Der Weg der Einheit

Ausgabe 229

(iz). An einem Donnerstagabend vor vielen Jahren nahm ich an einer wöchentlichen Versammlung in der Zawijja von Sidi Ali Al-Dschamal in Fes teil. Als sie sich auflöste, blieb ich mit einem der alten Faqire von Sidi Muhammad ibn Al-Habib zurück. Als wir auf der Brücke standen, die den Fluss direkt neben der Zawijja überspannt, sagte er mir zwei Dinge, die sich seither in mein Gedächtnis eingeprägt haben. Die erste Sache war das Sprichwort: „Tausend Worte, die von einem Herz voller Unreinheiten kommen, erreichen nichts. Ein Wort hingegen, dass aus einem gereinigten Herzen stammt, erlangt tausend Dinge.“ Das zweite war die allgemein bekannte Weisheit: „Wer nur für Allah handelt, überdauert und vereint, aber wer für etwas anderes als Allah handelt, bleibt abgeschnitten und zersplittert.“
Allah, der Gepriesene und Erhabene, spricht in Seinem Edlen Buch über Seinen Gesandten, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben: „Und du bist wahrlich von großartiger Wesensart.“ (Al-Qalam, 4) Und der Gesandte Allahs, Heil und Segen auf ihm, sagte über sich: „Ich wurde nur gesandt, um guten Charakter zu vervollständigen.“ Ein erneuter Blick in Allahs Buch findet ein Ajat, in dem Allah Seinen Propheten anweist, uns zu sagen: „Sprich: ‘Wenn ihr Allah liebt, dann folgt mir und Allah wird euch lieben und eure falschen Handlungen vergeben.’“ (Al-i-’Imran, 31) Gemeinsam ermöglichen alle drei Aussagen einen Blick in die spirituelle und politische Wirkung des menschlichen Verhaltens – sowohl negativ, als auch positiv – und auf die Gesellschaft als Ganzes. Übersetzt in die heutige Sprache teilen sie uns mit, dass ein Mensch ist, was er tut.
Allah sagt uns: „Dies, weil Allah nimmer eine Gunst, die Er einem Volk erwiesen hat, ändert, bis sie das ändern, was in ihnen selbst ist, und weil Allah Allhörend und Allwissend ist.“ (Al-Anfal, 54) Die Art und Weise, wie sich die Leute verändern, spiegelt sich in ihrem Verhalten wider. Und es wird klar, wenn wir auf die Begebenheiten früherer Völker in Allahs Buch schauen, dass ihr Niedergang in jedem Fall an irgend einem Fehlverhalten auf ihrer Seite lag.
Jener Punkt wird explizit in einem Hadith von Ibn ‘Abbas, das in der Muwatta’ aufgezeichnet wurde, ausgedrückt: „Das Stehlen von der Beute erscheint nicht in einem Volk, außer dass Terror in seinem Herzen erscheint. Ein Volk begeht keine Unzucht, ohne dass nicht zu viel Tod unter es kommen würde. Wenn ein Volk das Maß und das Gewicht kürzt, wird es von seiner Versorgung abgeschnitten. Wenn ein Volk ohne Recht urteilt, wird sich das Blut unter ihm verbreiten. Wenn ein Volk seine Versprechen bricht, wird Allah seinen Feinden Macht über ihm geben.“
Die Veränderung kann entweder zum Besseren oder zum Schlechteren geschehen. Dies gibt uns einen Einblick in die wahre Natur des menschlichen Verhaltens. Entweder ist es in Harmonie mit den zugrundeliegenden Gesetzen der Existenz und daher dem Schöpfer des Universums. In diesem Fall ist das Ergebnis ein positives und nützliches für die Gesellschaft. Oder es mag im Gegensatz zu den fundamentalen Gesetzen stehen und daher Allah missfallen. In diesem Fall werden die Konsequenzen negativ sein und die Menschen schädigen, die sie begehen.
