
IZ-Reiseblog: Unser Autor macht im schweizerischen Dornach halt. Über Steiners Versuch, praktisch Lehren aus Goethe zu ziehen.
(iz). „Ein Zwischenfall ohne Folgen“ – mit diesen Worten kommentierte Friedrich Nietzsche die Wirkung Johann Wolfgang von Goethes auf die Deutschen. Doch blieb der Meister des ganzheitlichen Denkens, der Kunst, Naturwissenschaft und Geist verband, wirklich folgenlos?
Dornach: Beispiel für Inspiration durch Goethe
Die Antwort lautet: nein. Seine lebendige Synthese inspirierte im 20. Jahrhundert nicht nur einzelne Denker, sondern ganze Bewegungen, die versuchten, das Vermächtnis des Weimarer Dichterfürsten neu zu gestalten.
Zwei der einflussreichsten Strömungen des frühen 20. Jahrhunderts – die Bauhaus-Bewegung und die Anthroposophie Rudolf Steiners – suchten nach einer neuen Einheit von Kunst, Leben und Gesellschaft.
Während das Bauhaus mit klarer, funktionaler Formensprache und rational-utopischem Anspruch den Weg in die Moderne wies, orientierte sich die Anthroposophie an einer spirituellen Weltanschauung, die organische Formen und eine tiefe Verbindung von Gestaltung und geistigem Erleben betonte.
Beide verstanden Kunst und Handwerk als Mittel zur Erneuerung des Menschen und der Gesellschaft. Das Bauhaus setzte auf Technik, Geometrie und demokratische Massenbewegung, während Steiner individuelle Bewusstseinsentwicklung und eine metaphysische Sicht auf die Welt ins Zentrum stellte.
Kein beendetes Kapitel
Goethes Vermächtnis ist mitnichten ein abgeschlossene Geschichte, sondern eine offene Einladung zur stetigen Aktualisierung. Gerade heute, im vielschichtigen Europa, kann diese Erneuerung nur gelingen, wenn sich unterschiedlichste kulturelle und geistige Perspektiven begegnen.
Hier treten europäische Muslime als bedeutende Stimme hinzu. Ihr Leben zwischen Tradition und Moderne sowie islamischer Spiritualität und europäischer Aufklärung, eröffnet einen fruchtbaren Dialograum. Für uns ergeben sich daraus wesentliche Fragen: Wie sieht unser Konzept von sozialem Leben, Architektur, Kunst, Landwirtschaft, Ökonomie oder Gesundheit konkret aus – oder bewegen wir uns nur noch in einer abstrakten religiösen Theorie?
Auf dem Rückweg aus Italien besuchen wir den Weltsitz der anthroposophischen Bewegung in Dornach. Über den sanften Hügeln nahe des Rheins erhebt sich das Goetheanum – ein Bauwerk, das mehr ist als Architektur: ein Manifest aus Beton, Form und Idee.
Foto: Abu Bakr Rieger
Steiner auf der Suche nach einer Vision
Entworfen von Rudolf Steiner (1861–1925), dem Begründer der Anthroposophie, formuliert das Gebäude in seinen geschwungenen Linien, asymmetrischen Fenstern und plastischen Flächen eine eigene Sprache – eine, die nicht trennt, sondern verbindet: Kunst und Wissenschaft, Materie und Geist, Mensch und Kosmos. In Dornach ist eine ganze Siedlung entstanden, die den Anspruch eines anderen Lebens symbolisiert.
Wir sind hier, um die aktuelle Ausstellung über das Leben und Werk Steiners zu besuchen. In den Räumen begegnen wir einer normativen Vision für eine menschenwürdige, gerechte Gesellschaft – eine, die nicht nur beschreibt, wie die Welt ist, sondern fragt, wie sie sein sollte: nicht abstrakt, sondern jeweils konkret in ihrem Bereich.
Das Konzept der sozialen Dreigliederung, das Steiner Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte, unterscheidet drei Lebensbereiche, die jeweils eigenen Prinzipien folgen sollen:
1. Geistesleben (Kultur, Bildung, Wissenschaft, Religion, Kunst): Dieser Bereich soll von Freiheit geprägt sein. Jeder Mensch soll seine Gedanken, Kreativität und Überzeugungen frei entfalten können – ohne staatliche oder wirtschaftliche Bevormundung.
2. Rechtsleben (Politik, Staat, Rechtssystem): Hier gilt das Prinzip der Gleichheit. Alle Menschen sollen vor dem Gesetz gleich sein und gemeinsam, demokratisch über Regeln und Rechte entscheiden.
3. Wirtschaftsleben (Produktion, Handel, Konsum): In der Wirtschaft soll das Prinzip der Brüderlichkeit (heute würde man vielleicht sagen: Solidarität) gelten. Es geht nicht um Gewinnmaximierung, sondern darum, die Bedürfnisse anderer zu erkennen und gemeinsam für das Gemeinwohl zu sorgen.
