
(iz). Seit geraumer Zeit gehört der Islamische Religionsunterricht (IRU) zum Alltag an Schulen in den Ballungsräumen. Über seinen heutigen Stand, Herausforderung für das Fach und seine LehrerInnen sowie die Schaffung einer neuen Begrifflichkeit sprachen wir mit der Studienrätin Birgül Karaarslan. Die Pädagogin, die unter anderem das Fach unterrichtet, ist Vorsitzende des Verbands Muslimischer Lehrkräfte.
Islamische Zeitung: Wie schätzt der Verband muslimischer Lehrkräfte (VmL) die gegenwärtige Lage des Islamischen Religionsunterrichts (IRU) in Deutschland ein?
Birgül Karaarslan: Der Islamische Religionsunterricht in Deutschland ist ganz unterschiedlich etabliert. Als VmL engagieren wir uns vorrangig in NRW, obwohl wir natürlich den Anspruch haben, deutschlandweit zu agieren. In NRW ist die Lage sehr gut im Vergleich zu den anderen Bundesländern.
Die Ziele, die damals bei der Schaffung des Faches formuliert wurden, wurden nur teilweise erreicht. Der Religionsunterricht soll flächendeckend etabliert werden. Und wir sehen, dass das teilweise in ländlichen Regionen nicht der Fall ist. Er ist tatsächlich in Städten und Kreisen gut etabliert, wo schwerpunktmäßig muslimische Kinder in die Schulen gehen. Allerdings gibt es das Problem des Lehrermangels, was eine zweite Frage aufwirft. 2013 wurde das Fach bekenntnisorientierter Islamischer Religionsunterricht umbenannt, um diese Orientierung auf das Bekenntnis noch mal reinzubringen, was ganz wichtig ist. Dabei hat man nicht alles genug bedacht.
Denn wir haben derzeit nur eine einzige Universität, ein Zentrum für Islamische Theologie in NRW, das derzeit ein Studium zum Lehramt anbietet. Jetzt ist die Fachhochschule Paderborn in diesem Wintersemester nachgezogen. Das ist aber trotzdem immer noch unzureichend. Es gibt auch noch eines im niedersächsischen Osnabrück, da wurde das Fach schon 2008/2009 im kleinen Kreis berufsbegleitend angeboten. Darüber hinaus gibt es noch in Baden-Württemberg, Hessen und Bayern Zentren, die aber trotzdem nicht ausreichend für die Ausbildung dieser Lehrkräfte sind. Da gibt es definitiv einen Mangel.
Das haben wir auch dem zuständigen Ministerium mitgeteilt. Das Problem besteht darin, dass die Universitäten sich nicht unbedingt um das Fach Islamische Theologie reißen. Es gäbe in Nordrhein-Westfalen zumindest genug interessierte Studierende, die dieses Fach auf Lehramt studieren würden. Der Mangel ist zum einen dadurch bedingt, dass es zu wenige Standorte gibt, an denen man studieren kann. Und auf der anderen Seite ist es so, dass die Berliner Humboldt-Universität neuerdings das Fach anbietet. Hier versucht man auf der einen Seite mit Fortbildungsmaßnahmen, noch mal Lehrkräfte dazu zu gewinnen. Es gibt immer wieder Personen, die als Theologen oder Islamwissenschaftler noch mal den Seiteneinstieg in die Schule machen. Das wird aber vom Ministerium nicht so gerne gesehen, weil man natürlich grundständige, ausgebildete Lehrer möchte. Das ist eigentlich bei christlichen Religionen gang und gäbe. Da sind viele Pfarrerinnen und Pfarrer in den Schuldienst eingestiegen. Das ist gar nicht so einfach, wenn man sich die Zahlen anguckt. Bei einer halben Million Schüler in NRW haben wir derzeit ungefähr 300 Lehrkräfte. Diejenigen, die diesen Mangel sahen, hätten viel früher reagieren müssen. Das Münsteraner Zentrum besteht seit zehn Jahren. Da hätten andere Universität mitziehen können. Also ich würde zum Beispiel hier im Ruhrgebiet, wo die meisten muslimischen Schülerinnen und Schüler selbst herkommen, definitiv in Duisburg, Köln oder Duisburg einen Standort ansiedeln.
Islamische Zeitung: In Deutschland ist Bildung generell Ländersache. Wie wirkt sich der deutsche Föderalismus auf den Religionsunterricht aus?
