Mit der Brille der Wissenschaft gesehen: Was bedeutet die „Historisierung“ der ­Offenbarung?

Ausgabe 225

(iz). Eine der modernen Tendenzen der islamischen Theologie ist die starke Historisierung der ­Offenbarung. Insbesondere der Qur’an soll nach dieser Lesart in einem historischen Kontext verstanden werden, da er in erster Linie die Uradressaten anspricht. Das gleiche gilt für die Sunna, auch wenn sie für die Vertreter dieser Tendenz nur eine zweitrangige Stellung im normativen Bereich hat.

Jedoch hat der historische Hintergrund des Offenbarungsprozesses im klassischen Islam sowohl bei den Sunniten als auch bei den Schiiten im Bereich von Tafsir oder Fiqh kaum eine normative Bedeutung. Das heißt, der historische Kontext gilt nicht als eine Einschränkung (Mukhassis) der Texte des Qur’an oder der Sunna, außer wenn der historische Kontext selber in Form eines qur’anischen Textes oder einer prophetischen Überlieferung, welche an sich einschränkend (khas) sein sollte, tradiert ist.

Dies gilt vor allem für die so genannten Anlässe der Herabsendung (Asbab An-Nu­zul). Zwar haben sie dazu beigetragen, bestimmte Verse besser zu verstehen, aber sie besaßen keine normative Rolle, es sei denn sie beinhalten eine prophetische Aussage, welche dann als Sunna und nicht als Sabab An-Nuzul gehandhabt wird.

Wenn plädiert wird, dass der Qur’an als Wort Gottes einen historischen Kontext hat, dann weiß man entweder nicht, welche schweren theologischen Konsequenzen so eine Aussage hat oder man hat nicht begriffen, was den Unterschied zwischen dem Wort Gottes und dem Wort der Menschen ausmacht. Denn während die menschliche Rede in einem historischen Kontext entsteht, so hat die göttliche Rede das göttliche allumfassende Wissen als Fundament (wenn man dies überhaupt so formulieren darf).

Aus dieser Perspektive heraus beansprucht der Qur’an und ja, auch die Sunna, ihre Universalität. Aus diesem Grund auch kann man die Absolutheit und uneingeschränkte Gültigkeit des Qur’an oder der Sunna nicht mit dem Vorwand der Historisierung einschränken. Wenn man Worte wie universal oder absolut verwendet, dann um zu betonen, dass die Gesamtheit des Qur’an sowie die Lehren des letzten Propheten, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, in einer uneingeschränkten Form Gültigkeit genießen.

Was wir mit diesen beiden Quellen tun, ist aber eine völlig andere Sache. Man darf den Qur’an und seine Urbedeutung, welche von den Vertretern der historisch-kritischen Lesart behauptet wird, nicht verwechseln.

Die klassische islamische Theologie war präziser in diesem Zusammenhang und sprach nicht von einem Kontext des Qur’an sondern von einem Kontext der Herabsendung. Der Unterschied zwischen den beiden Konzepten hat aber jeweils unterschiedliche Folgen. Der Moment der Begegnung mit dem Qur’an wiederholt sich jedes Mal, wenn man die Rede Gottes hört oder liest. Diese Begegnung ruft im Leser je nach zeitlichem und räumlichem Kontext verschiedene Stufen des Verständnisses hervor. Über den Qur’an sagte der Gesandte Allahs: „Er veraltet nicht und seine Wunder haben nie ein Ende“ (Tirmidh)

Der Qur’an ist kein Hieroglyphentext, den man archäologisch studiert, oder ­dessen Urbedeutung mittels der historischen Lesart rekonstruiert werden kann. Natürlich darf man den Qur’an als Text der Spätantike, als eine syrisch-aramäische Schrift oder als Textgattung der arabischen Sprache des 6. Jh. betrachten, jedoch im Bereich der Orientalistik oder Literaturwissenschaft nicht in der Theologie des Islams, jener Religion, die in dem Qur’an das Wort Gottes sieht.

Es spielt eigentlich in diesem Kontext keine Rolle, ob man die sunnitische oder mu’tazilitische Position bezüglich des Qur’an vertritt. Denn sowohl die Vertreter der Urewigkeit des Qur’an als auch der Erschaffenheit des Qur’an stimmen darin überein, dass der Qur’an einen Ausdruck des göttlichen Wissens, asch’aritisch ausgedrückt, oder des wissenden Gottes, mu’tazilitisch formuliert, darstellt.

Ein weiterer Irrtum der Verfechter dieser historischen Lesart des Qur’an ist die Verwechslung zwischen dem Text (in diesem Fall des Qur’an und des Hadith) und dem Hukm, dem rechtlichen Urteil, welches einen normativen Charakter hat. Dass der Text absolut ist, heißt nicht unbedingt, dass der Hukm, das heißt, das, was daraus abgeleitet wird, auch immer absolut sein soll. Vielmehr gibt es innerhalb der Disziplin von Usul Al-Fiqh zahlreiche Mechanismen und Methoden, welche die Normen an den aktuellen Kontext anpassen, ohne den Qur’an oder die Sunna in eine starre Kontextualisierung zu drängen.

Ja, man könnte sogar sagen, dass die Verfechter der Kontextualisierung die Quellen (Qur’an und Sunna) wie die Anhänger der wortwörtlichen Lesart der Quellen – wie viele Salafisten es tun – lesen, denn für die beiden ist der Text und die Norm ein und die selbe Sache. Der Text ist ein Urteil. Nur: Der eine lehnt das Urteil, das er in den Text hin­einliest, ab, mit der Begründung, dass dieses oder jenes Urteil nur für einen bestimmten historischen Kontext gültig war, während für den anderen der wortwörtliche Sinn der Quelle die allein authentische Erklärung und somit für immer gültig ist.

Beide Herangehensweisen sind modern und verschiedene Seiten der gleichen Medaille Sie unterscheiden nicht zwischen dem rechtlichen Urteil und dem Wahji. Klassisch gesehen sind die Quellen Materialien beziehungsweise Fundamente für die Normableitung, aber sie beinhalten (abgesehen von manchen Ausnahmen) nicht ursprünglich das Urteil selbst. Die Norm beziehungsweise das Urteil muss noch aus den Quellen erarbeitet werden. Für die Ableitung der Norm aus dem Wahji ist die Wissenschaft des Usul Al-fiqh zuständig und für die folgende Anwendung die Wissenschaft des Fiqh.

Während in der fundierten klassischen islamischen Rechtswissenschaft die Sprache mit all ihren Feinheiten, die Rechtsmethodiken, wie Takhsis, Taqjid, Naskh usw. sowie die anderen Rechtsquellen und Rechtsmittel, wie Qiyas, Idschma’, Istihsan, Istislah, usw. verwendet wurden, um die Normen aus dem Qur’an und der Sunna abzuleiten, bedient man sich in der Moderne einer vermeintlich historischen Kontextualisierung, die nur beschränkt sein kann und subjektiv bleibt und einer selektiven und improvisierten Maqasidlehre, um den Wahji zu verstehen.

Ein Witz der Moderne ist, dass man denkt, man könnte mit den sehr beschränkten Mitteln die wir haben, die historischen Hintergründe objektiv rekonstruieren, um dann das Wort Gottes zu historisieren… Na dann viel Spaß…