensbereichen sein werden, sind eine Herausforderung für die Fragen „woher man kommt“. Als Muslim bedeutet das für mich auch eine Herausforderung der eigenen Tradition.
Frage: Von Konfuzius stammt die Erkenntnis, dass eine trennscharfe Klarheit der Begriffe eine Vorbedingung für die Möglichkeit des Handelns ist. Sind wir (im Sinne von „wir deutschen Muslime“) nicht gefordert, jene Klarheit zu schaffen – auch als Akt der geistigen Souveränität und Freiheit? Und welche Rolle kommt dabei der herausgeforderten Tradition zu?
Ali Ghandour: Es ist in der Tat eine Herausforderung an uns, das prophetische Erbe in Begriffen zu vermitteln, die sowohl dieser Tradition gerecht werden als auch in unserem Kontext sinnvoll sind. Leider ist es so, dass viele Muslime seit Anfang des 20. Jahrhunderts Konzepte und Begriffe übernommen haben, ohne diese kritisch genug zu hinterfragen. Dies wiederum führte nicht nur oft zu konstruierten Problemen sprachlicher Natur, sondern auch zu einer Ideologisierung der eigenen Tradition.
Nicht mehr der Mensch und seine Handlung sind im Zentrum, sondern die Idee. Sie ist Selbstzweck geworden. Viele zentrale Begriffe wie Islam oder Fiqh, drücken eine menschliche Handlung aus. Islam heißt in der Tradition der Akt der Hingabe. Es wurde nicht als ein geschlossenes System und schon gar nicht als Eigenname für eine Religion verstanden, da das Konzept Religion als Kategorie an sich den Menschen der Vormoderne unbekannt war. Das gleiche gilt beispielsweise für Fiqh. Das Wort bedeutet „das Verstehen“. Es ist somit ein Prozess, eine Handlung in der Zeit. Übersetzt man Fiqh mit „Recht“ oder schlimmer mit „Islamisches Recht“, dann vermittelt man den Anschein, dass es sich hier um etwas Statisches handelt.
Das Problem, was ich da sehe, ist, dass ab dem Moment, wo man zentrale Begriffe nicht mehr als Prozesse und Handlungen sieht und sie als Systeme imaginiert, eine Dichotomie zwischen dem Muslim und seinem Muslimsein entsteht. Die Vorstellung, dass „der Islam“ ein Objekt außerhalb des Wesens des Muslims wäre, ist der erste Schritt in die falsche Richtung.
Frage: Wir haben uns des Öfteren gewundert, dass und wie viele Leute eigentlich ganz genau zu wissen meinen, was „Islam“ sei.
Ali Ghandour: Immer wenn der Prophet, Allahs Segen und Heil auf ihm, nach dem Islam, also nach der Hingabe, gefragt wurde, verknüpfte er die Hingabe (Islam) erstaunlicherweise mit konkreten Handlungen. Die Hingabe sind die fünf Säulen. Die Hingabe ist, andere von seinem Übel zu verschonen. Die Hingabe ist, sich um Bedürftige zu kümmern und ähnliche Aussagen, die wir in der Sunna finden.
Und hier zeigt sich das eigentliche Problem. Die Hingabe ist vor allem – wenn nicht nur – eine Sammlung von Handlungen, die von einem Menschen entweder durch das Herz oder durch den Körper ausgeführt werden. Es ist keine abstrakte Idee oder eine abstrakte Kategorie.
Heute reden wir über „den Islam“, als ob er eine Entität wäre. Wie oft hören wir Sätze wie: „Der Islam will“, „der Islam meint“ oder „der Islam kann“ und merken nicht, dass wir aus dem Akt der Hingabe (islam klein geschrieben) etwas machen, was einem mythologischen Wesen gleicht, welches wir Islam (groß geschrieben) nennen.
In der heutigen Sprache vieler Muslime wird dieser Islam als etwas imaginiert, was selbstständig wäre oder etwas, was separat von uns läge. In der Tradition gibt es einen zentralen Begriff, ’Amal, was so viel bedeutet wie Handlung beziehungsweise Praxis. Dieser Aspekt kommt zu kurz, wenn wir über unser Muslimsein reden. Und natürlich ist das gelebte Vorbild des Propheten hier von Wichtigkeit. Besonders auf der Ebene von ’Amal zeigt sich die Rolle einer gelebten spirituellen Tradition, bei welcher der Fokus auf die Mensch-Mensch-Beziehung gelegt ist. Wir stehen heute oft vor abstrakten Dingen als Bezugspunkt für die eigene Handlung. Das ist die Grundlage vieler Übel unserer Zeit.
