, ,

Land in der Krise – ein Jahresrückblick 2024

Ausgabe 354

Jahresrückblick
Foto: Deutscher Bundestag | Tobias Koch

2024 brachte für die Bundesrepublik und ihre Muslime kaum Fortschritte und neue Herausforderungen. Ein Jahresrückblick.

(iz). Deutschland befand sich 2024 in einer Mischung aus inneren und äußeren Krisen (gerne als „Polykrise“ bezeichnet). Das Bündel offener und schwer lösbarer Fragen reicht vom Rechtsruck, der Zunahme autoritärer Einstellungen, der Implosion der Ampel über die schwierige wirtschaftliche Lage bis hin zum vielfach kritisierten Umgang unserer Politik mit den Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten.

Jahresrückblick 2024: Land in der Krise

Das löst in weiten Teilen der Bevölkerung Sorgen und Ängste aus. Eine aktuelle Studie hat im Oktober gezeigt, wovor sich die Deutschen im Jahr 2024 fürchten. Ohnmachtsgefühle angesichts der zahlreichen Krisen führten dazu, dass sich die Menschen stärker auf ihre persönlichen Belange konzentrierten, erklärte die Politikwissenschaftlerin Isabelle Borucki.

Von dieser Krisenlage und resultierenden Besorgnissen sind die rund fünf Mio. Muslime Deutschlands nicht ausgenommen. Zusätzlich zu allgemeinen Krisensymptomen betreffen uns einige Phänomene gezielt. Muslime gehören zu den Objekten von Vorurteilen und Rassismen, die sich vom rechten Rand bis hin ins linksliberale Lager finden. Erschüttert mussten muslimische bzw. arabischstämmige Bürger bereits zum Jahresende 2023 erkennen, mit welcher Ahnungs- und Gefühllosigkeit selbst Vertreter der Ampelkoalition auf ihre Betroffenheit bezüglich des Gazakrieges reagierten.

asyl

Foto: Marco Urban, Deutscher Bundestag

Anzeige:

Bundespolitik vernachlässigte Muslime

Ein Beispiel für den derzeitigen Umgang der Bundespolitik mit organisierten Muslimen zeigte sich an der CDU/CSU-Programmdebatte. Moniert wurde konkrete die geplante Formulierung „Muslime, die unsere Werte teilen, gehören zu Deutschland“. Nach Kritik von außen heißt es nun: „Ein Islam, der unsere Werte nicht teilt und unsere freiheitliche Gesellschaft ablehnt, gehört nicht zu Deutschland.“

Wobei dieser Satz nicht definiert, wer dieser „Islam“ als handelndes Subjekt sein soll. Für den früheren ZMD-Vorsitzenden Mazyek stellte diese Programmdebatte der Union „eine selektive Vorgehensweise“ dar, die antimuslimische Ressentiments bediene.

Im Februar sprachen muslimische Aktivisten und Verbände von einem „Generalverdacht“ – und beklagten Angriffe auf Muslime und ihre Einrichtungen. Yasemin El-Menour von der Bertelsmann Stiftung sah in der Bundesrepublik eine Situation wie nach dem 11. September 2001. „Auch damals wurde Druck aufgebaut und von den Musliminnen und Muslimen in Deutschland gefordert, sich zu positionieren.“

„Von uns wird nicht nur erwartet, dass wir uns nach jedem Terrorakt distanzieren, sondern auch von Regierungen, Personen, Positionen, die als muslimisch motiviert gelesen werden“, beklagte IGMG-Generalsekretär Ali Mete. „Muslimen wird unterstellt, sie stünden solchen Taten nahe oder würden sie insgeheim begrüßen.“ Das unterfüttere Vorurteile.

Eines der konkreten „Opfer“ der gewandelten Verhältnisse war das zeitweise Verschwinden des UEM-Berichts „Muslimfeindlichkeit – Eine deutsche Bilanz 2023“ von der Webseite des Bundesinnenministeriums (BMI). „Auf 400 Seiten hatten Saba-Nur Cheema und zahlreiche weitere Wissenschaftler in mehr als einem Dutzend Studien und Expertisen das Bild eines Deutschlands gezeichnet, in dem Muslime in nahezu allen Lebensbereichen diskriminiert werden. Zugleich bot der Bericht mit zahlreichen Handlungsempfehlungen eine Art Blaupause für die Gleichberechtigung der Muslime in Deutschland“, beschrieb Fabian Goldmann in unserer April-Ausgabe den umstrittenen Vorgang. Befeuert wurde die Debatte um den wichtigen UEM-Bericht im Vorfeld auch vom Unionspolitiker de Vries.

