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Die Debatte: Diskriminiert ja, ungleichberechtigt nein – eine Entgegnung

Ausgabe 320

Foto: CLAIM Allianz

(iz). Diskriminierung von Muslimen und Musliminnen ist in nichtmuslimischen Ländern allgegenwärtig. So auch in Deutschland. Zu tief sitzen Ressentiments aus unaufgeklärter Zeit, zu wenig Zeit noch ist vergangen, seit sich Grenzen, Milieus und Bildungspfade spürbar geöffnet und internationalisiert haben. Doch bedeutet Diskriminierung auch Ungleichberechtigung? Sind Muslime, wie es der Journalist Fabian Goldmann in einem Interview mit der „Islamischen Zeitung“ im Januar zum Ausdruck brachte, „in den meisten Lebensbereichen immer noch nicht gleichberechtigt“?

Eben erst wurde des 80. Jahrestags der „Wannseekonferenz“ gedacht. Hier wurden am 20. Januar 1942 in Berlin konkrete Schritte für die Verfolgung und Ermordung der Juden – und zwar aller Juden – in Europa festgelegt. Besonders, ja: singulär macht die Shoah, der Massenmord an den Juden durch die Nazis, auch, dass sie sich in einem klaren juridischen Rahmen vollzog. Juden wurden nicht einfach unkoordiniert angegriffen, vertrieben und ermordet, sondern nach allen Regeln der Rechtskunst ausgegrenzt und entrechtet: von den so genannten Nürnberger Rassegesetzen 1935 über zahllose schikanöse Verordnungen bis hin zur perversen „Verordnung über die Strafrechtspflege gegen Polen und Juden“ vom 30. Dezember 1941. Beispielhaft für diese Formalisierung und Juridifizierung der nationalsozialistischen Judenverfolgung steht die „Wannseekonferenz“.

Wer ein Beispiel für manifeste Ungleichberechtigung in Europa in der jüngeren Geschichte sucht, findet es hier. Ein anderes, freilich nicht auf Massenvernichtung abzielendes wäre die Segregation in zahlreichen US-Bundesstaaten; bekanntlich wurde sie, nach Jahrzehnten der Bürgerrechtskämpfe, erst durch den Civil Rights Act 1964 aufgehoben. Ein Jude, der sich 1939 nicht mehr auf eine öffentliche Parkbank in Berlin setzen oder 1942 nicht mehr ein Stück Brot von einem „arischen“ Nachbarn in Hamburg annehmen durfte; ein Schwarzer, der sich 1957 auf einer Bahnhofstoilette in Alabama nicht am selben Waschbecken die Hände waschen durfte wie ein Weißer, waren ungleichberechtigt; Muslime und Musliminnen im Deutschland des Jahres 2022 aber mögen vielfacher gesellschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt sein: ungleichberechtigt sind sie nicht. 

Dabei handelt es sich um keine bloße Formalität. Denn anders als noch vor dreißig Jahren sind der Islam, sind muslimische Einwanderungsmilieus – was nicht dasselbe ist – inzwischen in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Was bedeutet das? Es sind nicht mehr nur nichtmuslimische, herkunftsdeutsche Beamte und Verwaltungsangestellte, die die faktische Geltung der formalen Gleichberechtigung kontrollieren (was einer faktischen Nichtgleichberechtigung in der Tat Vorschub leisten könnte); sondern längst arabischstämmige Richter, maghrebinische Polizistinnen, Spitzenpolitiker mit türkischem Hintergrund, teils praktizierende Muslime, teils nicht. Mit Cem Özdemir wurde nun endlich erstmals ein muslimischer Bundesminister berufen. 

