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Europa: Führt Russlands Krieg in die Wirtschaftskrise?

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Foto: Mike Mareen, Shutterstock

BERLIN (GFP.com). Die ökonomischen Folgen des Ukraine-Kriegs treffen die Wirtschaft Deutschlands und der EU mitten in einer Ära des historischen Abstiegs. Wie das Kölner Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) in einer aktuellen Publikation konstatiert, ist der Anteil der EU an der globalen Wirtschaftsleistung seit der Jahrtausendwende um fast ein Drittel zurückgegangen; er liegt nur noch bei 18 Prozent.

Aufgestiegen ist zur selben Zeit China; die Vereinigten Staaten sind ökonomisch ebenfalls zurückgefallen, aber nicht so stark wie die EU. Das IW führt dies darauf zurück, dass von den zahlreichen Krisen der vergangenen Jahre einige – etwa der Brexit – die EU trafen, nicht aber deren globale Konkurrenz.

In dieser Situation entfalten direkte Kriegsfolgen, aber auch die westlichen Russland-Sanktionen eine für die deutsche Industrie bedrohliche Wirkung. Beobachter urteilen, könne etwa die deutsche Kfz-Branche kriegsbedingte Lieferausfälle nicht in Kürze beheben, dann drohten ihr „katastrophale“ Konsequenzen. Wachstumsprognosen wurden bereits jetzt massiv gesenkt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier stellt künftige „Härten“ in Aussicht und fordert „Standhaftigkeit“.

Bedrohte „wirtschaftliche Großmacht“

Das Kölner Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) warnt in einer aktuellen Veröffentlichung vor einem langfristigen ökonomischen Abstieg Europas, gefördert durch eine Reihe globaler und regionaler Krisen, „denen sich vor allem die EU in den letzten zwei Dekaden gegenübersah“.

Zu diesen Krisen zählt das Institut – neben dem aktuell tobenden Krieg in der Ukraine – die Immobilen- und Finanzkrise von 2008, die daran anschließende Eurokrise, die 2015 einsetzende Massenflucht nach Europa, den Brexit und die 2020 ausgebrochene Covid-19-Pandemie. Diese Krisenabfolge gefährde zunehmend „die Position der EU als globale wirtschaftliche Großmacht“, urteilt das IW. Demnach hätten sich die „globalen Wettbewerber“, insbesondere die USA und China, bei einer Reihe „relevanter Wettbewerbsfaktoren“ von der EU absetzen können.

Schrumpfende Anteile

Konkret verweist das IW auf den schrumpfenden Anteil der EU am globalen Bruttoinlandsprodukt (BIP), der von den Höchstwerten von 25 bis 26 Prozent zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf inzwischen nur noch 18 Prozent gesunken sei. Die Vereinigten Staaten hätten zwar ebenfalls Einbußen bei ihrem Anteil an der Weltwirtschaftsleistung hinnehmen müssen, der vor rund zwei Dekaden bei 31 Prozent gipfelte; doch falle deren Abstieg auf inzwischen 25 Prozent nicht so gravierend aus wie derjenige der EU.

Zudem erreichten die Vereinigten Staaten ihren höheren Anteil am globalen BIP mit einer „geringeren Bevölkerung als die EU“. Die schrumpfenden globalen Wirtschaftsanteile des Westens gingen zugunsten der Volksrepublik China, die seit der Jahrtausendwende ihren Anteil an der globalen Wirtschaftsleistung von drei Prozent auf 17 Prozent erhöhen konnte. Nicht nur in absoluten Zahlen, auch bei der Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung falle die EU zurück, heißt es weiter im IW-Bericht.

Diese verringerte sich in der Union von rund 70 Prozent des US-Niveaus im Jahr 1999 auf 65,7 Prozent 2020. Das pro Kopf der Bevölkerung berechnete Bruttoinlandsprodukt Chinas konnte hingegen im selben Zeitraum von 7,7 Prozent auf 27,2 Prozent des US-Niveaus ansteigen.

Finanzielle und natürliche Ressourcen

Das IW bemängelt zudem die niedrigen Konsumausgaben der privaten Haushalte in Europa, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten „in den USA und China deutlich stärker gewachsen“ seien – eine Folge des deutschen Austeritätskurses während der Eurokrise unter dem damaligen deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble, der den südeuropäischen Ländern ein ökonomisch verheerendes Spardiktat oktroyierte. 

Ähnlich schlecht gestalte sich die Investitionstätigkeit, heißt es in der IW-Publikation: „In der EU wird deutlich weniger investiert“ als in konkurrierenden Weltregionen. Anhand seines hauseigenen Standortindexes, der die ökonomische Attraktivität einer Volkswirtschaft erfassen soll, kam das Kölner Institut zu dem abschließenden Fazit, die EU liege diesbezüglich weit hinter den USA. Selbst wirtschaftlich führende Länder wie Deutschland, die Niederlande oder Schweden lagen demnach mit für die EU überdurchschnittlich guten Werten von 128 bis 131 Punkten hinter den Vereinigten Staaten, die 133 Zähler erreichten (auf einer Skala von null bis 200 Punkten). 

