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Freiheit statt Liberalismus

Ausgabe 291

Foto: ake1150sb | Freepiks

(iz). Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Patrick Deneen hat gerade eine bemerkenswerte Kritik des Liberalismus veröffentlicht. Leider wird sie hierzulande bislang kaum wahrgenommen.

Der Liberalismus sei nicht gescheitert, weil er seine Ziele verfehlt, sondern weil er diese Ziele erreicht habe. Das ist kurz gefasst die Kernaussage des Buches „Why liberalism ­failed“, das bereits 2018 im amerikanischen Original erschien und nun in dem kleinen Salzburger Verlagshaus Müry Salzmann auf Deutsch veröffentlicht wurde – nicht bei C. H. Beck oder Rowohlt, denn sein Autor, der katholische Politikwissenschaftler Patrick J. Deneen, Professor an der University Notre Dame von Ohio, ist bislang ein Geheimtipp.

Doch das könnte sich nun ändern, denn ­Deneens Buch hat das Zeug zum Manifest für ein neues Zeitalter der Freiheit nach dem Liberalismus. Hier versucht kein russischer oder chinesischer Ideologe, die westliche Ordnung zu delegitimieren; hier schreibt auch kein raunender Neu- oder Altrechter und auch kein religiöser Fundamentalist, sondern ein profunder und leidenschaftlicher Kenner der 2.500-jährigen politischen und Ideengeschichte der Freiheit in Europa und den USA.

Deneen setzt zwei Freiheitsbegriffe gegeneinander: den klassischen der griechischen Polis und den modernen, wie er in der Renaissance entstand und für die politische Entwicklung des globalen Westens in den vergangenen fünf Jahrhunderten maßgebend wurde. „Im Gegensatz zur antiken Theorie, dergemäß Freiheit nur durch tugendhafte Selbstbeherrschung zu erlangen war, definiert die moderne Theorie Freiheit als die größtmögliche Befriedigung der Begierden.“ Eigentlicher Schöpfer des modernen, liberalistischen Freiheitsbegriffs sei nicht etwa Francis Bacon gewesen, sondern Machiavelli, der „mit dem klassischen und mit dem christlichen Anspruch brach, die Versuchung der Tyrannei durch Erziehung zur Tugend zu mäßigen“.

Jener klassische Anspruch definierte Freiheit nämlich nicht als die Freiheit, seine Triebe grenzenlos auszuleben, sondern als die intellektuelle und moralische Qualität, diese Triebe zu temperieren und sich über sie zu erheben. Nun würde eine solche Haltung vom generellen Ideologieverdacht heute, der links wie rechts common sense ist, schnell als unaufrichtiges intellektuelles Herrschaftsinstrument einer elitären Minderheit denunziert; in Wahrheit aber war und ist diese Haltung die Haltung eines wahren, religiös gegründeten Humanismus.

Denn der wahrhaft selbstbewusste Mensch braucht sich und seine Umwelt nicht erst gewalt- und listenreich von der eigenen Grandiosität zu überzeugen; er muss nicht erst zum Mond fliegen, um zu fühlen und zu wissen, dass er dazu in der Lage wäre. Und so sind die alten Griechen kulturgeschichtlich dafür bekannt, dass sie zwar über alles nötige mathematische Rüstzeug für die technischen Erfindungen der Moderne verfügten; aber, warum auch immer, auf die Ausführung dieser Erfindungen verzichteten.

Zu einer solchen Haltung kommt nur, wer um eine höhere Legitimität des eigenen ­Wesens weiß. Gewaltig ist vieles, nichts aber ist gewaltiger als der Mensch; in der anthropologischen Grundannahme, die Sophokles in diese unsterblichen Worte fasste, schwingt das Urwissen um den göttlichen Funken mit, der den Menschen erst zu dieser Gewaltigkeit erschaffen hat; ein Urwissen, um das herum sich der abrahamitische Glaube gleichsam als geistliche Membran gelegt hat, aus der die monotheistische Geistesge­schichte erwuchs. Und aus diesem Urwissen förderte in Deneens Worten „die ältere ­Tradition ein Ethos der Beherrschtheit. (…) Sie erkannte, dass der Mensch in seinem Vermögen, aus zahlreichen Optionen zu wählen, einzigartig unter den Geschöpfen ist und ebenso in dem Bedürfnis nach Orientierung.“

Darein fügt sich umgekehrt aber, dass in der europäischen Neuzeit menschliche Grenzüberschreitungen gegenüber der Natur und gegenüber dem eigenen Menschsein in demselben Maße zugenommen haben, wie die Überzeugung von der eigenen Auserwähltheit und damit die Verwurzelung in einem metaphysischen, transzendenten Horizont geschwunden ist. Der („westliche“) Mensch heute fühlt sich auf seltsame Weise om­nipotent und ohnmächtig zugleich, er ist, in Deneens Worten, herabgesunken zum ­“abstrakten, entwurzelten und konsumierenden Selbst“.

