
Cemal Yasar ist Regionalkoordinator für Nordrhein-Westfalen bei der Hilfsorganisation Islamic Relief Deutschland und verantwortlich für Fundraising. Seit 15 Jahren arbeitet er für die Organisation. Wir befragten ihn über seine Eindrücke nach einem längeren Aufenthalt im Erdbebengebiet.
Islamische Zeitung: In den Tagen nach der Erdbebenwelle gab es erschütternde Luftaufnahmen von zerstörten Wohnblöcken, vernichteter Infrastruktur und tiefen Gräben. Wie sah das Bild aus, dass sich Ihnen vor Ort bot?
Cemal Yasar: Ich bin am Flughafen Urfa abgeholt worden und kannte die Stadt von vor drei Jahren. Das Bild, das sich uns dort bot, war unbeschreiblich. Es herrschte eine düstere Atmosphäre. Alle Läden waren geschlossen. Gottlob war die Stadt nicht sehr stark betroffen. Viele hatten sich aufs Land zurückgezogen, wenn sie es konnten. Sie haben Nachbeben befürchtet. Direkt am Straßenrand standen weinende Frauen.
Nebenan war ein Gebäude dem Erdboden gleichgemacht und sie haben verzweifelt auf gute Nachrichten gewartet, ob Angehörige aus den Trümmern geborgen werden konnten. Dieses erste Bild hat sich in Folge verschlechtert und wurde in den folgenden sieben Tagen unseres Aufenthalts nicht anders.
Erste Eindrücke im Erdbebengebiet
Islamische Zeitung: Seit Beginn stiegen die Zahlen von Toten, Verletzten und vernichteten Gebäuden stetig an und wir sind jetzt bei mehr als 40.000 Verstorbenen. Gibt es in dieser Hinsicht verlässliche Schätzungen über die Türkei und Syrien?
Cemal Yasar: In dieser Phase müssen wir auf Angaben der jeweiligen Behörden und Einrichtungen vertrauen. Am Ende des Tages ist jetzt nicht so wichtig, wie die Zahlen ganz genau aussehen, aber die Dimensionen sind damit gut wiedergegeben. Als wir vor Ort waren, sprach man von über 10.000 Gebäuden und rund 40.000 Toten. Gottseidank starben in Syrien vergleichsweise nicht so viele Menschen. Wir haben von etwas mehr als 4.000 Verstorbenen im Nachbarland gehört.
Insgesamt sind vom Erdbeben in der Türkei mutmaßlich 30 Millionen Menschen betroffen. Das ist eine ungeheure Dimension, die man sich nicht ausmalen kann. Ich möchte noch mal betonen, dass die Lage unvorstellbar war. Ansonsten kennt man das nur aus Hollywoodfilmen. In Adıyaman beispielsweise herrschte am ersten Tag ein ungeheures Chaos. Wir waren dort im Gebäude des Gouverneurs. Es war zwar noch intakt, aber chaotisch.
Die Straßen waren voller Autos, weil sie noch zugeschüttet waren. Wir konnten teilweise nicht von A nach B kommen, weil wir immer wieder umschwenken mussten, da alles durch Trümmer versperrt wurde. Das war direkt am ersten Tag. Es ist so: Man kann es wirklich nicht in Worte fassen. In einem entsteht eine sehr große Traurigkeit. Die Emotionen lassen sich dann auch nicht mehr zurückhalten, und es fließen dann auch ein paar Tränen. Wir waren sprachlos.
Betroffene Infrastruktur
Islamische Zeitung: Ein Erdbeben trifft nicht nur Menschen und Wohnhäuser. Es beschädigt die ganze Infrastruktur – Wasser und Abwasser, Strom und Krankenhäuser. Haben Sie gesehen, wie viel davon beeinträchtigt war?
Cemal Yasar: Ja, sie war erheblich betroffen. Wir haben in Gaziantep übernachtet. Dort gab es kaum noch funktionierende Hotels, sodass wir Schwierigkeiten hatten, einen Platz zu finden. Ich wollte im Büro von Islamic Relief übernachten. Aber das war schon voll, weil viele lokale Kollegen hier waren oder aus Angst in ihren Autos schliefen. Wir fanden dann nach 10-20 erfolglosen Versuchen ein Hotel. Strom war ein Problem, auch in Gaziantep. Einiges wurde mit Notstromaggregaten angetrieben.
Und es gab kein Essen und Gaziantep ist bekannt für seine Küche. Es war einfach ein unglaubliches Gefühl in einer Stadt, die für ihr Essen berühmt ist, zu erfahren, dass es dort kein offenes Restaurant gab. Sie (Restaurants) waren geschlossen und haben meistens kostenlos Suppen für die Bedürftigen verteilt. Davon haben wir dann profitieren können. Das war meistens die einzige Mahlzeit, die wir nach rund 16-18 Stunden Dienst zu uns nehmen konnten. Die ganze Infrastruktur wurde runtergefahren, teilweise auch Erdgasleitungen, damit es keine späteren Folgeprobleme gibt.