Islamische Zeitung: Als Muslime in Deutschland sind wir heute stark mit etwas beschäftigt, das manchmal als „Identity Politics“ beschrieben wird. Ist das nicht im muslimischen Denken eine neue Erscheinung?
Ali Ghandour: Ich würde dem zustimmen. Zumindest kenne ich eine Frage nach der Identität weder aus unserer Tradition, noch aus unserer Geschichte. Es gibt sehr viele Beispiele, die das Gegenteil von dem, was heute erlebt wird, beweisen.
Nur zwei Beispiele: Nehmen wir den Fall der Muslime in Spanien. Als Araber und Berber dorthin kamen, haben sie sich nach zwei bis drei Generation als „Andalusier“ bezeichnet. Und sie haben eine gewisse Distanz zu den Arabern oder Berbern in Nordafrika entwickelt. Ihr Dasein war mit dem Ort, an dem sie waren, verbunden. Es war keine Abschottung eines „wir“ gegen „die“. Die heutigen Trennungen kennt man nicht aus Andalusien.
Ein anderes, evidentes Beispiel ist China. Hier gab es keine starke Einwanderung von Arabern oder Persern. Die Chinesen, die Muslime wurden, haben sich nie die Frage gestellt, ob sie noch Chinesen seien. Dort waren sie Mitglieder der Mittelschicht, hohe Beamte und Generäle. Es gab dieses Problem nicht mit einem Zwang zur Distanz von allem, was nicht dem Muslimsein entspricht.
Ich glaube, dieses Problem kam Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts auf. Damals fing man an, Muslimsein zu ethnitisieren und zu nationalisieren. Damals wurden Schwierigkeiten falsch kategorisiert. Was nicht viel mit Islam zu tun hatte, wurde ab dann islamisiert. Plötzlich war das Muslimsein als Gegenteil zu Europäern oder Kolonialherren zu verstehen. In diesem Augenblick kam es zur Vermischung von „Araber“ und Muslim oder „Türke“ und Muslim, die leider bis heute besteht.
Islamische Zeitung: Was ebenfalls auffällt, ist im Mainstream der Muslime ein quasi-schiitischer Zug in der Betonung des „Opfers“. Wie sah in der Tradition der Umgang mit vergleichbaren Phänomenen aus?
Ali Ghandour: Ich würde sogar behaupten, dass die schiitische Lehre dieses Opfersein in der heutigen Form nicht kennt. Das ist ein Phänomen, das nach der iranischen Revolution entstand. Ich würde sagen, dass selbst diese Revolution durch Gedanken infiziert wurde, die fremd sind.
Von diesem Opferzustand haben jetzt auch die Nicht-Schiiten etwas abbekommen. Vor einiger Zeit habe ich in einem Gespräch über heutige palästinensische Dichtung gesagt, dass ich die Gedichte von Palästinensern im Ausland nicht mag, weil ihre Lyrik voller Pessimismus und der Betonung des Opfers ist. Derjenige, der davon berührt wird, kennt die Geschichte der Muslime nicht. Es gab schlimmere Zeiten als heute. Die Leute sollten lesen, wie die Mongolen ganz Mittelasien entleerten. Oder die Genozide in Spanien beziehungsweise die Kreuzzüge in der Levante. Vergleicht man die damalige Literatur mit der heutigen, findet man nicht dieses Aufgeben und keine Endzeitstimmung. Man kann Trauer zeigen, aber ohne Pessimismus oder Negativität.
Islamische Zeitung: Ist dieser Trend im Kern, von der Lehre und der ’Aqida betrachtet, nicht ein Novum, das auch für eine Deformation steht?
Ali Ghandour: Die Kernfragen der prophetischen Botschaft spielen in meiner Wahrnehmung heutzutage kaum noch eine Rolle. Ich kenne kaum Muslime, die nachts aufstehen und für diejenigen, die sie als Feinde ansehen, beten. Für viele ist das Ganze rein weltlich. Sie sehen einen Feind, den es zu vernichten gilt. Es geht nicht darum, eine Botschaft zu vermitteln.