Politisch äußert sich diese Verfasstheit im doppelten Triumph des Wohlfahrtsstaates und des Individualismus, die für Deneen, ­genauso wie Konservatismus und Progres­sivismus, nur scheinbar Gegensätze sind. (Deneens ausführliche Darstellung der poli­tischen Geschichte des Liberalismus kann hier nur angerissen werden.) Beide, der „rechte“ Etatist und der „linke“ Individualist, hängen demselben Erbe des Francis Bacon an, wonach der Mensch auf der Erde sei, um gegen die Begrenzung durch die Natur zu kämpfen und sich ein diesseitiges Himmelreich zu schaffen, während es Aufgabe des Staates sei, ihn hierbei nach Kräften zu unterstützen und immer mehr Menschen in diesen Kampf gegen die Natur und für permanente Entgrenzung einzubinden. Dazu dienen insbesondere, so Deneen, „die Auflösung sexueller und die Aufhebung wirtschaftlicher Normen. Beides wird im Namen des menschlichen Willens und seiner Befreiung vorangetrieben, eines Willens, der sich vor allem über Konsum, Hedonismus und kurzfristiges Denken definiert.“

Infolgedessen könne sich heutzutage niemand „eine Position in der politischen Führung erhoffen, wenn er für Einschränkungen und Selbstbeherrschung plädiert“. Tugend und Selbstbeherrschung/-beschränkung sind die zentralen Vokabeln der politischen Theorie Deneens, und ja: wer sie heute mit ernster Verwirklichungsabsicht öffentlich in den Mund nähme, gälte entweder als idealis­tischer Spinner oder als besonders gerissener Machtpolitiker, der wohl insgeheim ein ­platonisches Regime der Priesterkönige errichten wolle.

Dabei scheine, so Deneen mit deutlichem Anklang etwa an Timothy Snyder oder ­Andreas Rödder und deren Warnung vor der „illiberalen Demokratie“, gerade der Liberalismus „aus dem Volk kommende Forderungen nach einem illiberalen Autokraten zu erzeugen, der verspricht, die Menschen vor den Unwägbarkeiten des Liberalismus zu schützen.“ Das wird keinen aufgeklärten Zeitgenossen überraschen. Gegen Jason Brennan, der die demokratische Mitbestimmung einschränken will, um die Freiheit zu retten, wendet Deneen sich dennoch in scharfen Worten – aber nicht ganz überzeugend.

Statt nämlich einer Aristokratie der moralisch Überlegenen, die er höchstens zwischen den Zeilen (etwa in einem lesenswerten ­Exkurs über Tocqueville) beschwört, plädiert Deneen für eine andere Remedur: „Aus der Förderung neuer und besserer Identitäten, die durchlässig sind für das Schicksal anderer und sich in der Pflege von Gemeinschaftskulturen, Fürsorge, Selbstaufopferung und Demokratie im Kleinen engagieren, könnte eine bessere Praxis entstehen und daraus letzten Endes vielleicht eine bessere Theorie.“ Das klingt nach gängigen sozialen Utopien der jüngeren Zeit, die längst nicht mehr nur auf der politischen Linken Usus sind und die insbesondere in religiös geprägten Diskursräumen Resonanz finden: lokale Strukturen, begrenztes Wachstum, Nachhaltigkeit, Subsidiarität und flache Hierarchien statt eines paternalistischen Staates und einer übermächtigen Unterhaltungsindustrie.

Deneens Buch vereint Politikwissenschaft, Ideen-, auch Kulturgeschichte und natürlich Ethik. Theoriegeschichtlich ließe es sich am ehesten der normativen Schule der Politikwissenschaft zuordnen. Das Original ist ­brillant geschrieben und gut zu lesen. Die deutsche Übersetzung dagegen ist zwar routiniert, kann aber mit der Klarheit und dem Schwung des Originals nicht mithalten; vereinzelt lässt sie sogar Passagen weg, was eine zweite Auflage, auf die zu hoffen ist, freilich wird berichtigen können. In seinen anthropohistorischen Passagen mutet „Why liberalism failed“ wie eine Paraphrase der Werke Hannah Arendts oder Günther Anders’ an, wohingegen seine Kulturkritik viele gängige technikkritische Stereotype – etwa solche über den Werteverfall durch die Massenmedien – abbildet, die stets offenlassen ­müssen, wie ein Gegenentwurf zur „liberalen Antikultur“ denn realistisch aussehen könnte. Dennoch finden sich auch hier treffende Beschreibungen, die sich in ihrer Geschliffenheit vor einem Yuval Harari nicht zu verstecken brauchen: „Unsere Populärkultur mutet an wie eine elektronische Kassandra, die in die Zukunft sieht, aber niemanden dazu bewegen kann, ihr zu glauben. Diese Kultur wartet mit unterhaltsamen, aus un­seren Ängsten geborenen Prophezeiungen auf, und wir finden ein perverses Vergnügen daran, uns mit Schilderungen unserer Machtlosigkeit abzulenken.“

Diese Machtlosigkeit konnte freilich erst auf dem Horizont der liberalistischen Anmaßung, die Natur bezwingen zu können, ihr volles Potenzial entfalten. Dennoch – und das macht eben die Größe dieses Buches aus – geht es Deneen weniger um die Rettung der Erde – mit der die climate warriors von heute die Rettung der Welt vulgo gern und falsch gleichsetzen – als um die Rettung der Transzendenz des Menschen.

Womöglich aber liegt beides heute nahe beieinander. Denn „unsere kohlenstoffgesättigte Welt ist der Kater nach einer 150-jährigen Party, auf der wir den Traum von der Befreiung aus den Zwängen der Natur feierten. Nach wie vor aber vertreten wir die irrige Auffassung, dass die Wissenschaft uns von Grenzen befreien und gleichzeitig die damit einhergehenden Folgen beheben könne.“ Auf diesen Nenner werden sich hoffentlich sowohl die grün-linken als auch die religiös-humanistischen Freunde der Freiheit einigen können.

Patrick J. Deneen: Warum der Liberalismus gescheitert ist. Aus dem Amerikanischen von Britta Schröder. Salzburg: Müry Salzmann, 296 Seiten, Preis: EUR 28.–