Was steht jetzt an?
Islamische Zeitung: Mittlerweile sind die ausländischen Nothelfer und Bergeteams abgezogen, weil sie nicht mehr gebraucht werden. Vor welchen Aufgaben stehen jetzt HelferInnen beispielsweise von Islamic Relief oder dem Roten Halbmond in der nächsten Zeit?
Cemal Yasar: Was als Nächstes ansteht, ist natürlich die Lebensmittelversorgung; darüber hinaus selbstverständlich auch Zelte. Es ist wichtig, dass die Menschen ein Dach über dem Kopf haben. Das macht die türkische Regierung im großen Stil. Insbesondere in Syrien haben wir das ab Tag zwei oder drei gemacht: Zelte und Heizgeräte oder Öfen, die mit Holz befeuert werden.
Auch Hygieneartikel sind wichtig. Das habe ich zum Beispiel auch in afrikanischen Ländern erlebt, dass diese wichtigen Produkte fehlen. Mädchen beispielsweise können nicht in die Schule kommen, wenn ihnen solche fehlen. Das kann man sich ja gar nicht vorstellen, wenn man nicht direkt damit konfrontiert ist. Gerade Kinder benötigen auch Dinge wie eine Zahnbürste. Für uns ist das schwer vorstellbar, weil wir hier anders leben.
„Die Menschen sind auch resilient“
Islamische Zeitung: Wie hat die Bevölkerung reagiert?
Cemal Yasar: Die Türkei ist ein muslimisches beziehungsweise vom Islam geprägtes Land. Insbesondere im Südosten sind die Menschen sehr ihrer Religion verbunden. Natürlich herrscht Traurigkeit und Tränen fließen. Aber die Menschen sind auch recht resilient. Vor Ort legen sie eine unglaubliche Hilfsbereitschaft an den Tag.
Als wir dort waren, wurden wir ganz oft von Fahrern in Pickups mit Hilfsgütern angesprochen, ob wir auch etwas benötigen. Wir haben dankend abgelehnt. Viele Geschäftsleute haben ihre LKWs mit Lebensmitteln vollgepackt und an die Menschen inmitten der Trümmer verteilt.
Die Hilfsbereitschaft ist unheimlich groß, nicht zuletzt auch in Deutschland. Als ich dort war, habe ich immer wieder mitbekommen, wie sehr sich die Leute engagiert haben. Das kann ich für das Erdbebengebiet sowie für Deutschland sagen. Man freut sich, dass es eine helfende Hand für die Betroffenen gibt.
Pressefoto: Islamic Relief Deutschland
Hilfe auch für Syrien
Islamische Zeitung: Wie sieht es in Syrien aus, wo die Menschen seit mehr als einem Jahrzehnt unter einem verheerenden Konflikt leiden und bereits vorher teils unter sehr schwierigen Bedingungen lebten?
Cemal Yasar: Dort ist es in der Tat dramatisch. Die Situation war schon vorher schlecht. Jetzt ist sie dramatischer geworden. Eine Infrastruktur gab schon zuvor nicht mehr. Deswegen ist es umso wichtiger, dass viele internationale Hilfsorganisationen dort aktiv werden. Nun sind zwei Grenzübergänge geöffnet worden. Hilfsgüter werden von der Türkei aus gebracht. Wir waren von Anfang an vor Ort, haben Zelte aufgebaut und medizinische Güter gebracht – wie benötigte Schmerzmittel. Tagtäglich gibt es dort eine Verteilung von Lebensmitteln.
Islamische Zeitung: Was können Menschen tun, um den Betroffenen vor Ort sinnvoll zu helfen?
Cemal Yasar: Anfänglich gab es einen starken Aktionismus, aber manchmal ist das nicht unbedingt adäquat. Teilweise wurden Hilfsgüter unkoordiniert in die Türkei gebracht, wo es niemanden gab, der sie entgegennehmen konnte. Und LKW-Fahrer haben sie dann einfach abgeladen. Es ist der Sache zweckdienlicher, Geld zu spenden. Damit können vor Ort Güter gekauft werden, was die lokale Wirtschaft ankurbelt
Es kommt auch auf die jeweiligen Sache an. Dinge wie Generatoren werden dringend benötigt. Langfristig brauchen die Betroffenen lokal medizinische Hilfe. Das sind Beispiele für Hilfe, die aus Deutschland kommen kann.
Man braucht gute Ansprechpartner vor Ort, damit Hilfe die Richtigen erreicht. Langfristig benötigen die Menschen ein Obdach. Und es wird noch eine Weile dauern, bis die Temperaturen ansteigen. Angesichts dieser Ausnahmezeit kann niemand erwarten, dass es gleich am ersten Tag rund läuft.
Islamische Zeitung: Wir bedanken uns recht herzlich für das Gespräch.