
(iz). Die Islamische Föderation Berlin ist einer von fünf Dachverbänden in der Hauptstadt. Mit 17 Mitgliedsgemeinden im Stadtgebiet ist sie der größte. Wir sprachen mit ihrem Vorsitzenden, Murat Gül, über die Lage, wie sie mit dem Senat kommunizieren und was bei der Jugendarbeit in „Problemkiezen“ besser werden muss.
Islamische Zeitung: Berlin gilt oft als stellvertretend für die muslimischen Gemeinschaften und ihre Herausforderungen. Wie viele Muslime und Moscheegemeinden gibt es hier derzeit?
Murat Gül: Es gibt hier derzeit 88 Moscheen und es leben 250-300.000 Muslime in Berlin.
Vielfalt in Berlin
Islamische Zeitung: Das dürfte sich nach 2015 noch verändert haben…?
Murat Gül: Ab 2015 sind viele Menschen, insbesondere aus Syrien, nach Berlin gekommen. Aktuelle und genaue Zahlen liegen mir nicht vor.
Islamische Zeitung: Derzeit gibt es in der Hauptstadt fünf Landesverbände: DITIB, VIKZ, den Zentralrat der Muslime, die IGS sowie die Islamische Föderation. Wie viele Moscheen sind bei Ihnen organisiert?
Murat Gül: Bei uns sind jetzt 17 Moscheen Mitglied. Damit sind wie auch der größte Dachverband. Danach folgt die DITIB mit 13 Gemeinschaften.
Islamische Zeitung: Sind alle von Türkischstämmigen geführt?
Murat Gül: Von ihnen sind 14 von Türkischstämmigen geführt, und drei von Arabischstämmigen.
Noch keine zentrale Vertretung
Islamische Zeitung: In anderen Bundesländern und auch Stadtstaaten wie Hamburg, Bremen oder Niedersachsen gibt es Zusammenschlüsse von Moscheen, die ihrerseits verschiedenen Verbänden angehören, aber aus Gründen der Repräsentanz zusammenarbeiten. Gibt es realistische Ansätze, dass dergleichen in Berlin entsteht?
Murat Gül: Ich denke schon. Wir arbeiten noch daran. Am Anfang der Föderation war es so, dass nicht nur sunnitische Gemeinden dabei waren, sondern auch schiitische. Derzeit ist das Berliner Islamforum der Ort, an dem die Moscheegemeinden mit dem Senat sprechen.
Islamische Zeitung: Lassen wir mal aktuelle Streitthemen außen vor – auch der Alltagsbetrieb und praktische Fragen von Feiertagen oder Begräbnisfelder braucht eine funktionierende Kommunikation zwischen Muslimen und Senat oder den jeweiligen Bezirksverwaltungen…
Murat Gül: Das scheitert bisher ein bisschen. Da macht jede Moschee ihre eigene Kontaktpflege. Wir haben beim Integrationsbeauftragten angefragt und vorgeschlagen, eine Stelle einzurichten, damit die Kontakte zu den Moscheen gehalten werden können. Ansonsten ist es so, dass im Islamforum anstehende Themen bearbeitet werden.
Die Frage der Bestattungen ist gerade sehr aktuell. Wir haben jetzt vom Gatower Friedhof erfahren, dass es ab Ende März oder Anfang April keine Begräbnisplätze mehr für Muslime gibt. Hier fehlt es an Finanzierung und materieller Unterstützung. Hierzu haben wir noch für diesen Monat die Vertreter aller muslimischen Einrichtungen eingeladen, um gemeinsam Lösungswege zu finden; und zwar so schnell wie möglich. Anfang 2022 hatten wir ein Problem damit, dass viele muslimische Verstorbene nicht zeitnah bestattet werden konnten. Es gibt hier verschiedene nichtmuslimische Vereine und Initiativen, die uns ebenfalls unterstützen.
Das haben wir auch beim Thema „konfrontative Religionsausübung“ gesehen, als 54 öffentliche Personen und Wissenschaftler einen Brief unterschrieben haben, um aus ihrer Perspektive dieses Konzept zu kritisieren. Bei Themen wie der Bestattung wollen wir nicht nur kurzfristige Lösungen erzielen, sondern brauchen eine Möglichkeit, solche Fragen langfristig zu klären.
Bei Moscheen ist die Stadt noch geteilt
Islamische Zeitung: Schaut man sich Verteilung von Moscheen und anderen Einrichtungen an, dann konzentrieren sie sich 30 Jahre nach der Einheit immer noch auf bestimmte Bezirke. Von einigen Ausnahmen abgesehen hat man das Gefühl die Stadt ist in dieser Hinsicht noch zweigeteilt…
Murat Gül: Die Gemeindegründung richtet sich nach den Bedarfen aus. Und weil wir vom Staat keine finanzielle Unterstützung bekommen, müssen wir als erstes dort Moscheen einrichten, wo Muslime sind und die Mieten zahlen können. Wenn es in bestimmten Stadtvierteln keinen ausreichenden Bedarf gibt, wird dort keine Moschee entstehen.