Es ging dem Propheten, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, und seinen Gefährten nicht um Sieg. Der Triumph über die Mekkaner war nie Sinn und Zweck seiner Botschaft. Als er den Sieg erhielt, wollte er ganz andere Dinge. Das ist für mich ein Kern der prophetischen Botschaft: Dass es nie um eine weltliche Konfrontation geht.
Auch wenn es stimmt, dass Muslime unterdrückt werden, soll das Muslimsein Grund dafür sein, „Feinde“ anders zu betrachten. Und sie nicht so zu sehen, wie sie uns sehen. Ansonsten gibt es keinen Unterschied.
Islamische Zeitung: Es gibt ja die bekannte Aussage von Omar al-Mukhtar: „Sie sind nicht unsere Lehrer.“
Ali Ghandour: Genau. Das passiert heute, wenn wir bestimmte Strömungen unter Muslimen sehen. Sie übernehmen eine sehr problematische Denkweise. Diese basiert auf Hass und auf „Gerechtigkeit“. Aber das ist eine kurzfristige, eine weltliche.
Wir hören sehr oft den Begriff „privilegiert“. Aber diese beiden Kategorien entstammen philosophischen und soziologischen Strömungen. Wenn wir das Ganze aus der Glaubensperspektive sehen, stellt sich die Frage: Wer ist privilegiert? Derjenige, der „es gibt keinen Gott außer Allah“ sagt. Derjenige, der die Person des Propheten kennt. Der seine Gebete praktiziert und eine Süße im Glauben empfindet. All das sind Privilegien. Sieht man das Ganze so, dann trägt man Verantwortung gegenüber denjenigen, die in diesem Sinne nicht privilegiert sind.
Islamische Zeitung: Um das Pferd anders aufzuzäumen, so gab es historisch viele aufstrebende muslimische Gemeinwesen, im Sinne Ibn Khalduns, die ihren Aufstieg dem Bemühen um weltliche, gerade ökonomische Gerechtigkeit zu verdanken hatten.
Ali Ghandour: Auf jeden Fall. Mit „Gerechtigkeit“ meinte ich, dass hier nur ein einziges Prinzip isoliert genommen wird, um den Din zu verstehen. Dabei gibt es noch andere wie Liebe und Barmherzigkeit. Tatsächlich gibt es heute junge Muslime, die meinen, wir seien zu lange barmherzig gewesen, jetzt müsse Gerechtigkeit her. Man kann nicht nur einen Teil nehmen, sondern muss das Ganze betrachten.
Islamische Zeitung: Verweisen all diese Phänomene nicht auf eine langfristige Säkularisierung des gemeinschaftlichen muslimischen Denkens und Verstehens?
Ali Ghandour: Ich würde nicht nur den Akteuren etwas vorwerfen, sondern noch weiter gehen. Das, was heute als „Islam“ dargestellt wird, ist „ent-göttlicht“ und ent-spiritualisiert. Oft habe ich mehrere Tage in der Woche, an denen ich mich mit traditionellen Texten beschäftige. Wenn ich dann am Freitag in die Moschee gehe und der Predigt zuhöre, frage ich mich manchmal beinahe, ob ich es hier mit zwei verschiedenen Religionen zu tun habe.
Es gibt hier zwei Punkte. Die Denkweise, dass Allah hinter allem steht, ist stark in den Hintergrund getreten. Kaum einer wird das sagen, obwohl das eigentlich das erste Fundament ist, wenn man die Glaubenslehre der Mehrheit zum Maßstab nimmt. Hinter jeder Bewegung in dieser Welt steht die göttliche Macht und der göttliche Wille. Der zweite Punkt ist, diesen Willen zu verstehen, um zu handeln. Den Willen Allahs in seinem Leben zu verstehen und dementsprechend zu agieren, ist die klassische Aufgabe von Tasawwuf. Die theoretische Glaubenslehre ist etwas Erlerntes. Sie auszuleben und zu erfahren, gehört zum Tasawwuf.
Beide Punkte sind leider nicht mehr so stark in unserer Community vertreten. Man versucht, die Welt rein weltlich aus der Welt zu erklären. Das ist nicht verkehrt, kann aber nicht als „Islam“ verkauft werden.
