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Goethe und ich

Ausgabe 328

Goethe Divan Koran
Foto: Dana Ward, Unsplash

(iz). Eine Geburt vor über 2.022 Jahren veränderte die Geschicke der gesamten Welt. Jesus, Allah schenke ihm Frieden, erblickte das Licht der Welt. Eine Auswanderung von vor 1.444 Jahren veränderte die Geschicke der gesamten Welt. Muhammad, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden, wanderte gemeinsam mit seinem Freund, Abu Bakr, möge Allah zufrieden mit ihm sein, nach Medina aus.

Ich wurde im Jahr 1991 geboren, 1.991 Jahre nach dem Hauch Allahs und 1.412 Jahre nach der Auswanderung des Geliebten Allahs. Mein Großvater wanderte 1.965 nach der Geburt Jesus nach Deutschland aus und leitete damit ein, dass ich in derselben Stadt geboren werde, wie die Herzogin Mutter Deutschlands: Herzogin Anna-Amalia. 1.739 Jahre nach Jesus geboren veränderte sie die Geschicke der gesamten Welt, indem sie einen Mann nach Weimar holte, der kurz zuvor mit einem Roman ganz Europa in Aufruhr versetzte: Johann W. Goethe. Wäre die Auswanderung meines Opas nicht gewesen und hätte die Herzogin Mutter nicht Goethe nach Weimar geholt, so wäre Goethe vermutlich nicht zur prägendsten Gestalt meines Lebens geworden.

Muslime fragen, warum kein Muslim die prägendste Gestalt meines Lebens geworden ist. Die Antwort: Goethe hat das Land, in dem ich geboren wurde, am stärksten geprägt. Dieses Land wirkte sich auf mich aus. Die Sprache, die ich am besten beherrsche, ist Deutsch und eben diese Sprache, wurde von Goethe auf ein höheres Niveau gehoben. Die Sprache, in der ich denke, meinen Gefühlen Ausdruck leihe, mich tagtäglich mitteile, ist die Sprache Goethes. Wenn ich lernen möchte, mich besser auszudrücken, so lese ich seine Werke und die derer, die er geprägt hat. Goethe ist der Vater des Deutschen geworden. Damit ist er auch mein Vater, der ich die deutsche Sprache spreche. Wenn ich gut und schön sprechen möchte, wie Allah, der Ur-Schöne, es von jedem Menschen fordert, so muss ich Goethe lesen.

Ich las Goethes „Faust“. Zuerst widerwillig. Doch ich las es und mein gesamtes Gedankengebäude stürzte ein und bildete sich neu. Es ist die Geschichte eines Mannes, der die Menschheit repräsentiert, den Verführungen des Teufels ausgesetzt. Das war ich. Goethe spricht nicht nur mir, er spricht jedem Menschen aus der Seele… Goethe ist ein Mensch, der sich bewusst ist, dass Menschen andere prägen, dass manche ein Zeitalter prägen und manche alle Zeiten prägen. Goethe wusste, Moses, Jesus und Muhammed, möge Allah ihnen Frieden schenken, prägten alle Zeiten. Menschen, die andere prägen, nannte er Genie. Selbst wusste Goethe, er prägt andere. Aber nicht als Prophet. Er war kein Genie als Prophet, wie er im Muhammed-Kapitel schreibt. Er ist auf eine andere Art göttlich befeuert. Goethe prägt die Welt als ein Genie als Poet.

Das Besondere an seiner Persönlichkeit ist sein Charakterzug, aus allem und jedem Lehren zu ziehen. Er lebt am Beginn der Zeit, die wir Moderne nennen und sein Leben bietet mir den Unterricht, um selbst auch in dieser Zeit zurechtzukommen. Durch ihn wurde ich gelehrt, Menschen und Dinge richtig einzuschätzen. Ich lernte von ihm, wie ich mich in Deutschland und der deutschen Gesellschaft zurechtfinde. Was ist typisch für viele aus der deutschen Bevölkerung, welche Herausforderungen erwarten mich in deutschen Gesellschaften? Er lebte es und erzählt es mir. Was erwartet mich in meiner Auseinandersetzung mit der europäischen Welt?

Goethe steht mir beratend zur Seite. Er lobt, wo es zu loben gibt und kritisiert, wo es des Tadels bedarf. Liegt er immer und absolut richtig? Welcher Mensch tut das? – Gibt es Menschen, die wesentlich häufiger richtig liegen als andere? Gewiss, Er war einer von ihnen. Am Anfang seines Weges sprach er ein Bittgebet und Allah, der Hörer der Rufe, nahm sein Gebet an. Goethe sprach, noch bevor sein erstes Werk veröffentlicht wurde: „Ich möchte beten wie Moses im Koran: Herr, mache mir Raum in meiner engen Brust.“ Goethe wusste, dass er nur erkennen kann, wenn ihm von höherer Instanz Licht gegeben wird und des Menschen Aufgabe ist es, um dieses Licht zu verdienen, sich immer strebend zu bemühen.

