Themenausgabe über soziale Medien und ihre Folgen: Die KI stellt eine Herausforderung für die islamische Bildung dar.
(iz). Im 20. Jahrhundert war es der Einfluss von Ideologien, die die Präsenz der Muslime in der Welt veränderte. In dieser Epoche fordern technologische Innovationen das Selbstverständnis der islamischen Lehre grundsätzlich heraus.
Die Aufgabe der Politik und der Religionen wird es sein, möglichst zeitnah überzeugende Positionen im Angesicht einer technischen Revolution zu entwickeln.
Orientierungen im Dickicht der Herausforderung
Der Historiker Yuval Noah Harari bietet mit seinem neuen Bestseller „Nexus“ eine Orientierungshilfe an. In einer kurzen Geschichte der Informationsnetzwerke zeigt er die fundamentale Bedeutung von Narrativen auf, die in Büchern verfasst wurden und heute durch das Internet im Umlauf sind und aktualisiert werden.
Die künstliche Intelligenz ist die erste Technologie, die in der Lage ist, unser Geschichtsverständnis zu ändern, selbständig Entscheidungen zu treffen und autonom Ideen zu entwickeln. Welche dramatischen Konstellationen sich in diesem Zeitalter am Horizont zeigen, ist das Thema seines Buches.
Hararis Ausgangspunkt ist zunächst die Bestimmung des naiven Informationsverständnisses, das im Sammeln von Informationen einen direkten Weg zur Wahrheit, Weisheit und Macht sieht. Hierher gehörte das alte Versprechen des Internets, uns einen Zugang zu unbegrenztem Wissen zu gewähren.
Ein populistisches Informationsverständnis begreift in dem Potenzial, Fakten zu verbreiten in erster Linie eine Umsetzung von Machtoptionen. Der Informationsfluss der Spätmoderne ermöglichte dabei die Massendemokratie und den Massentotalitarismus.
Foto: Drew Ditty Graham, Unsplash
Begreifen wir Information?
Das komplexe Informationsverständnis versteht den notwendigen Zusammenhang von Wahrheit und Ordnung, die die Macht jeder Weisheit relativiert. Der Historiker erinnert daran, dass „weil ihnen Ordnung wichtiger ist als Wahrheit, die menschlichen Informationsnetzwerke oft viel Macht, aber wenig Weisheit hervorgebracht haben“. Die Information informiert nicht unbedingt über die Dinge. Sie formiert sie.
Es sind vor allem die Algorithmen der sozialen Netzwerke, die unsere politische Landschaft fundamental verändert hat. Ein Beispiel für die destruktive Wirkung der Steuerung von Aufmerksamkeit ist für Harari die Vorkommnisse in Birma im Umgang mit der muslimischen Minderheit der Rohingya.
Negativität ist einflussreich
Eine UN-Untersuchungskommission kam 2018 zu dem Ergebnis, dass Facebook durch die Verbreitung von hasserfüllten Inhalten eine entscheidende Rolle bei der ethnischen Säuberungskampagne gespielt habe.
Mit dem Ziel der Steigerung der Nutzerbindung hat das Netzwerk vor allem negative Meldungen bevorzugt. Die Algorithmen fanden mittels Versuche an Millionen von Nutzern heraus, dass Empörung eben diese Bindung erzeugt. Die politischen Folgen dieser Firmenphilosophie sind und waren fatal.
Sie trägt dazu bei, ein neues Gesellschaftssystem zu schaffen, das die niedersten Instinkte fördert und uns davon abhält, das gesamte Spektrum unseres Potenzials auszuschöpfen. Und – will man hinzufügen – das Prinzip dieser abgründigen Effizienz der Negativität hat schon längst zahlreiche Nachahmer in den konkurrierenden Print- und Onlinemedien gefunden.
Auf der Ebene dieser Gefahr ist es immerhin noch der Mensch selbst, der Programme schreibt und steuert, aber auch beendet. Das Verbot von automatisierten Nutzern, die massenhaft fragwürdige Informationen streuen, ist dabei eine logische und umsetzbare politische Forderung.