Was mir hier ebenfalls nicht gefällt, ist diese Trennung zwischen Mehrheitsgesellschaft und Muslimen. Ich habe mich niemals als Minderheit empfunden. Das ist immer eine Frage dessen, wie man sich selbst sieht. Und ich bin nicht mal in Deutschland geboren. Wenn man nur den Islam als Kriterium zur Trennung zwischen Mehrheit und Minderheit nimmt, ist mir das zu wenig.
Islamische Zeitung: Wobei wir wieder bei der Identitätspolitik wären…
Ali Ghandour: …und es ist oberflächlich. Ich habe mehr mit den Menschen in meiner Hamburger Umgebung zu tun, und all ihren Alltagssorgen, als mit meiner Familie in Marokko oder mit Arabern in Ägypten. Mit ihnen teile ich nicht den gleichen Lebensraum.
Islamische Zeitung: Seit 9/11 haben Muslime gemeinschaftlich, aus der Lehre und in den Verbänden häufig gesagt, was die Sache nicht ist, nicht sein kann. Das mag nötig gewesen sein. Ist es nicht gleichzeitig wichtig, dass wir definieren, was wir tun wollen?
Ali Ghandour: (Überlegt) Ich denke, das wird gemacht. Große Probleme habe ich mit dem Wie.
Wenn ich ein Angebot formulieren möchte, dann läuft es nach folgendem Muster: Es gibt ein Problem X. Dann kommt der Muslim A und sagt, dass „es im Islam soundso“ sei. In dem Moment ist er tiefsäkular. Er schafft bereits eine Grenze zwischen sich und dem Islam. Ich habe einen längeren Text dazu geschrieben, der irgendwann im Laufe des Jahres erscheinen wird. Es gibt Satzkonstrukte, die sich überhaupt nicht in der Tradition finden. Man handelte, ohne es „Islam“ zu nennen. In dem Moment, in dem ich Muslim bin, und meine Grundlagen sind, was Allah offenbarte, was die Propheten taten und die Gelehrten sagten, dann sind das die Grundlagen. Eine andere Grundlage ist der Ort, an dem man lebt. Und dann lebe ich das einfach aus.
Islamische Zeitung: Und so, wie es die Situation nötig macht…
Ali Ghandour: Genau. Ohne das Ganze überhaupt benennen zu müssen. Das ist so, wie Ali der Muslim handelt. Ich habe das Gefühl, es wird zu viel geredet. „Islam“ ist ein Diskussionsthema, aber keine Grundlage für das Handeln.
Islamische Zeitung: Wir sprachen über das Handeln. Dankenswerterweise gibt es gerade unter jungen Muslime eine Bewegung weg von den großen Ideologien wieder hin zur Wertschätzung von Gelehrten. Es findet viel statt, aber eben auch manchmal in selbstabgesteckten Zonen der Korrektheit. Gibt es a.) nicht ein gewisses Abgleiten in ein modernes „Imamat“? Übersieht b.) diese starke Fokussierung auf Gelehrte nicht, dass es nicht auch den Faktor Autorität braucht? Benötigt es nicht auch c.) eine aktive Gemeinschaft?
Ali Ghandour: Dieses Thema ist in unserem Kontext recht problematisch. In anderen Ländern wie Marokko gibt es andere Zusammenhänge.
Für uns sehe ich einige Punkte. Erstens, haben wir noch keine optimale Organisationsform. Nur wenige Gemeinden haben es geschafft, eine lebendige Gemeinschaft zu entwickeln. Bei allem Respekt für die Verbandslandschaft, aber das ist nicht, was ich unter einer lebendigen Gemeinde verstehe. Ich sehe mehr Politik als Religion.
Zweitens, hat die muslimische Community in Deutschland ein weiteres Problem. Das ist die Ethnisierung und Nationalisierung. Die Leute sind nach Herkunftsnationen aufgeteilt. Bis jetzt sind multi- oder über-ethnische Moscheen sehr selten. Wir haben immer noch Moscheen, bei denen die Nation Kriterium Nummer eins ist und nicht eine bestimmte Auslegung des Islam. Man stelle sich vor, die Prophetengefährten hätten nach ihrer Ankunft in Ägypten oder Syrien ein Ghetto für sich errichtet und gemeint, sie wollten nichts mit dem Rest der Bevölkerung zu tun haben. Wäre es so gewesen, wäre kein Mensch Muslim geworden.