Birgül Karaarslan: Ja, das ist natürlich was für die Lehrkräfte, die sich entscheiden, in ein anderes Bundesland zu gehen – egal ob nach der Ausbildung, einer Heirat oder aus anderen Gründen. Das ist dann einfacher, könnte man sofort einen Job als Lehrkraft finden. Aber das ist tatsächlich problematisch. Wir haben beispielsweise Lehrkräfte aus Gießen, die dort ihre Ausbildung gemacht haben und leider keine Arbeit gefunden haben und dann nach NRW gekommen sind. Da gibt es Probleme bei der Einbindung dieser Leute.
Man muss natürlich sagen: NRW ist Vorreiter im föderalen System. Wenn man mit diesen Voraussetzungen in ein anderes Bundesland geht, steht man vor einer anderen Situation. Von daher ist es eher hinderlich für Berlin, für die Ausweitung des Faches IRU, dass es unterschiedliche Konzepte in den unterschiedlichen Bundesländern gibt. Ich glaube, nur vier oder fünf Bundesländer haben den bekenntnisorientierten Islamischen Religionsunterricht. In Hamburg gibt es das interreligiöse Modell eines Religionsunterrichts für alle. Da gibt es viele Konzepte. Und natürlich sind wir als Verband daran interessiert sowie viele muslimische Eltern auch, dass das Fach unterrichtet wird.
Von christlicher Seite wird häufig die Anfrage gestellt, ob das Ganze nicht in einem interreligiösen Unterricht zu machen ist. Das ist in der Grundschule zum Beispiel gar nicht möglich. Wie soll ein Kind interreligiös lernen, bevor es seine eigene Religion kennengelernt hat?
Islamische Zeitung: Es gibt die Theorie und das, was sich Öffentlichkeit und Staat wünschen. Die andere Seite sind die konkreten Erfahrungen der KollegInnen. Werden diese und das Fach gut angenommen oder stoßen sie auf Widerstand?
Birgül Karaarslan: Das ist ein Thema, das mit der Akzeptanz des Faches an sich und auch der Lehrkräfte zu tun hat, obwohl es sich hier um bis zu 90 Prozent grundständig ausgebildete Lehrkräfte handelt. Zum Teil werden sie nicht als vollwertige Lehrkraft betrachtet und immer noch diskriminiert. Sie stehen vor Hürden oder haben mit Vorbehalten gegenüber ihrer Person zu kämpfen. Das melden uns Lehrkräfte leider immer wieder. Das Fach ist leider auch nicht immer gewünscht. Es gibt in NRW selten Schulleitungen, die von sich aus das Fach Islamische Religion einführen, obwohl es viele Eltern beantragen. Dann wird erst einmal über die Einführung nachgedacht, obwohl es zum Beispiel eine 50- bis 60-pozentige muslimische Schülerschaft in manchen Schulen gibt. In einigen Städten wie Dortmund, Duisburg, Gelsenkirchen oder in Köln kann das der Fall sein. Da könnte die Schulleitung von sich aus das Fach einführen.
Islamische Zeitung: Die KollegInnen haben nicht notwendigerweise mit Anfeindungen zu tun, oder?
Birgül Karaarslan: Teilweise sind es so Dinge, dass sie zu Experten erklärt werden. Da wird jede Frage zum Thema Islam an sie herangetragen. Das ist grundsätzlich nichts Schlimmes, weil sie als Ansprechpartner gesehen werden. Doch das ist für muslimische Lehrkräfte stellenweise eine Belastung. So sehen sie das manchmal, weil sie sich nicht für jede Frage zuständig sehen.
Es gibt immer wieder vereinzelte Fälle, wo KollegInnen im Kollegium vorgeworfen wird, sie seien zu konservativ, kein liberaler Muslim oder was das überhaupt für ein Fach sei. Das kommt tatsächlich ab und zu mal vor.
Islamische Zeitung: Praktizierende Muslime sind nicht homogen. Es gibt Unterschiede zwischen Rechtsschulen oder Traditionen. Kann der IRU auf diese Unterschiede einzugehen?
Birgül Karaarslan: Das ist Ländersache. In NRW ist das ein konfessionell übergreifender Unterricht. Der ist so angelegt, obwohl man realistischerweise sagen muss, dass es sehr wenige schiitische Schülerinnen und Schüler gibt, aber trotzdem ist dieser Aspekt im Lehrplan. Und ich weiß, dass in Baden-Württemberg die Stiftung, die sich um den Lehrplan kümmert, komplett sunnitisch angelegt ist. In Niedersachsen ist das auch noch mal konfessionell übergreifend. Wenn man von der Unterrichtspraxis berichten würde, wird der vorhandene Lehrplan ganz gut abgedeckt.