Steiners wirtschaftliche Ideen – etwa die Ablehnung von spekulativem Kapital, „leistungslosem Einkommen“ (wie Zinsen bzw. Bodenrente) oder das Prinzip assoziativer Wirtschaftsformen – widersprechen vielen Grundlagen des modernen Finanz- und Wirtschaftssystems. Diese Vorschläge behalten zwar einen ethischen Reiz, sind nur schwer in bestehende globale Strukturen integrierbar. Das zeigt sich auch an einer seiner grundsätzlichen Aussagen zur Zinsfrage:
„Es gibt heute etwas höchst Unnatürliches in der sozialen Ordnung, das besteht darin, dass das Geld sich vermehrt, wenn man es bloß hat. Man legt es auf eine Bank und bekommt Zinsen. Das ist das Unnatürlichste, was es geben kann. Es ist eigentlich bloßer Unsinn. Man tut gar nichts; man legt sein Geld, das man vielleicht auch nicht erarbeitet hat, sondern ererbt hat, auf die Bank und bekommt Zinsen dafür. Das ist ein völliger Unsinn.“
Leben und Handeln
Das Goetheanum ist nicht nur ein Ort des Denkens, sondern auch des Lebens und Tuns. Wenn man durch die sorgfältig angelegten Gärten der Anlage wandert, in denen Heilpflanzen nach anthroposophischen Gesichtspunkten gedeihen, wirkt die Umgebung wie ein stilles Gegenbild zur Komplexität der Welt.
Ein landwirtschaftlicher Demeter-Betrieb versorgt das Gelände im Einklang mit der Erde. In der hauseigenen Schreinerei entstehen Möbel, Bühnenbilder und Kunstwerke – mit tiefer Achtung vor dem Werkstoff Holz und seiner lebendigen Form.
Einige Elemente der Dreigliederung leben durchaus weiter – nicht nur in Dornach, sondern weltweit: in Waldorfschulen, der Demeter-Landwirtschaft oder in anthroposophisch geprägten Unternehmen, wo man versucht, diese Prinzipien im Kleinen umzusetzen. Im großen Maßstab sind viele dieser Ideen bisher kaum durchgedrungen. Dennoch erlebt man an diesem Ort keinen Stillstand, oder das Gefühl ohnmächtiger Passivität.
Zeitgenössische Kritik an Steiner
In den letzten Jahren wurde die Persönlichkeit des Gründers verstärkt kritisch beleuchtet. Die Kritik an ihm ist zum Teil berechtigt, andererseits jedoch missverständlich oder aus dem historischen Kontext gerissen. Sie bezieht sich auf seine Weltanschauung, seine pädagogische Praxis, seine sozialen Ideen – und nicht zuletzt auf problematische Aussagen in seinen Schriften.
Seine anthroposophische Erkenntnisse – etwa zur Reinkarnation, zu übersinnlichen Welten oder zur „geistigen Evolution“ – beruhen auf seiner „Geisteswissenschaft“, also individueller spiritueller Schau. Diese ist nicht intersubjektiv überprüfbar, nicht falsifizierbar und steht damit außerhalb wissenschaftlicher Standards.
In manchen Vorträgen und Texten – vor allem aus den 1900er- und 1910er-Jahren – äußerte Steiner rassentheoretische Vorstellungen, etwa die Idee einer „geistigen Höherentwicklung“ einzelner „Menschenrassen“. Später sprach er sich klar gegen Rassismus und für individuelle Entwicklung unabhängig von Herkunft aus. Diese problematischen Aussagen werden auch in anthroposophischen Kreisen kritisch diskutiert.
Foto: pict rider, Adobe Stock
Zu Unrecht wird er jedoch oft mit oberflächlichen Esoterikströmungen in einen Topf geworfen. Das wird seiner sehr systematischen, philosophisch geschulten Denkweise nicht gerecht. Er war ein intellektuell anspruchsvoller Denker, gut vertraut mit Kant, Goethe, Hegel und Nietzsche, und baute ein geschlossenes Gedankengebäude auf – auch wenn man es kritisch sieht, handelt es sich nicht um gedankenlosen Mystizismus.
In der Buchhandlung kaufen wir eine lesenswerte Einführung in das „Rätsel Rudolf Steiner“. Wolfgang Müller gelingt es in bemerkenswerter Gelassenheit, die Spur von Irritation und Inspiration aufzuzeigen, die von diesem Mann ausgeht.
Differenz zu Religionen
Die Unterschiede zu den drei großen monotheistischen Religionen sind offensichtlich. Und doch stiftet die Anthroposophie eine Inspiration für uns, die – einem Gedanken Goethes folgend – in der Aufforderung liegt, nicht nur in einer abstrakten Gedankenwelt zu leben, sondern gemeinsam an der alltäglichen Umsetzung von Ideen in konkreten Lebensbereichen zu arbeiten.
Diese Balance ist heute wichtiger denn je – vor allem, wenn man Steiner in seiner Grundanalyse unserer Zeit zustimmt: „Die objektive Entwicklung ist den Menschen des 19. Jahrhunderts, des 20. Jahrhunderts (…) über den Kopf gewachsen. Und die Zeiterscheinungen zeigen dieses Über-den-Kopf-Wachsen in allerintensivster Weise.“