Die politische Vernunft schläft

Ausgabe 291

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Die Entscheidung der indischen Regierung, den Sonderstatus für das von Indi­en verwaltete Kaschmir abzuschaffen, wurde vielfach kritisiert und abgelehnt.

(IZ/KNA/Agenturen). Indien ist ein trauriges Beispiel dafür, dass das Abgleiten einer Nation in faschistoide Zustände nicht nur eine Frage der Geschichte ist. Das belegen Premier Modi und seine hindunationalistische BJP aktuell am Umgang mit dem seit 1947 umstrittenen Kaschmir. Eine Region, deren muslimischer Mehrheit seit mehr als 70 Jahren das Recht auf Selbstbestimmung verweigert wird.

Am 5. August beschloss die Regierungsmehrheit der BJP von Premierminister Narendra Modi im indischen Parlament die Aufhebung des Artikels 370. Dieser verlieh Jammu und Kaschmir bisher ein substanzielles Maß an Autonomie. Darüber hinaus wurde entschieden, dass beide Gebiete als „Unionsgebiete“ unter direkter Kontrolle Delhis stehen werden. Artikel 370 untersagt es unter anderem, dass Inder außerhalb des Staates sich permanent in Kaschmir niederlassen, Land erwerben, Regierungsjobs besetzen oder Stipendien bekommen. Hindunationalistische Scharfmacher unter Modis Sympathisanten riefen ihre Anhänger bereits zur Besiedlung Kaschmirs auf. Oppositionelle befürchteten, dass die demographische Struktur Kaschmirs gewaltsam verändert werden soll.

Noch besteht die Chance, dass diese Änderungen vom obersten Gerichtshof aufgehoben werden. Sollte dies nicht der Fall sein, gehen Beobachter von beispiellosen Folgen aus. Keine bisherige indische Regierung wollte bisher das verletzliche Gleichgewicht gefährden, das dem indischen Machtanspruch auf das Tal zugrunde liegt. Darüber hinaus bestehen wenig Zweifel, dass der jetzige Schritt separatistische Gefühle entflammen wird. Seine Bewohner sind seit sehr Langem wütend angesichts der jahrzehntelangen Repression und über die konstante militärische Präsenz in ihren Häusern und Dörfern besorgt. Jetzt ist in ihren Augen ihr einziger Anspruch auf Autonomie und Identität weggefallen.

Die führende Opposition, die Kongresspartei, beschrieb die Entscheidung als „katastrophalen Schritt“. Ein Abgeordneter der kaschmirischen Peoples Democratic Partei zerriss eine Kopie der indischen Verfassung, bevor er von Sicherheitsbeamten abgeführt wurde. Inmitten des nationalistischen Furors gab es auch einige Stimmen ehemaliger indischer Verantwortlicher, welche die Gesetzesänderung und ihre Konsequenzen mit Sorge beobachten. A.S. Dulat, ehemaliger Chef des indischen Auslandsgeheimdienstes RAW bezeichnete den Schritt als „mit schwerwiegenden Folgen behaftet“. Dulat, der als geschickter Kenner Kaschmirs bekannt ist, befürchtet den Ausbruch einer großen Krise in der Region. „Meine Befürchtung ist, und ich hoffe, ich irre mich, dass die jüngsten Schritte in Kaschmir nur die Gewalt verstärken werden. Ich glaube nicht, dass in 10-15 Tagen etwas Wichtiges passieren wird. Aber diese Maßnahmen haben den Rest Indiens anfälliger gemacht.“

Selbst Delhi-nahe Politiker wie die ehemaligen Chefminister Mehbooba Mufti und Omar Abdullah kritisierten die Entscheidung. In Folge wurde sie unter Hausarrest gestellt. „Die einseitigen und schockierenden Entscheidungen der indischen Regierung von heute sind ein völliger Vertrauensbruch“, hieß es in einer Erklärung von Abdullah. Das neue Gesetz sei eine Aggression „mit weitreichenden und gefährlichen Folgen“. Vor den Kaschmiris liege ein langer und harter Kampf. „Wir sind bereit für ihn.“

Mit der Degradierung Kaschmirs und des mehrheitlich buddhistischen Teils Ladakh zu Neu Delhi Unionsterritorien erfüllt Modi eine Forderung, die die islamfeindlichen Hindunationalisten seit Jahrzehnten stellen. Denn ihnen gilt das mehrheitlich muslimische Kaschmir als Geburtsstätte des Hinduismus. Kritiker der Entscheidung Modis zur Machtübernahme in Kaschmir befürchten nun eine Hinduisierungswelle. Inder aus anderen Teilen des Landes ist es ab sofort erlaubt, Land in Kaschmir zu erwerben. Vor allem hinduistische Stiftungen stehen in den Startlöchern, um entlang der Pilgerstraße nach Amarnath Grundstücke zu kaufen.

Der nationalistische Schritt Modis rief Menschenrechtler auf den Plan. Am 6. August berichtete Human Rights Watch (HRW), dass Delhi führende politische Führer in Kaschmir unter Hausarrest setzte, der Bewegungsfreiheit erhebliche Schranken auferlegte und das Internet, Telefonnetze sowie Bildungseinrichtungen abschaltete. „Die Regierung hat die Verantwortung, die Sicherheit in Kaschmir zu gewährleisten, aber das bedeutet, die Menschenrechte aller zu respektieren, einschließlich der Demonstranten“, sagte HRW-Südasiendirektorin Meenakshi Ganguly.

Indische Truppen seien trotz schwerwiegender Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen wie außergerichtlicher Tötung, Folter und Verschwindenlassen selten zur Rechenschaft gezogen worden. Das Gesetz über die Befugnisse der Streitkräfte (AFSPA) schützt Soldaten wirksam vor strafrechtlicher Verfolgung wegen schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen. „Die Regierung hat es trotz wiederholter Empfehlungen mehrerer von der Regierung eingesetzter Kommissionen, UN-Gremien und Experten sowie nationaler und internationaler Rechteverbände versäumt, das Gesetz zu überprüfen oder aufzuheben. Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes in Kaschmir im Jahr 1990 hat die indische Regierung keine Erlaubnis erteilt, Angehörige der Sicherheitskräfte vor zivilen Gerichten zu verfolgen“, heißt es in einem aktuellen HRW-Bericht zur Lage in Kaschmir.

Es hat mehr als nur den Anschein, dass Delhi entgegen wortreicher Bekundungen Modis seine bisherige Repression in Kaschmir fortsetzt. Mittlerweile häufen sich Berichte über besorgte Familien, die geliebte Menschen nicht kontaktieren können, und von mangelndem Zugang zu ausreichenden gesundheitlichen Leistungen. Journalisten berichteten von Massenprotesten, die mit Tränengas und Gummischrot zerschlagen wurden.

Auch für das indische Kerngebiet droht der hindu-nationalistische Angriff langfristige Folgen zu haben. In einigen der reichsten Bundesstaaten herrschen sub-nationalistische Konflikte. „Die nie geglaubten Szenen aus Hongkong könnten auch in Bombay, Hyderabad, Bangalore und Chennai Alltag werden“, schrieb ein besorgter Kritiker in Indien.