Periphere Eurostaaten wie die Slowakei, Portugal oder Polen erreichten weniger als den Durchschnittswert von 100 Punkten. Einen der wichtigsten Faktoren bei der Ausformung der größeren „Standortattraktivität“ der USA sah das IW in dem „Abstand“ gegenüber den Vereinigten Staaten „bei der Verfügbarkeit von natürlichen und finanziellen Ressourcen“. Der „Zugang zu günstigen Rohstoffen wie Energiequellen“ stelle einen wichtigen, schwer wettzumachenden Standortvorteil der USA dar; doch könne „der chronische Rückstand Europas bei der Unternehmensfinanzierung und bei Fachkräften“ durchaus behoben werden, wenn man denn die „Hebung“ ungenutzter Potenziale bei Finanz- und Humanressourcen entschlossen angehe.

„Ernst, sehr ernst“

Beobachter sehen insbesondere die innovationsfaule deutsche Kfz-Branche in Gefahr, die jahrzehntelang auf den Verbrennungsmotor setzte und mitunter die Durchsetzung alternativer Antriebsarten durch Lobbyarbeit in Berlin behindern ließ.

Die Lage für die deutsche Wirtschaft allgemein, speziell aber für die Autoindustrie sei aufgrund des Krieges in der Ukraine „ernst, sehr ernst sogar“, heißt es in einem Bericht unter Verweis auf die explodierenden Energiepreise und die zunehmenden Lieferengpässe bei Ressourcen und Komponenten.

Bei weiteren Verschärfungen der westlichen Sanktionen und bei einer längeren Kriegsdauer, gar bei einem „Stopp der russischen Energielieferungen nach Deutschland“ drohten „katastrophale“ Folgen für die deutsche Kfz-Industrie. Die führende Exportbranche der Bundesrepublik kämpfe zwar schon länger mit protektionistischen Tendenzen in den USA und mit dem Komponentenmangel etwa bei Mikrochips; doch habe die aktuelle Gefährdung eine „andere Qualität“ als zuvor. Der gesamten Branche drohe ein „kollektiver Kollaps“.

Konjunktureinbruch

Die durch den Krieg ausgelösten wirtschaftlichen Verwerfungen führten bereits zu einer massiven Korrektur der deutschen Wachstumsprognosen für das laufende Jahr. Der wirtschaftspolitische Sachverständigenrat der Bundesregierung, im Medienjargon als „Wirtschaftsweise“ bezeichnet, musste seine Konjunkturvorhersage für 2022 bereits von 4,6 Prozent auf 1,8 Prozent reduzieren, da die russische Invasion in die Ukraine das Wachstum dämpft, die Energie- und Verbraucherpreise ansteigen lässt und zu „hoher Unsicherheit“ führt.

Da die Bundesrepublik „stark von russischen Energielieferungen abhängig“ sei, drohe der deutschen Volkswirtschaft überdies eine tiefe Rezession samt einer stärkeren Inflation, sollte es im Kriegsverlauf zu einem „Stopp russischer Energielieferungen“ kommen, urteilt der Sachverständigenrat. Einzelne Gremiumsmitglieder rechnen immerhin damit, Deutschland könne „mit den Folgen eines Gasembargos zurechtkommen“, obwohl dies mit „massiven Einschnitten verbunden“ sei. Der Staat müsse in diesem Fall vor allem die „Härten abfedern“, die mit einer aus dem Gasembargo resultierenden Rezession einhergingen.

Der Wirtschaftseinbruch werde dabei voraussichtlich eine Größenordnung erreichen, die „vergleichbar mit der Pandemie“ sei. Da aber die Staatsschuldenquote der Bundesrepublik im Pandemieverlauf „nur“ von 60 Prozent auf 70 Prozent des BIP angestiegen sei, sei hier „noch Spielraum“, den man nutzen könne – dann jedenfalls, wenn Berlin zu der Überzeugung komme, „den Konflikt durch eine Einstellung der Zahlungen an Russland einhegen zu können“.

„Harte Zeiten“

Bereits Anfang März wurden überdies die ersten Angaben zum kriegsbedingten Einbruch des Welthandels publiziert, der die exportfixierte deutsche Wirtschaft besonders hart treffen dürfte. Demnach ist laut Berechnungen des Kiel Instituts für Weltwirtschaft (IfW) der Welthandel im Februar um 5,6 Prozent gegenüber dem Vormonat zurückgegangen. Dies sei der „größte Einbruch sei der Corona-Pandemie“. 

Angesichts der sich rasch verdüsternden wirtschaftlichen Aussichten schwor Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Bundesbürger bereits auf „langfristige Einschränkungen“ ein. nlässlich eines Solidaritätskonzerts für die Ukraine erklärte Steinmeier, auf „uns in Deutschland“ kämen „härtere Tage“ zu. Die Welt verändere sich derzeit schneller, als „wir es für möglich gehalten hätten“, äußerte der Bundespräsident, der zudem ankündigte, die meisten „Härten“ würden noch „vor uns liegen“: Die „Solidarität“, die „Standhaftigkeit“ und die Bereitschaft der Bundesbürger „zu Einschränkungen“ würden noch „auf lange Zeit gefordert sein“.