Die Religionspolitik war stellenweise konstruktiver

Konstruktiver als die abstrakten „Islamdebatten“ zeigte sich die Religionspolitik gegenüber muslimischen Gemeinschaften in Deutschland. So betonte die inzwischen aus dem Amt geschiedene rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Dreyer, bis 2024 Staatsverträge abschließen zu wollen. „Ich bin zuversichtlich, dass wir am Ende auch das Ziel eines Vertrags mit vier islamischen Verbänden erreichen werden“, betone sie bei einem öffentlichen Fastenbrechen im März.

Das Düsseldorfer Schulministerium und das Zentrum für Islamische Theologie in Münster haben sich im Mai heftige Kritik von muslimischen Lehrkräften und Eltern zugezogen. Sie kritisierten zwei aus ihrer Sicht fehlerhafte Studien zur Ausbildung von Theologen und Religionslehrern sowie zum Religionsunterricht im bevölkerungsreichsten Bundesland. Aus diesem Grund riet der Verband muslimischer Lehrkräfte den Eltern von einer Teilnahme an der Befragung ab.

Im Sommer setzte die Hamburger Bürgerschaft die Zusammenarbeit mit den Dachverbänden in der Hansestadt fort. Eine Mehrheit – jenseits der dort muslim-kritisch agierenden Union – stimmte für die Verlängerung. Vorausgegangen war eine zweijährige Prüfung. In einer Pressemitteilung nach der Abstimmung erklärte die SCHURA Hamburg, dass damit „eine neue Ära des Austauschs und der Zusammenarbeit“ begonnen habe.

Dass CDU-Chef Friedrich Merz nicht nur poltern kann, bewies er im September bei einem Besuch des Osnabrücker Islamkollegs Deutschland. Die dortige Ausbildung von Imamen hält er für sinnvoll. „Der Weg ist richtig, dafür zu sorgen, dass die 5,5 Millionen in Deutschland lebenden Muslime eine Chance haben, auch in ihren Moscheen in deutscher Sprache von Imamen begleitet zu werden, die in Deutschland ausgebildet worden sind“, sagte er nach einer Besichtigung. Ende 2023 hatten BMI und die türkische Diyanet vereinbart, die Entsendung von Imamen aus der Türkei langfristig auslaufen zu lassen. Zusätzliche Verbände betonten, künftig auf eine Ausbildung vor Ort setzen zu wollen.

Wie schon seit geraumer Zeit erwartet wurde, hat das BMI im Juli das IZH sowie angeschlossene Organisationen verboten. Die von dem Verein bisher kontrollierte „Blaue Moschee“ wurde geschlossen und beschlagnahmt. Sie steht damit unter der Verwaltung des Bundes. Das Verbot könnte beim Bundesverwaltungsgericht in Leipzig dagegen klagen.

Auf politischen Druck hin trat das IZH Monate zuvor aus der Schura Hamburg aus. Die größeren Moscheeverbände reagierten verhalten. „Es gehört zur Aufgabe eines demokratischen Staates, sich wehrhaft gegen jede Form des Extremismus zu erweisen“, zeigte der ZMD Verständnis für die staatliche Maßnahme. Zugleich betonte er, dem IZH stünden alle rechtsstaatlichen Mittel zu Verfügung, um dagegen vorzugehen.

Foto: OsamaK, via Wikimedia Commons | Lizenz: CC BY-SA 3.0

Ableger von Hizb ut-Tahrir sorgen für schlechte Laune

Deutschlands Muslime mussten auch 2024 die Erfahrung machen, dass das Agieren ideologischer Extremisten wie die Hizb ut-Tahrir oder terroristischer Einzeltäter in Mannheim oder Solingen bestehende Debatten beschleunigen und radikalisieren.

Im April und im Mai konnte „Muslim Interaktiv“, eines der Nachfolgernetzwerke, unter polizeilichen Auflagen mit dem Slogan „Kalifat ist die Lösung“ in der Hansestadt auf die Straße gehen. Derzeit gilt die Stadt neben Berlin oder dem Ruhrgebiet als eines der Epizentren in Deutschland.

Am 2. Mai hatten organisierte Muslime in Hamburg genug. Sie widersprachen den Ideologen. „Wir beobachten die Parolen, das Auftreten und die verunsichernden Auswirkungen dieser Demonstration mit Sorge. Wir lehnen jegliche antidemokratischen Vorstellungen ab und warnen vor der Gefahr, dass ein solches Vorgehen in einer systematischen Ablehnung demokratischer Prozesse endet. Hier zeigt sich, wie Religion für eine politische Ideologie mit einer emotionalisierten Rhetorik instrumentalisiert wird“, hieß es in einer Stellungnahme der Schura Hamburg.

Durch die Inszenierung als „Verteidiger des Islams“ werde „ein einfaches Freund-Feind Schema“ bedient, welches Spaltung und Entfremdung befördere. Dieses gefährliche Vorgehen stehe unserem Ansatz eines pluralistischen Miteinanders diametral gegenüber.