Wir haben im Unterricht zum Beispiel auch viele Schülerinnen und Schüler, die überhaupt gar nicht an irgendeine muslimische Gemeinde gebunden sind. Aber die Eltern möchten trotzdem, dass sie in den Islamischen Religionsunterricht gehen. Da ist kein Vorwissen zu erwarten. Auf der anderen Seite haben wir dann aktive Moscheegänger, die zur Qur’anschule gehen oder die unterschiedliche Moscheegemeinden besuchen. Also die viel Vorwissen mitbringen. Das ist für die Lehrkräfte eine Herausforderung, das Ganze auf einen Nenner zu bringen. Der Lehrplan unterstützt das Ganze. Natürlich gibt es immer wieder Diskussionen. Durch den anderen Umgang miteinander in der Schule entstand eine größere Akzeptanz unter Schülerinnen und Schülern. Hier sitzen unterschiedliche Muslime mit unterschiedlichen Herkünften. Und das ist etwas anders als in der Moscheegemeinde.
Islamische Zeitung: Sie müssen Kinder aus verschiedenen Hintergründen unterrichten. Entstand dadurch für den Religionsunterricht auch eine eigenständige deutsche Begrifflichkeit, die es vorher nicht gab?
Birgül Karaarslan: Das macht Vielfalt aus. Da kommen türkische, albanische, bosnische und deutsche Kinder, die ganz unterschiedliche Begrifflichkeiten von zu Hause und der Moschee mitbringen.
Und das ist tatsächlich die Aufgabe der islamischen Zentren für Theologien, da den Lehrkräften was an die Hand zu geben. Da wird schon viel produziert und es gibt mittlerweile gute Didaktik. Es gibt auch Lexika, die sich an Begrifflichkeiten herantrauen. Trotzdem bin ich eine Freundin des Arabischen als Ausgangspunkt und das man es integriert; und natürlich auch die deutsche Sprache. Mit den Kindern würde so eine Einheitssprache entwickelt. Das ist auch Sprachunterricht, was wir da machen. Sie verbindet uns dann alle. Und das ist eigentlich ein großer Vorteil, aber auch eine Herausforderung. Daran arbeiten alle Lehrkräfte.
Und es gibt sowieso das Problem der Lehrmaterialien. Es liegt noch kein einziges zugelassenes Schulbuch vor. Und jede Lehrkraft versucht in unserem Netzwerk, so viel Material wie möglich auszutauschen. Es gibt zum Beispiel eine erste Plattform für junge Lehrkräfte. Die entwickelt sich immer weiter. Hier tauschen sie untereinander Materialien aus. Und jetzt gibt es in NRW die Fachstelle Islamische Religionspädagogik, die genau dieses Problem angeht und mit erfahrenen Islamischen Religionsgemeinschaften Materialien entwickelt. Aber eigentlich ist das eine Aufgabe der Zentren für Islamische Theologie.
Islamische Zeitung: Neben dem IRU gibt es auch Unterricht in vielen der über 2.600 Moscheegemeinschaften. Gibt es Kooperationen oder Synergieeffekte mit diesen?
Birgül Karaarslan: Also das ist tatsächlich jetzt nicht von einem Gremium oder von der Kommission hier in NRW, die für den ganzen Religionsunterricht zuständig ist, in irgendeiner Form geregelt. Jede Lehrkraft muss das mit ihrem Gewissen vereinbaren, inwiefern sie mit der Moscheegemeinde in der Nachbarschaft oder der Nähe der Schule kooperiert. Es ist von großem Vorteil, weil Schüler dann sehen: Mein Islamlehrer und der Imam unserer Moschee arbeiten zusammen. Sie können Projekte machen und kooperieren. Wir als Verband unterstützen das sehr.
Seit ungefähr anderthalb Jahren bieten wir Infoveranstaltungen zum Thema Islamischer Religionsunterricht an. Und manchmal gehen wir auch in eine Moscheegemeinde, wo man sehr dankbar für solche Angebote ist. Da werden Unterschriften gesammelt für einen Antrag auf Unterrichtserteilung. Wir haben zum Beispiel am Tag der Offenen Moschee mit einer Moscheegemeinde in Nordrhein-Westfalen zusammengearbeitet. Da durften wir als Verband unsere Anliegen an die Teilnehmer herantragen. Es ist eigentlich auch im Lehrplan verankert, dass man Gotteshäuser besuchen soll und dass die einen festen Bestandteil haben sollten. Von daher ist das auch vorgesehen, dass man gute Beziehungen pflegt.
Islamische Zeitung: Liebe Birgül Karaarslan, wir bedanken uns für das Gespräch.