Wer ist verantwortlich für das Chaos beim deutschen Abzug aus der afghanischen Hauptstadt Kabul 2021? Der damalige Außenminister Maas verweist auch auf fehlerhafte Einschätzungen des BND.
Berlin (dpa/IZ). Ex-Außenminister Heiko Maas hat seine Rolle beim chaotischen Abzug Deutschlands aus Afghanistan im Sommer 2021 im Wesentlichen verteidigt. Seine damaligen Entscheidungen habe er „mit bestem Wissen und Gewissen getroffen“, sagte der SPD-Politiker in seiner Vernehmung vor dem Afghanistan-Untersuchungsausschuss des Bundestags in Berlin. Im Nachhinein seien viele Einschätzungen falsch gewesen. Bei der Bewertung müsse die damalige Informationslage berücksichtigt werden.
Im Rückblick hätte die Bundesregierung eine Abzugsentscheidung und viele andere Entscheidungen in diesem Zusammenhang früher treffen müssen, räumte Maas ein. Informationen, die man heute habe, „standen uns aber nicht zur Verfügung“.
Maas bezog sich auf eine Einschätzung des Bundesnachrichtendiensts, nachdem die afghanische Regierung vor dem 11. September 2021 nicht zusammenbrechen werde. Diese Einschätzung vom 13. August 2021 habe sich als falsch herausgestellt, sagte er. Die Taliban hatten die Hauptstadt Kabul tatsächlich schon am 14./15. August 2021 nach einer Blitzoffensive praktisch ohne Gegenwehr eingenommen. Deutschland beteiligte sich an einem internationalen militärischen Evakuierungseinsatz. Es kam zu chaotischen Zuständen und gefährlichen Situationen rund um den Flughafen.
Maas: BND-Einschätzung „leider von Realität überholt worden“
Der BND sei nicht der einzige Nachrichtendienst gewesen, der fehlerhaft prognostiziert habe, sagte Maas. Die Einschätzung des deutschen Auslandsgeheimdienstes sei zudem nicht die einzige Quelle der Bundesregierung gewesen, „aber mit Sicherheit eine nicht unerhebliche“. Die BND-Einschätzung, dass mit einem kurzzeitigen Fall Kabuls nicht zu rechnen sei, „ist leider von der Realität überholt worden“, bemerkte Maas trocken.
Der Ex-Minister führte das damalige Chaos im Wesentlichen auf die einseitige Abzugsentscheidung der Regierung des damaligen US-Präsidenten Donald Trump zurück. Die damalige US-Regierung habe den mit den Taliban in Doha in Katar ausgehandelten Termin für einen US-Abzug zum 11. September 2021 nicht mit der afghanischen Regierung rückgekoppelt und dieser quasi „den Stuhl vor die Tür“ gestellt. Die Taliban seien nach dem Abkommen „deutlich selbstbewusster gewesen“. Noch bei einem Besuch in Kabul Ende April 2021 habe er aber „nicht den Eindruck eines zusammenbrechenden Regimes“ gehabt.
Das Doha-Abkommen, das die USA und die Taliban am 29. August 2020 gemeinsam unterzeichneten, regelte den Rückzug aller Truppen der USA und ihrer Verbündeten aus Afghanistan. Im Gegensatz sollten die Taliban zusagen, dass Afghanistan künftig kein Rückzugsort für terroristische Gruppen werde.
Ex-Kanzlerin Merkel kommende Woche im Untersuchungsausschuss
Maas ist einer der bisher wichtigsten Zeugen im Ausschuss. Die Abgeordneten sollen die Umstände der deutschen Evakuierung im August 2021 und die Entscheidungswege mit Blick auf die Aufnahme afghanischer Ortskräfte untersuchen. Kommende Woche will das Gremium mit der damaligen Kanzlerin Angela Merkel und ihrem Kanzleramtschef Helge Braun (beide CDU) die Befragungen abschließen.
„Rücktritt wäre keine Hilfe für die Bewältigung der Probleme gewesen“
Maas erläuterte Überlegungen, im Zusammenhang mit dem Abzugschaos seinen Rücktritt anzubieten. Dies habe auch mit dem damaligen Wahlkampf für die Bundestagswahl im Herbst 2021 zu tun gehabt. Im Gespräch mit dem damaligen Vizekanzler und Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) sei er aber zu dem Ergebnis gekommen, dass ein Rücktritt wenige Wochen vor der Wahl die Probleme nicht gelöst, sondern nur noch neue verursacht hätte. Ein Rücktritt wäre „keine Hilfe für die Bewältigung der Probleme dort für Ort gewesen wäre – vielleicht für einige hier in Berlin“, sagte Maas.
Ex-Entwicklungsminister Müller: Positives Fazit zu Afghanistan
Der frühere Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) zog ein insgesamt positives Fazit der Entwicklungsarbeit in Afghanistan. Trotz der „dramatischen Umstände des Abzugs“ habe es keinen Toten unter den afghanischen Ortskräften der deutschen Entwicklungszusammenarbeit gegeben. „Wir sind der Verantwortung gerecht geworden. Und wir haben keine einzige Ortskraft in eine Situation gebracht, die sie mit dem Leben oder der Gesundheit bezahlt hätte.“ Es sitze niemand im Gefängnis, und es habe auch „keine ernsthaften Bedrohungen“ der Ortskräfte in seinem Entscheidungsbereich gegeben. Die Bundesregierung sei damals ihrer Fürsorgepflicht für die afghanischen Ortskräfte Deutschlands nachgekommen, bilanzierte Müller.
Müller arbeitet heute als Generaldirektor der UN-Organisation für industrielle Entwicklung (UNIDO) in Wien.