Wir sehen jetzt, dass Muslime dorthin umziehen. Das hat überwiegend sozioökonomische Ursachen. Hier in Kreuzberg und Neukölln steigen die Mieten immer weiter und die Leute können sie zunehmend nicht bezahlen. Sollte sich dadurch ein Bedarf entwickeln, würden wir nach eventuellen Objekten suchen.
Heizkosten und Immobilienmarkt
Islamische Zeitung: Unter was für einem Druck stehen die Gemeinschaften nach zwei Jahren Pandemie und explodierenden Energiekosten, um ihren Betrieb aufrechtzuerhalten?
Murat Gül: Es gibt erhöhte Belastungen. Wir fangen an, wo es möglich ist, auf erneuerbare Energiequellen umzustellen. Zwei Moscheen haben begonnen, bei sich Solaranlagen einzurichten. Von ein oder zwei Ausnahmen abgesehen sind die Gebäude unserer Mitglieder in ihrem Besitz. Hier können wir diese Bemühungen fortsetzen. Gleichzeitig setzen wir vermehrt auf Ansätze zur Einsparung von Energie und Ressourcen.
Islamische Zeitung: Der Berliner Gebäude- und Grundstücksmarkt ist eng und umkämpft. Schon 2017 sagte der damalige Vorsitzende der bosnischen Gemeinde, dass diejenigen, die jetzt kein Gebäude oder Grundstück besäßen, zukünftig kaum eines werden erwerben können. Wie sieht die Lage da aus?
Murat Gül: Wie erwähnt sind beinahe alle unsere Moscheen im Eigenbesitz. Wenn es dort zu eng wird, können wir erweitern, soweit Grundstück und Anlage das zulassen. Voraussetzung dafür ist die Nachfrage. Die Moscheen sind groß, aber wie viele besuchen sie jenseits der Freitags- und Feiertagsgebete? Derzeit reichen die verfügbaren Räume aus. Die Moscheen entstammen dem Wunsch und den Bedürfnissen der ersten und zweiten Generation. Ob es diese Sensibilität noch bei den Jugendlichen gibt, wissen wir nicht.
Muslime in den „Problemkiezen“
Islamische Zeitung: Nicht erst seit Anfang dieses Jahres wird negativ über bestimmte Milieus oder Stadtteile wie Neukölln berichtet. Wie schätzen Sie die Lage junger Männer ein, die dieses Mal ins Visier der Kritik geraten sind?
Murat Gül: Zuerst einmal ist es nicht richtig, dass man den Grund für ihr Verhalten aus ihrer Religion herleitet. Zweitens sind wir dabei, dass sich Jugendliche und Polizei näherkommen. Wir versuchen das mit Fortbildungen und Seminaren zu fördern. Wir haben in den letzten Jahren Polizeibeamte eingeladen, damit sie mit der Jugend sprechen können. Dieses Jahr wollen wir weitere Aktivitäten und soziale Projekte anbieten.
Soweit es um Silvester geht, haben wir uns bemüht, unsere Jugendlichen in den Moscheen zu halten. Am Abend haben wir ihnen die Möglichkeit geboten, zusammen zu sein, gemeinsam zu essen und zu trinken. Eine Motivation für solche Programme ist auch, sie von Krawallen fernzuhalten.
Außerdem darf nicht verallgemeinert werden und wir brauchen Aufklärung über die realen Hintergründe. Im Jahr zuvor kam es in Dresden zu massiven Krawallen, bei denen ebenfalls Polizisten angegriffen wurden.
Islamische Zeitung: Um hier noch einmal nachzuhaken – wie sieht denn die konkrete Lebenssituation des betroffenen Milieus aus? Liegt es an Arbeitslosigkeit, steigenden Mieten und/oder mangelnden Aussichten?
Murat Gül: Wenn wir beispielsweise von Geflüchteten ausgehen, dann kommen sie nach Berlin, leben in Heimen und dürfen nicht arbeiten. Irgendeine Aussicht muss ihnen doch gegeben werden. Ein anderes Problem ist Arbeitslosigkeit. Wir müssen diese Jugendlichen gewinnen. Insbesondere jene, die jahrelang arbeitslos sind.
Positive Beiträge von Muslimen
Islamische Zeitung: Seit Jahrzehnten haben sich Muslime in der Hauptstadt etabliert, Gemeinschaften aufgebaut, Unternehmen gegründet und auch Immobilien gekauft. Was sind die positiven Beiträge, die sie hier für die Stadt und ihre Bürger leisten können?
Murat Gül: Die erste Generation ist davon ausgegangen, hier Geld zu verdienen und dann heimzukehren und hat dann erkannt, dass ihre Familien hierbleiben werden. Sie haben sich gesagt: Wenn wir zukünftig in Berlin leben werden, müssen wir auch für die Gesellschaft was Gutes tun. Es gibt Abgeordnete und eine ganze Reihe an Geschäftsleuten, die vieles für die Stadt machen. Viele neue Deutsche arbeiten in Universitäten, unterschiedlichen Branchen und auch in Krankenhäusern. Hier ist die Integration gut gelaufen. Sie sind positive Vorbilder und müssen dargestellt werden. Das sind Menschen, die in den letzten 50 Jahren nach Deutschland kamen und ihr Umfeld positiv bereicherten.
Islamische Zeitung: Lieber Murat Gül, wir bedanken uns.