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Marokkos WM-Triumph – auch eine historische Genugtuung

Foto: Антон Зайцев, via Wikimedia Commons | Lizenz: CC BY-SA 3.0

Natürlich – es geht erst mal um Fußball. Aber die Koinzidenzen sind schon auch verblüffend: Eines nach dem anderen räumt Marokko jene Länder Europas ab, mit denen es in der jüngeren Geschichte am meisten verbindet.

Brüssel (KNA). Sie feiern. Sie hupen. Die Polizei leitet weiträumig den Verkehr um. In Brüssel, Paris und Mailand sowie in den Niederlanden kam es gar zu gewalttätigen Ausschreitungen. In vielen Städten Europas sind marokkanische Auto-Korsi und Fan-Feste dieser Tage schon zum Ritual geworden.

Eines nach dem anderen räumt das marokkanische Team bei der ersten arabischen Fußball-WM in Katar jene übermächtigen Länder Europas ab, mit denen es in der jüngeren Vergangenheit am meisten verbindet. Das ist nicht nur ein arabischer und ein afrikanischer Fußball-Triumph. Es ist – auch – ein marokkanischer Marsch durch seine eigene Geschichte mit dem Westen.

Ein portugiesisches Trauma: Der erst 24-jährige König Sebastiao erleidet im August 1578 mit einem Kreuzritterheer von 18.000 Mann eine verheerende Niederlage gegen eine marokkanische Übermacht unter Sultan Abu Marwan Abd al-Malik und fällt auf dem Schlachtfeld von Alcacer-Quibir. Seine Leiche wird nie gefunden; eine Nachfolgeregelung gibt es nicht. 1580 reißt Spaniens Habsburger-König die Krone der damaligen Weltmacht Portugal an sich – 60 Jahre schmachvoller Zwangsherrschaft durch den Erbfeind beginnen.

Für Portugal war dies das Ende einer großen Ära – viel größer als die Ära Ronaldo, die am Samstagabend zu Ende ging. Der traditionelle Volksglaube verheißt, der junge König werde bald wiederkehren und das Land in eine neue Zukunft führen. Immer wieder tauchten falsche Sebastiane auf, um die Macht zurückzuerobern. Doch der echte kam nie zurück. Marokko-Portugal 1:0.

Spanien und der Islam: eine schwierige Beziehung. Die Conquista der Iberischen Halbinsel durch den Vormarsch muslimischer Araber im 7./8. Jahrhundert und die spanische Reconquista bis zur Einnahme Granadas 1492 sind die Folie für ein spannendes Nachbarschaftsverhältnis, das durch das Aufkommen des spanischen Massentourismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein neues, prägendes Kapitel bekam. Spanische Agenturen warben marokkanische Arbeitskräfte für das Hotel- und Gastronomiegewerbe und andere Unternehmen an; und zwar nicht nur für den eigenen Arbeitsmarkt, sondern auch für andere Länder, etwa Großbritannien.

Pikant ist die Stellung der beiden spanischen Exklaven Melilla und Ceuta, die auf afrikanischem respektive marokkanischem Boden liegen und seit 1497 bzw. 1580/1668 zu Spanien und damit inzwischen auch zur EU gehören. Zwischen 1912 und 1956 gab es auf einem schmalen Landstreifen entlang der nordwestlichen Mittelmeerküste das kurzlebige Protektorat Spanisch-Marokko.

Melilla wie Ceuta sind durch Grenzzäune von Marokko getrennt. Mehrfach konnten Hunderte bis Tausende afrikanischer Migranten die Sperranlagen überwinden; zuletzt 2021, als Marokkos König Mohammed VI. offenbar seine Grenzschützer abzog, um politischen Druck auf die EU auszuüben. Zumeist wurden Migranten am Ende zurück nach Marokko abgeschoben. Marokko-Spanien: 3:0 nach Elfmeterschießen.

Belgien, das kleine Einwanderungsland. Mit fast einer halben Million stellen die Marokkaner und ihre Nachkommen die größte nationale Gruppe von Zuwanderern bei unserem westlichen Nachbarn. Knapp 90 Prozent von ihnen haben inzwischen einen belgischen Pass. Marokkanische Läden prägen in manchen Vierteln der Hauptstadt Brüssel das Straßenbild.

Nun also Frankreich im Halbfinale, schon der fünfte und größte Fußball-Brocken im sechsten Spiel; und auch die vielleicht schwerste historische Hypothek, die auf der Partie lastet. Frankreich war im 19. und 20. Jahrhundert die wichtigste Kolonialmacht in Nordafrika. Auch in Marokko im Nordwesten, das zum Zankapfel europäischer Großmachtinteressen wurde. Erst 1956 konnte man die französische Fremdherrschaft abschütteln und erlangte seine staatliche Unabhängigkeit.

Anders als Belgien – da waren es mit Michy Batshuayi, Amadou Onana und Romelu Lukaku nur drei – dürfte die Equipe Tricolore am Mittwoch zahlreiche Stars mit afrikanischen Wurzeln einsetzen. So oder so: Marokkos Nationalteam steht in der katarischen Küstenstadt al-Chaur auch für Afrika und für die Arabische Welt. Vor allem aber spielt es um das WM-Finale.