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Dass mit all dem rassistische Vorurteile und rassistische Handlungen, von der „beiläufigen“ Beleidigung bis zum brutalen Massentötungsdelikt wie in Hanau vor zwei Jahren, nicht aus der Welt sind, ist richtig; dass rassistisches Ressentiment im Kopf und im Herzen eines staatlichen Hoheitsträgers zu hoheitlicher Ungleichbehandlung führen kann – von der verweigerten Gymnasialempfehlung übers racial profiling in der Bahn bis hin zu Verquickungen von Verfassungsschutz und rechtsextremer Szene –, ist unbestritten; dass man sich als Muslim ebenso sehr wie als Mensch orientalischer Herkunft, der sich vielleicht erst in zweiter Linie als Muslim definiert, in einer „deutschen“ Innenstadt, in der deutschen Provinz marginalisiert und übergangen fühlen kann, ist für viele trauriger Alltag in diesem Land: ein Beweis für eine legale Ungleichbehandlung aber sind sie nicht. Legale Ungleichbehandlung läge vor, wenn das deutsche Strafgesetzbuch vorschriebe, dieselbe Tat schwerer zu bestrafen, wenn sie von einem Muslim – auch einem deutschen Staatsbürger muslimischen Glaubens – begangen würde, als wenn der Täter Nichtmuslim wäre. 

Aber der Hijab, könnte man einwenden. Nun, die Frage, ob im öffentlichen Dienst das so genannte „Kopftuch“ getragen werden darf, ist seit Jahrzehnten Gegenstand höchstrichterlicher Rechtsprechung und wird dies sicher noch eine Zeit lang bleiben. Aber auch hier wird nicht das Muslimsein diskriminiert, sondern „nur“ ein spezifischer sichtbarer Ausdruck desselben. Wollte aber etwa im Königreich Preußen vor 1869 ein Jude Richter werden, so reichte es nicht aus, etwa keine Kippe zu tragen, sondern er hatte zum Christentum zu konvertieren; aber eine Konversion, einen Abfall vom Islam zur Erlangung staatsbürgerlicher Gleichberechtigung verlangt das deutsche Recht von einem Muslim, einer Muslima in keinem Fall.

Wenn aber Muslime an Wahlen nicht teilnehmen dürfen, so nicht wegen ihres Islams, sondern wegen ihrer Staatsbürgerschaft. Das mag auf einer anderen Ebene ungerecht sein, ist aber kein Alleinstellungsmerkmal muslimischer Migrationsgesellschaften: auch eine evangelische Dänin, ein katholischer Pole, ein orthodoxer Serbe mit deutschem Wohnsitz, aber ohne deutsche Staatsangehörigkeit sind von der Ausübung mancher staatsbürgerlichen Rechte (und Pflichten) in Deutschland ausgeschlossen.

Der Claim, Muslime seien in Deutschland nicht gleichberechtigt, ist nicht ungefährlich. Er trägt dazu bei, die Spaltung zwischen Muslimen und Nichtmuslimen, die er zu beklagen vorgibt, selber zu vertiefen. Ja, es ist richtig: zum antiorientalischen Rassismus, der in der Bundesrepublik insbesondere seit dem Anwerbeabkommen mit der Türkei 1961 endemisch ist und immer wieder neue Schübe erhalten hat, tritt seit etwa zwei Jahrzehnten ein dezidiert antimuslimischer Rassismus hinzu, der unter – eigentlich sachlich unbeholfenem, aber zündlerischem – Rückgriff auf historisch längst vergangene Situationen wie die „Türkengefahr“ des 16. und 17. Jahrhunderts von einer drohenden Islamisierung eines ominösen „Abendlandes“ orakelt. 

Ja, in allen westeuropäischen Ländern – man denke insbesondere an Frankreich mit seiner Kolonialvergangenheit und seinem großen maghrebinischen und orientalischen Bevölkerungsanteil – gibt es mittlerweile politische Bewegungen und Parteien, die Islamfeindlichkeit programmatisch vertreten. Doch diese Strömungen müssen in ihrer historischen und auch situativ-politischen Konditionalität gelesen werden, nicht als Ausfluss des deutschen, französischen oder in toto „westlichen“ Rechtssystems. Im Gegenteil: Es ist gerade „der Westen“, der westliche Liberalismus kontinentaleuropäischer („kerneuropäischer“) Prägung, der mit dem Gleichheitsversprechen so sehr ernst gemacht hat wie wohl noch keine politische Ordnung in der Geschichte. Inklusion ist das Wesen des westlichen Liberalismus, von der Erklärung der Menschenrechte durch die Französische Revolution und der Emanzipation der Juden (die übrigens die meiste Zeit als Orientalen und Nicht-Weiße galten) durch Napoleon I. vor 200 Jahren bis zur EU-weiten Diversity-Politik von heute.