Daher ist es notwendig, genau zu verstehen, was die Natur der guten Handlung exakt ist. In dem berühmten Lichtvers (arab. Ajatu’n-Nur) prägt Allah das Gleichnis einer Lampe, in der Sein Licht durch ein kristallklares Glas scheint, dass es sowohl beschützt, aber es ihm auch ­ermöglicht, ungetrübt in die Welt hinein zu leuchten. Viele große Qur’an-Kommentatoren (arab. Mufassirun) haben ­gesagt, dass dies eine Beschreibung des Gesandten Allahs ist, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, und dass es sich bei diesem Licht um die Rechtleitung handelt, die er von seinem Herrn brachte.
Dieses Licht manifestierte sich auf eine Weise in seinen Worten und Handlungen sowie in der Art, wie er mit den unzähligen Situationen umging, die seine alltägliche Existenz ausmachten. Das Alltagsverhalten des Propheten, Allahs Heil und Segen auf ihm, war nichts als eine perfekte Reflexion von Allahs Eigenschaften, soweit es möglich ist, sie im Kontext der menschlichen Existenz zu reproduzieren. Das ist Khuluqun ‘Adhim, die Weite des Charakters, die Allah Seinem Gesandten im Qur’an zuschreibt. Gleichzeitig ist es genau die Rechtleitung, deren Überbringung für den Rest der Menschheit sein Herr ihm aufgetragen hat.
Die Kernelemente dieses Verhaltens sind eindeutig die Säulen, die das Gebäude des Islam aufrechterhalten; namentlich die fünf Gebete, Zakat, das Fasten und die Hadsch. Aber es ist auch deutlich, dass diese äußeren Handlungen in sich noch nicht für sich ausreichen. Wir kennen das aus vielen Ajat des Qur’an sowie den Hadithen des Propheten. Das ist der Grund, warum die Rechtsgelehrten die Absicht zum ersten Pflichtelement vieler Handlungen machten und warum so viele Muhaddithin ihre Sammlungen mit dem Hadith beginnen: „Die Handlungen sind nur durch die Absichten…“ Ohne sie ist eine Handlung im Wesentlichen wertlos. Hier wird Tasawwuf, der bis jetzt implizit war, absolut explizit.
Die Leute des Wissen sind sich darin einig, dass die Absicht im Herzen gefasst werden muss. Der Ergebnis eurer Handlung hängt davon ab, was in euren Herzen ist. Damit eine Handlung wahrhaftig um Allahs willen und Seinen Gesandten, Allahs Heil und Segen auf ihm, sein kann, muss das Herz frei von all den widerstreitenden Emotionen und Sehnsüchten sein, die es die meiste Zeit über beschäftigen. In anderen Worten, die Reinigung des Herzens ist vonnöten, damit das Herz eine reine Absicht vornehmen kann. Jener unverzichtbare Reinigungsprozess ist das, was als Tasawwuf bekannt wurde.
Man kann nicht einfach sagen, dass man etwas für Allah macht, wenn in Wahrheit die eigene Motivation mehrdeutig und verwirrt ist. Daher hat Imam Al-Ghazali, möge Allah ihm barmherzig sein, Tasawwuf den rechtlichen Status einer individuellen Pflicht für jeden Muslimen zugewiesen. Demzufolge ist die Reinigung des Herzens ein integrales und notwendiges Element im Leben eines jeden Muslims.
Es ist jedoch lebenswichtig, sich daran zu erinnern, dass nicht nur der Islam Tasawwuf braucht, um die Handlungen annehmbar zu machen, sondern Tasawwuf gleichermaßen die Handlungen des Islam braucht, um zu existieren. Sie sind ineinander verflochten und können nicht getrennt werden.