Marginale Gruppen wie diese bewegen sich nicht innerhalb, sondern außerhalb der Gemeinschaften und sind angewiesen auf die sozialen Medien und öffentliche Auftritte.

Einig ist man sich darin, dass Strukturen wie „Muslim Interaktiv“ ätzender werden. „Seit mehr als einem Jahr ist eine aggressive Grundhaltung zu sehen. Sei es bei der Flyer-Verteilung oder bei den Kundgebungen ist die Ansprache lauter, aggressiver und die Gebärden bedrohlicher. Vor den Moscheen werden die Menschen bedrängt und bei Wortgefechten werden auch mal die Regel der Adab fallen gelassen.“

Ein konkretes Ziel sind überall jene Aktiven, die Verantwortung in muslimischen Gemeinschaften und Vereinen übernehmen. „Es ist vorgekommen, dass Vertreter, Funktionäre von Gemeinden angesprochen, angegangen, bedrängt, beschuldigt und diffamiert werden.“

solingen messer

Foto: imago | Christoph Hardt

Die Frage nach der Messergewalt

Ein Sonderthema stellte 2024 die „Messerkriminalität“ dar. Sie wurde häufig in Verbindung mit Migranten und Muslimen gebracht. Hier fehlte es oft an einem differenzierten Umgang – sowohl bei denen, die Messergewalt rassistisch interpretieren, als auch bei jenen, die es verniedlichen. In der Kategorie „gefährliche und schwere Körperverletzungen“ stiegen sie um 9,7 % auf 8.951 Taten. Unter „Raubdelikten“ nahmen sie sogar um 16,6 % auf 4.893 Delikte zu.

Die Kriminalstatistik scheint einen Zusammenhang zwischen Delinquenz und Migration zu bestätigen. Tatverdächtige ohne deutsche Staatsbürgerschaft sind mit 34,4 % in der Statistik deutlich überrepräsentiert. Ihr Anteil an der Bevölkerung liegt nur bei 15 %.

Studien zeigen: Ein wichtiger Grund dafür, dass Ausländer häufig in der Kriminalitätsstatistik auftauchen, ist nicht ihre Religion, Kultur oder Herkunft. Ausschlaggebend ist, dass sich die Kohorte anhand ihrer Demographie erkennbar vom hiesigen Durchschnitt unterscheidet.

So finden sich in der Gruppe vergleichsweise viele junge Männer – ein Charakteristikum, das deutschdeutsche Straftäter gleichfalls auszeichnet. „Bei Gewalttaten, die mit Messern begangen wurden, ist die mediale Verzerrung sogar noch größer. Bei ausländischen Tätern wird hier fast ausnahmslos die Herkunft genannt. Die Nationalität von deutschen Messertätern bleibt medial hingegen fast immer unerwähnt. Und das obwohl die meisten Täter nach wie vor Deutsche sind“, schrieb Fabian Goldmann bei uns zum Thema.

Muslimfeindlichkeit

Die CLAIM Allianz stellte am 24. Juni 2024 ihr Lagebild „antimuslimischer Rassismus“ in Berlin vor. (Foto: imago | Jürgen Heinrich)

Das Phänomen Muslimfeindlichkeit blieb auch 2024 einflussreich

Die Verschiebung politischer Diskurse und die innere Krisenhaftigkeit zeigte sich hinsichtlich von Muslimen am geringeren Interesse an Muslimfeindlichkeit. Dieses kündigte sich schon Ende 2023 an, als muslimische Vertreter ins BMI zitiert wurden und die Politik mit Generalvorwürfen und Distanzierungsforderungen operierte.

2024 haben die Mitte-Parteien von Union bis zu den Grünen hierbei auf eine abgeschwächte Kopie populistischer Stimmen gesetzt in der Hoffnung, ihnen das Wasser abzugraben. Dabei gehörten Muslime in diesem Jahr zu den Objekten von Hass und Ausgrenzung.

Im Juni veröffentlichte die CLAIM Allianz ihr Lagebild zur Islamfeindlichkeit in Deutschland. Verbale und körperliche Angriffe, Diskriminierung oder Sachbeschädigung: Durchschnittlich hätten sich ihr zufolge täglich mehr als fünf Vorfälle dieser Art ereignet. Antimuslimische Äußerungen im Internet fließen in die Lage nicht ein. Das Projekt wird bisher vom Bundesfamilienministerium finanziert.

Unterfüttert wurden diese Einschätzungen vom Politikwissenschaftler Kai Hafez. Muslimfeindlichkeit werde aus seiner Sicht zu wenig bekämpft. Die vier bis fünf Millionen Musliminnen und Muslime, die hierzulande lebten, würden „vom Innenministerium im Regen stehen gelassen“. Er warf Bundesinnenministerin Faeser vor, ihre Fürsorgepflicht für die hier lebenden Muslime zu vernachlässigen.