Warum ist es nicht möglich, zu verlangen, dass nur reale Personen, mit entsprechender Verantwortlichkeit, ihre Meinungen in den Informationsstrom einfließen lassen?
Die Lösung der Probleme, die aus der Anwendung von künstlicher Intelligenz entstehen, ist deutlich komplexer und besteht darin, dass alle Möglichkeiten der Selbstkorrektur dieser Systeme schwieriger werden. „Ein Informationsnetzwerk, das von anorganischen Computern beherrscht wird,“ schreibt Harari, „wäre auf eine Weise anders, wie wir uns das kaum vorstellen können.
Es sind weniger die autonom handelnden Roboter der Science-Fiction-Literatur, die uns hier Sorge machen sollten, sondern eher die subtile Verdrängung jeder menschlichen Eingriffsmöglichkeiten“.
Die künstliche Intelligenz eröffnet zum Beispiel völlig neue Dimensionen der Überwachung. In der Quantenmechanik verändert der Akt der Beobachtung subatomarer Teilchen deren Verhalten, das Gleiche gilt für den Akt der Observation von Menschen. Je leistungsfähiger die Beobachtungsinstrumente sind, desto größer ist ihre potenzielle Wirkung auf unsere Aktionen in einer – angeblich – freien Gesellschaft.
Gefahren für die Demokratie
Paradoxerweise ist für das Überleben der Demokratie eine gewisse Ineffizienz der Überwachung ein Vor- und kein Nachteil. Um die Freiheit des Einzelnen und die Privatsphäre zu schützen, ist es am besten, wenn weder die Politik noch mein Arbeitgeber alles über mich weiß. Unter den Bedingungen der Möglichkeiten von künstlicher Intelligenz wird diese Realität für BürgerInnen in weite Ferne rücken.
Eine der größten Neuerungen, die sich aus der Anwendung der KI ergibt, ist zweifellos ihre Fähigkeit der Mustererkennung in der Analyse gigantischer Datenmengen. Viele Technologien und Systeme, die gesellschaftlichen Verhältnisse an sich, werden so komplex, dass sie von einem Einzelnen nicht mehr verstanden werden.
Schon heute entscheiden Computerprogramme über die Kreditwürdigkeit von Bankkunden, erfinden neue Finanzprodukte, bestimmen in den USA das Strafmaß von Verbrechern oder ermöglichen die Massenüberwachung des Verhaltens von Passanten mit Videokameras. Die Pointe ist dabei, dass die Anwender dieser Intelligenz selbst nicht mehr erklären können, wie ihr Computer, der die verbindlichen Ergebnisse produziert, zu seinen Resultaten kommt.
Was bedeuten KI und soziale Medien für den Glauben?
Im Feld des Glaubens deuten sich ebenso atemberaubende Visionen an. Es könnten attraktive und mächtige Religionen entstehen, deren Schriften von KI verfasst werden. Die neuen Gläubigen – im Sinne einer vollkommenen Leib-Seele Trennung – genießen so die unbegrenzten Möglichkeiten einer digitalen Welt, ein Reich Gottes, dass potenziell von den Gesetzen der Biologie und sogar der Physik befreit ist. Aber auch die Wirklichkeit der etablierten Religionen wird unter den Bedingungen der Computerwelt nicht stillstehen.
Schon heute wirkt eine Heerschar religiöser, „allwissender“ Influencer, die in den sozialen Netzwerken tausende Fragen der Nutzer beantworten und den Einfluss der Imame in den Moscheegemeinden bereits weit übertreffen. Die selbsternannten ReligionslehrerInnen verkörpern nicht selten ein hypermoralisches Wertesystem und fördern ein populistisches Informationsverständnis.
Werden Muslime künftig die künstliche Intelligenz nutzen, um ihre eigene Religion besser zu verstehen? Wie die Religionsgemeinschaften ihren Bildungsanspruch, herausgefordert von der virtuellen Welt, bewahren, ist eine offene Frage. Ein Ziel wird sein, in dieser Hinsicht ist der allgemeine Ansatz Hararis fragwürdig, philosophische Erkenntnis und religiöse Offenbarung nicht zu einer bloßen Information zu degradieren.