Diese Angelegenheit wurde wunderschön vom großen ‘Alim und Sufi Ahmad Zarruq ausgedrückt, als er sagte: „Es kann keinen Tasawuf außer durch das Verständnis der Scharia geben. Denn die äußeren Urteile Allahs können nur durch sie bekannt sein. Auf die gleiche Weise ist das islamische Recht bedeutungslos ohne Tasawwuf, denn die Gültigkeit der Handlung hängt von den Absichten ab, durch die sie hervorgebracht werden. Das beinhaltet wiederum eine aufrichtige Hinwendung zu Allah.
Daher müssen islamisches Recht und Tasawwuf kombiniert werden, denn sie sind untrennbar verbunden; genau wie Seelen mit Körpern verbunden sind. Die Körper sind die nötigen Vehikel für den Geist, wie auch nur die Körper lebendig werden durch die Existenz des Geistes in ihnen. All das wurde durch den bekannten Spruch von Imam Malik ibn Anas zusammengefasst: ‘Wer Tasawwuf vertritt, ohne das Recht des Islam anzuwenden, ist ein Häretiker (Zindiq). Jeder, der das islamische Recht anwendet, ohne für Tasawwuf einzutreten, ist ein Verdorbener (Fasiq). Wer beide vereint, hat sein Ziel erreicht.’“
Und diese Aussage Imam Maliks führt uns zum Kernpunkt der Angelegenheit: die Schlüsselrolle des Tasawwuf in der Einigung der muslimischen Umma. Wie zuvor gesehen, ist menschliches Verhalten in seiner höchsten Form, wie es vom Propheten versinnbildlicht wurde, die eigentliche Essenz von Tasawwuf. Wird menschliches Verhalten herabgewürdigt und unmoralisch, dann wird es zur Ursache von Selbstzerstörung und Spaltung. Und das wird jetzt so deutlich erkennbar unter Muslimen in jedem Teil der Welt. Das kann nur das Ergebnis davon sein, dass Muslime nicht aufrichtig für Allah und Seinen Gesandten handeln und ihre Herzen nicht reinigen.
Wir hören täglich von Leuten, die behaupten, die Scharia einzurichten, aber nichts als Streit und Chaos bringen. Sie sind die Fasiqun, von denen Imam Malik sprach. Da gibt es andere, die Innerlichkeit preisen, aber viele der äußeren Aspekte der Scharia vernachlässigen. Auch sie sind die Ursache für Zwietracht und Spaltung unter den Muslimen. Sie sind die Zanadiq bei Imam Malik.
Solange beide Gruppen dominieren, wird die Einheit unter Muslimen ein nicht zu verwirklichendes Ziel bleiben. Nur wenn Inneres und Äußeres im Gleichgewicht sind, wenn Reinigung der Herzen einer muslimischen Mehrheit zur richtigen Handlung führt, wenn Handlungen wirklich um Allahs und Seines Gesandten Willen geschehen – das heißt, wenn Tasawwuf seinen rechtmäßigen Ort im muslimischen Leben zurück gewinnt –, dann wird Einheit möglich sein.
Die Kennzeichen der frühen Muslime waren Taqwa (Gottesfurcht), Mut, Durchhaltevermögen, Großzügigkeit, Gastfreundschaft, Nachsicht, Mitgefühl, Bescheidenheit und Freundlichkeit; das heißt, selbstloser guter Charakter. Wir müssen verstehen, dass diese Charaktereigenschaften, deren alltägliches Beispiel so eloquent in der frühen Literatur aufgezeichnet wurde, nirgendwo von der Etablierung des Islam getrennt war. Sie waren ihr Islam in der Handlung. Ihr edles Verhalten war integraler Bestandteil ihrer Praxis des Din.
Für sie waren Gebet, Fasten und Zakat untrennbarer Bestandteil der erleuchteten sozialen Realität, in der sie lebten und in der diese erhabenen Charaktereigenschaften die Norm waren.
Diese Fusion von innerem und äußerem ist wahrer Tasawwuf im Einsatz. Genau das wird benötigt, damit die Einheit der muslimischen Umma wieder eine Realität werden kann. Nur diese Sache hat – bei Allah – die Kraft, die Herzen der Muslime zusammenzubringen.