Damit hat er verstanden, was Muhammad, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden, meint, wenn er Dschihad zur Pflicht eines jeden Menschen macht. Das Besondere im Alltag zu erhalten, sich tagtäglich strebend zu bemühen, um mehr Licht und um mehr Liebe, um ein echt-humanes Leben zu führen. Dadurch wird die Kultur, in der ich wirke, erhoben. Hierzu seinen Beitrag zu leisten, das bedeutet Dschihad.

Goethe lehrte mich, dass ein Mensch überall zuhause sein kann, in absolut jedem Land der Welt. Er schreibt: „Wo ich nütze, ist mein Vaterland.“ Durch Muhammad, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden, weiß ich, dass sogar ein Lächeln nützlich ist, wenn es einem Mitmenschen das Herz erfreut. Was gibt es Gewaltigeres, als einem Menschen eine Herzensfreude zu machen?

Welche Freude ist größer und bedeutender, als jemandem auf seinem Weg durch das Erdental zu höherer Erkenntnis zu verhelfen und ihm zu helfen, noch mehr echte Menschlichkeit auszubilden? Hierin waren sich Goethe und Herder einig. Ich lernte also von Goethe, dass Deutschland und jeder beliebige Ort auf der Erde meine Heimat ist. Denn als Muslim kann ich mir ein unnützes Leben absolut nicht vorstellen. „Der beste unter den Menschen ist, wer den Menschen am nützlichsten ist.“ Dies lehrt das letzte Genie als Prophet: Muhammad, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden.

Ich will nützen, mich bis zum letzten Atemzug strebend bemühen, mir beständig Wissen aneignen und herzlich und beherzt handeln, gesellige Bildung besitzen. Goethe ist eine Schule des Anstands. Er wollte dem deutschen Volk schönere Sitten beibringen. In seinen „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter“ führt er den Begriff der geselligen Bildung ein und erklärt, was er bedeutet. In seinem Torquato Tasso lehrt er, dass ein Mensch wissen müsse, wer er selbst und wo er sei. Wenn sich ein Mensch dessen bewusst ist, kann er sich wirklich menschlich benehmen. Darum geht es.

Gleichzeitig animiert er mich, meinem Herzen zu folgen. Meinem Herzen, das ich zuvor ausgebildet habe. Meinem Herzen, dessen Geschmack ich ausgebildet habe. Er war kein Individualist und Selbstdarsteller. Er stellte das dar, was den Menschen nützt, nützt heißt: dienlich ist. Wer glaubt, Goethe vertrete uneingeschränkte Wortfreiheit, der irrt. Er war dagegen, jemandem das Wort zu verbieten, doch nichts verurteilte er mehr als das Geschmacklose, als Ignoranz und Unwissenheit, die sich erdreistet über Themen zu sprechen, die sie nicht versteht. Jeder kann, darf und wird Fehler machen, doch sollte meine gesellige Bildung sich darin ausdrücken, dass ich Herzen Fremder eben nicht kränke.

So viel und noch mehr lehrte er mich. Er führte mich zu Scheikh Feriduddin Attar und Rumi und Hafis Schirasi. Vorurteilsfreie Beschäftigung lernte ich durch ihn – dennoch weiß ich: Auch Goethe hatte Vorurteile. Welcher Mensch kann sich frei wähnen von sämtlichen Vorurteilen, die ihm durch sein Elternhaus und seinen Kulturraum anerzogen wurden? Sie zu minimieren und dermaßen zu tilgen, dass niemand gekränkt wird, das heißt Menschlichkeit ausbilden. Dafür wurden wir auf diese Erde geschickt und Goethes Leben und Werk ist mir ein Unterricht, meine Pflicht Menschlichkeit auszubilden, dort zu erfüllen, wo ich mich befinde.

Menschen prägen andere Menschen. Die Entscheidungen meines Opas und der Herzogin Mutter prägen mein Leben. Ich kam hier auf die Welt, lernte diese Sprache, das ist mein Schicksal. Dies gab mir Allah, die Vorsehung. Allah, der Gerechte, gab uns Menschen die Pflicht, unsere Vorsehung zu nutzen, um Menschlichkeit auszubilden. Dafür sind wir hier. Wer weiß, wohin es kommende Generationen führt?