Vielleicht entspringt die Behauptung von Ungleichberechtigung aber auch einem grundsätzlichen Unbehagen mancher muslimischer Communitys gegenüber dem westlichen Konzept von Gesellschaft als einem Gegen- oder Alternativentwurf zur Umma des Islam. Ist in der muslimischen Welt der Islam das alle Gläubigen über die Grenzen von Nationalität und Stand hinweg Verbindende, so ist es im Westen seit 1789 – respektive 1945, 1964 und schlussendlich 1990 – das pure Menschsein; dieses Menschsein indessen ist denkbar vage und indefinit, ja, muss es sein, eben um niemanden auszuschließen.

Diese Indefinitheit des Menschseins (die ihm ja wesenhaft inhärent ist, es aber gesellschaftspolitisch schwer fassbar macht) hat den westlichen Liberalismus seit Ende des Kalten Krieges unterdessen zum Pluralismus werden lassen, der in seiner radikalen Offenheit einschüchternd wirkt, und zwar auf Menschen im Westen mit und ohne orientalische Migrationsgeschichte (eine muslimische im engeren Sinne gibt es übrigens gar nicht; es migrieren Ethnien, keine Religionsgemeinschaften). Genauso, wie manche Muslime und deren publizistischen Anwälte eine aktuelle, so sehen umgekehrt westliche „Islamkritiker“ eine drohende künftige Ungleichberechtigung.

Diese Hufeisenverteilung von Entrechtungsängsten spiegelte mir vor einigen Jahren ein in Deutschland lebender syrischer Bekannter nur halb „scherzhaft“: auf mein gutgläubiges Beteuern, wie sehr ich die arabische Kultur und den Islam möge, sagte er: „keine Sorge, Akhi, wir geben Dir die Einbürgerung“, so, als „gehörte“ Deutschland bald „ihnen“, den Arabern und Muslimen, und ich könne froh sein, dann noch hier zu leben, womöglich als Dhimmi.

Es ist dieses Denken in „sie“ und „wir“, in „gehören“ und „nicht gehören“, das in der unreflektierten Rede von einer Ungleichberechtigung von Muslimen gefährlich mitschwingt. In Wahrheit aber gibt es keine Blockkonstellation zwischen „Muslimen“ und „Europäern“: weder in Gestalt einer muslimisch-orientalischen Invasion, noch einer europäisch-abendländischen Abwehr. Muslime gehören seit mehr als einem halben Jahrhundert zur gesellschaftlichen und innenpolitischen Realität aller westeuropäischen Gesellschaften, darin eingeschlossen auch zahlreiche Balkanstaaten; die Umma des Islam geht in der pluralen westlichen Gesellschaft allmählich auf beziehungsweise geht in sie über.

Diskriminierung, die, wir sagten es, situativ, aber auch strukturell nach wie vor vorkommt, ist ein sozietales Phänomen, kein politisches; ihr ist abzuhelfen durch politische Bildung, durch Vermischung der Milieus und durch Hebung des Bildungsniveaus, wobei Hebung nicht Gleichmachung bedeutet. Aber die raunende Rede von einer legalen Schlechterstellung von Muslimen und Musliminnen in der westlichen Rechtsordnung fungiert in bestimmten „muslimischen“ Milieus als Verschwörungstheorie; ihre Perpetuierung tut niemandem einen Gefallen: nicht den Muslimen, nicht den Nichtmuslimen.