Hafez war Teil des aufgelösten Unabhängigen Experenrates Muslimfeindlichkeit. Er warnt vor den möglichen Folgen einer sich ausbreitenden Muslimfeindlichkeit. „Aus der Forschung wissen wir, dass Radikalisierung im Bereich des Islamismus viel mit Diskriminierungserfahrung zu tun hat.“

Die Zahl der Menschen, die bei islamfeindlichen Straftaten verletzt wurden, stieg an. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage der Abgeordneten Petra Pau (Die Linke) im November hervor. Demnach zählten die Polizeibehörden in den ersten drei Quartalen dieses Jahres bundesweit 42 Verletzte durch Verbrechen, bei denen ein muslimfeindliches Motiv angenommen wird, darunter waren bisher vier Schwerverletzte.

Die Antwort der Regierung zeichne ein besorgniserregendes Bild, sagte sie. Zwar seien im dritten Vierteljahr dieses Jahres mit 117 Fällen weniger Taten gemeldet worden als im zweiten, als es 139 Straftaten waren. Doch sei eine zunehmende Brutalität der Angriffe zu erkennen.

Der hiesige Umgang mit Musliminnen und Muslimen beschäftigt längst auch internationale Menschenrechtsorganisationen und -institutionen. Anfang Mai veröffentlichte Human Rights Watch (HRW) eine diesbezügliche Stellungnahme. Sie war der Bundesregierung „Versagen“ im Umgang vor. „Die deutsche Regierung versagt beim Schutz von Muslimen und Menschen, die als Muslime wahrgenommen werden, vor Rassismus angesichts zunehmender Vorfälle von Hass und Diskriminierung“, hieß es.

Grund dafür ist die mangelnde Dokumentation der Fälle und fehlende institutionelle Hilfe für die Opfer. „Ohne ein klares Verständnis von antimuslimischem Hass und Diskriminierung in Deutschland und ohne aussagekräftige Daten über Vorfälle und die Arbeit in den Gemeinden wird eine Reaktion der deutschen Behörden wirkungslos bleiben.“

muslimischen partei

Foto: annastills, Freepik.com

Wohin ging die muslimische Stimme?

2024 änderte sich etwas in der politischen Verfassung der muslimischen Wahlberechtigten. Das erste Mal wurden in einer Nachwahlbefragung zur EU-Wahl nach ihrer Entscheidung gefragt. Entgegen vergangener Jahre, in denen die Parteien der bisherigen Regierungspolitik auf sie zählen konnten, deuten die Ergebnisse eine Verschiebung an.

Demnach kamen die neuen Formationen BSW und DAVA aus dem Stand auf jeweils 17 % der Stimmen. Gefolgt wurden sie mit 13 % für die Union. Die Ampelparteien sowie Linke lagen auf den Plätzen 3-5. FDP und AfD konnten beim muslimischen Votum kaum Zustimmung verzeichnen.

Eine Debatte, die in den USA geführt wird, die hier aussteht: Gibt es in politischer Hinsicht ein handelndes Subjekt? Entgegen einer undifferenzierten Berichterstattung haben „die Muslime“ in den USA nicht innerhalb eines identitären Blocks abgestimmt.

Die Vorstellung, Menschen wählten hauptsächlich wegen ihrer Identität oder Herkunft, übersieht den Faktor ihrer konkreten Interessen. Auch in der deutschen Community findet seit Längerem eine Ausdifferenzierung und Bildung verschiedener Milieus statt. Ob sich Muslime bei künftigen Abstimmungen wie der vorgezogenen Bundestagswahl analog zur EU-Wahl entscheiden werden, ist unklar.

Die Schwierigkeit, hier mehr als nur zu spekulieren, liegt in erheblichem Maße an einem Mangel an Zahlen (verglichen bspw. mit den USA), die der aktuelle Mikrozensus offenbart hat. Die Kategorie der Religionszugehörigkeit wird bisher bei politischen Bekenntnissen kaum oder nicht abgefragt. Muslime sind in statistischer Hinsicht noch eine Leerstelle.

In Sachen „organisierter Islam“ wäre vorrangig der Anfang März angekündigte (und später vollzogene) Rückzug Aiman Mazyeks von der ZMD-Führung zu nennen. Das Gremium, das nach eigenen Angaben ca. 300 Moscheegemeinschaften repräsentiert, wird jetzt von Abdassamad El Yazidi geführt. Mit Mazyek nahm der bisher präsenteste muslimische Kopf seinen Hut. Es sieht nicht so aus, als würde das System des alle sechs Monate rotierenden KRM-Sprechers hier etwas ändern.