Im Kontext der Praxis ist die Publikation des Sozialpsychologen Jonathan Haidt „Generation Angst“ eine Pflichtlektüre für Eltern, Erzieher und Religionslehrer. Die Verlagerung der Energie und Aufmerksamkeit junger Menschen von der physischen Welt in die virtuelle hat aus seiner Sicht katastrophale Folgen. Die zwischen 1997 und 2012 geborene Generation Z kennt eine Wirklichkeit ohne Internet und Smartphones nicht.
Foto: marino, Adobe Stock
Eine Generation im Netz
„Der hohe Anteil der Kinder und Jugendlichen, die soziale Medien, digitale Spiele und Streaming-Dienste in einem die Gesundheit gefährdenden Ausmaß nutzen, ist besorgniserregend. In jeder vierten Familie äußern Eltern Unsicherheiten und Unterstützungsbedarf bei der Anleitung ihrer Kinder“, erklärt Prof. Dr. Rainer Thomasius vom Universitätsklinikum Hamburg.
Eine aktuelle Studie der DAK zeigt, dass inzwischen mehr als sechs Prozent der Minderjährigen abhängig von Computerspielen und sozialen Medien sind. Als mediensüchtig gilt nach Kriterien der Weltgesundheitsorganisation (WHO), wer in einem Zeitraum von einem Jahr die Kontrolle über sein Nutzungsverhalten verloren hat, sich aus anderen Lebensbereichen zurückzieht.
Jonathan Haidt zeigt in seiner Untersuchung die ganze Palette der psychologischen Probleme, von Depressionen bis zu Konzentrationsstörungen, die das Leben junger Menschen erfasst hat. Das Erziehungsmodell der Moderne sieht er in einer grundsätzlichen Krise.
Auf der einen Seite werden Kinder und Jugendliche behütet, mit dem Ziel sie von allen realen Gefahren und Risiken des Alltags zu schützen. Andererseits kümmern wir uns zu wenig um die Abgründe der virtuellen Welt, auf die sie mit Hilfe ihrer Smartphones treffen.
Diese „paranoide Erziehung“ ist eine Folge des Zusammenbruches der Solidarität unter Erwachsenen. Die Bildung unserer Kinder wird zunehmend eine Privatsache oder zur Staatsaufgabe. „Wenn aber Erwachsene sich heraushalten und einander nicht mehr bei der Kindeserziehung unterstützen“, schreibt Haidt „sind alle Eltern auf sich allein gestellt“.
Das Erziehungsproblem ist für den Wissenschaftler eine solidarische Aufgabe mit dem Ziel, den Einfluss der virtuellen Welt, insbesondere auf junge Menschen, zurückzudrängen. Die langfristigen Gefahren der Transformation von Jugendlichen zu Nutzern und Konsumenten sind offensichtlich: „Social-Media Plattformen sind die effizientesten Konformitätsmaschinen, die jemals erfunden wurden“ urteilt der Autor.
Neben konkreten Forderungen zum Schutz der Nutzer gegenüber den Netzwerkangeboten sieht er in der Einübung von Spiritualität ein echtes Gegengewicht. Entsprechende Lehren fördern eine Gegenwelt zu dem Erfahrungsraum sozialer Medien.
Im Mittelpunkt dieser existentiellen Erfahrungen stehen weder die Angst oder ein permanenter Informationsfluss, sondern das Vertrauen. Die Dimension der Ehrfurcht bewirkt neurophysiologische Veränderungen, einen geringeren Fokus auf das Selbst und ein gesteigertes Empfinden von Sinnhaftigkeit.
Die Frage ist klar: Vermitteln die realen, muslimischen Gemeinschaften weiterhin derartige Erfahrungshorizonte? Die Lage ist ernst. Arno Kleinebeckel beschreibt sie auf Telepolis: „In den internetbasierten Parallelwelten wandelt sich die Conditio humana unserer Jugend auf beängstigende Weise. Die schillernde Utopie einer gigantischen Leere, das ist ihr neues Zuhause. Ein verpixeltes, de-realisiertes Zuhause, eines, das den Anschein von Sein erzeugt, aber in Wahrheit unsere Kinder zu Phantomen macht.“