Drittens, fängt es schon mit dem banalen Fakt an, dass wir in unseren Moscheen keine gemeinsame Sprache haben. Ich muss keine Sprache retten. Ich bin nicht auf der Erde, um irgendeine Sprache zu bewahren. Sie ist einfach nur ein Kommunikationsmittel. Wie kann ich die Menschen hier erreichen? Indem ich Deutsch rede.
Ich habe die Hoffnung, dass es in Zukunft besser wird. Die dritte und vierte Generation wird irgendwann die alten Probleme nicht mehr haben.
Global gesprochen haben wir Probleme, die es früher nicht gab. Traditionell war beispielsweise ein Land wie Mali, seit es dort den Islam gibt, malikitisch. Heute aber kann ein Mann aus Mali dank des Internets nach irgendwelchen Fragen suchen und bekommt die Antwort eines Pakistanis. Obwohl dieser gar nicht den Kontext kennt oder einer anderen Schule folgt. Das ist nur sehr schwer zu stoppen.
Islamische Zeitung: Um nachzuhaken, braucht es nicht ein Zusammenspiel der eben erwähnten Elemente?
Ali Ghandour: Diese erwähnte Dreierkonstellation aus Gemeinschaft, Autorität und Wissen ist der Idealfall. Es muss jemanden geben, der sich für die Organisation zuständig fühlt. Es braucht solche, die sich um das Wissen des Din kümmern. Und dann schließlich eine Gemeinschaft, die beide legitimiert.
Islam wird heute nur auf Teile des Fiqh und auf sein oberflächliches Verständnis reduziert. Er besteht aber nicht nur aus Fiqh, sondern erstens aus einem Glauben, der alles andere als oberflächlich ist. Dann kommen die Normen und schließlich Tasawwuf. Letzterer ist heute ein Schimpfwort geworden.
Ohne diese drei Komponenten können wir eine lebendige Community vergessen. Andernfalls ist der Din nicht komplett. Erst nachdem der Engel Gabriel kam, um den Propheten über Islam, Iman und Ihsan zu befragen, hat der Gesandte Allah gesagt: „Er ist gekommen, um euch euren Din beizubringen.“ Der Engel fragte nicht nur nach Fiqh oder nach Glaubensinhalten, sondern auch nach dem Herzen. Dieses Herz hat sehr stark unter der Moderne im 20. und 21. Jahrhundert gelitten.
Wir heute haben tausende Fragen, die eigentlich die Glaubenslehre betreffen. Wir behandeln sie aber nicht in dieser Hinsicht. Imam Fakhruddin Al-Razi beispielsweise hat die Gesamtheit des philosophischen und naturwissenschaftlichen Wissens seiner Zeit berücksichtigt. Solche Gelehrten haben die Ideen ihrer Welt aus ihrer Perspektive behandelt.
Islamische Zeitung: Immer häufiger hört man von Autoren, dass heute und zukünftig die relevanten Impulse für Muslime nicht mehr aus den „klassischen Ländern“ kommen, sondern beispielsweise aus dem Westen…
Ali Ghandour: Wenn ich Gelehrte der muslimischen Kernländer mit solchen vergleiche, die in England oder Amerika und in 20 bis 30 Jahren vielleicht in Deutschland leben, wird schon ein Unterschied deutlich. Ich halte viel von Muslimen, die im sogenannten Westen leben. Hier sehe ich zukünftig große Beiträge für die Muslime.
Islamische Zeitung: Letzte Frage, lieber Ali Ghandour, was beschäftigt Sie derzeit in Ihrer Arbeit?
Ali Ghandour: Ich beschäftige mich mit sehr vielen Fragen. Insbesondere sind es zwei Bereiche: Fiqh und Tasawwuf. Im Fiqh schreibe ich über ein Merkmal der malikitischen Schule westlich von Ägypten. Dabei handelt es sich um die lokale Praxis des Umgangs mit Fragen, bei denen die Hauptmeinungen der Schule nicht zu den lokalen Kontexten passen. In meinem Hauptbereich Tasawwuf versuche ich, die Lehre eines ganz frühen Sufis, Imam al-Kharraz, zu rekonstruieren.
Islamische Zeitung: Lieber Ali Ghandour, wir bedanken uns für das Gespräch.