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Pro & Contra: Tut Deutschland genug?

Ausgabe 322

Foto: Mirek Pruchniki, via flickr | Lizenz: CC BY 2.0

Laila Massoudi und Muharrem Ünlü diskutieren, ob unsere Ansprüche ausreichend erfüllt werden

Pro: In Zeiten multipler Krisen brauchen wir Realismus

Die letzten Wochen haben eine Renaissance des Realismus in den Debatten bewirkt. Spätestens ab der Bundestagssondersitzung vom 27. Februar, auf der eine „Zeitenwende“ erklärt wurde, ist dieser Begriff in aller Munde. Dabei wird er von konträren Lagern beansprucht.

Die einen berufen sich auf ihn als geostrategische Doktrin, um vor einem Eingreifen in den Konflikt oder ein Ende der russischen Energieimporte zu warnen. Die anderen wiederum erklären sämtliche „Illusionen“ der Außen- und Sicherheitspolitik gegenüber Moskau für beendet, und fordern eine „realistische“ Bewertung unserer Lage und Verhältnisse.

Nichtsdestotrotz erlaube ich mir in der Sache, ob Deutschland denn in Fragen von Flucht und Migration genug tun würde, auf ihn zu verweisen. Um am Ende ein praktisches wie ethisches Handeln der Republik zu ermöglichen, kommen wir nicht ohne aus. Dazu müssen auch jene, die in den letzten Jahren hypermoralische Ansprüche an unsere Gesellschaft gestellt haben, die Ausmaße des Machbaren erkennen.

Das UNHCR ging am 28. März davon aus, dass sich zu diesem Zeitpunkt rund zehn Millionen Ukrainer auf der Flucht befänden. Davon seien derzeit 60 Prozent Binnenflüchtlinge, der Rest außer Landes gegangen. Das stellt – auf den diesen Zeitraum bezogen – die schnellste Fluchtbewegung seit dem 2. Weltkrieg in Europa dar. Bisher konzentrieren sich die ins Ausland Geflohenen zuerst auf die direkten Nachbarn – vorrangig auf Polen.

Da wegen fehlender Registrierungen keine genaueren Zahlen vorliegen, wurden zum Zeitpunkt der Niederschrift zwischen 150-300.000 Ukrainer in der Bundesrepublik geschätzt. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerkes UNHCR hielten sich im letzten Jahr 1,2 Millionen Kriegsflüchtlinge und Asylsuchende in Deutschland auf. Damit liegt es an Platz 5 ihrer Liste für 2021.

Ein verständlicher Einwand von KritikerInnen ist, den ankommenden Menschen (zumeist Frauen, Kindern und Alten) würden leichtere und bessere Bedingungen geboten wie Visafreiheit oder sofortige Arbeitserlaubnis, welche die meisten Menschen ab 2015 nicht erhalten haben. Was für manche ein Symptom von Ungerechtigkeit oder gar „strukturellem Rassismus“ ist, ergibt sich unter anderem aus dem unterschiedlichen Status für ukrainische Staatsbürger. Diese können sich 90 Tage lang visumfrei im Schengenraum aufhalten. Weitere Unterschiede ergeben sich unter anderem gerade auch aus den Erfahrungen, welche die Bundesrepublik nach 2015 gemacht hat. Warum sollte Berlin nicht lernfähig sein?

Zugegeben: der Vorwurf des Rassismus liegt auf der Hand, wenn wir die Berichte von einer ungleichen Behandlung bei der Aus- und Einreise von Nicht-Ukrainern nach Kriegsausbruch betrachten, aber: auch hier muss differenziert werden. VertreterInnen von UN-Agenturen wie der IOM, Menschenrechtler und EU-Repräsentanten haben Behauptungen widersprochen, wonach das die Regel und nicht die Ausnahme war. Darüber hinaus kommen zwei erschwerende Aspekte hinzu, die wenig mit „Diskriminierung“ zu tun haben: 1. Die Ukraine wollte so schnell wie möglich Frauen, Kinder und Alte außer Landes schaffen. 2. Das Außenministerium in Kiew hat die Herkunftsländer beispielsweise von StudentInnen um Mithilfe gebeten, ihre Staatsbürger aus der Ukraine zu bringen. Nicht jeder Staat sei diesem Hilfeersuchen zeitnah nachgekommen.

Gewichtiger als diese kriegsbedingte Lage ist der Vorwurf, nicht-weiße oder nicht-europäische Opfer hätten einen geringeren Stellenwert als die Geflohenen aus der Ukraine. Ganz von der Hand zu weisen ist das für einige Länder Ost- und Mitteleuropas sicherlich nicht. Insbesondere wenn man die jetzige Aufnahmebereitschaft Polens mit der nach 2015 vergleicht. Das gibt Anlass zu Fragen.

Gegenüber Deutschland halte ich diesen Vorwurf für nicht berechtigt. Wie die oben zitierten UNHCR-Zahlen zeigen, lag die Bundesrepublik 2021 bei den weltweiten Aufnahmeländern weit vorne – und damit vor den USA sowie anderen wirtschaftlich potenten Staaten in Amerika, Europa, Asien und dem Nahen Osten. Im Gegensatz zu anderen Orten leben diese Menschen nicht in Behelfslagern, sondern zusammen mit der Wohnbevölkerung, erhalten die gleichen Fördersätze wie andere Transfergeldempfänger, Sprach- und Integrationskurse und so weiter. Selbst im Vergleich zur gesamten EU, die sich auch dieses Mal bisher noch nicht auf zentrale Verteilschlüssel zu einigen scheint, hat die Regierung Merkel unter dem Motto „Wir schaffen das!“ eine historische Entscheidung getroffen und ist dem Augenblick gerecht geworden. Das ist Leistung, die es zu würdigen gilt, und die viele Syrer selbst zu schätzen wissen.

Sätze wie „Refugees welcome“ oder „No borders“ klingen toll, verwirklicht sind sie selten. Weltweit sind Vorbehalte gegenüber und Ablehnung von Geflohenen eher die Norm als die Ausnahme. Niemand kann die Augen davor verschließen, dass Migration a) auch den Charakter einer „Waffe“ hat und b) zu Belastungen und Konflikten in der Aufnahmegesellschaft führen kann. Der mit 2015 begonnene Zuzug von 0,8 bis 1,2 Millionen Menschen hat dem massiven Aufstieg der AfD stark geholfen.

Wir befinden uns in einem Zustand der fortgesetzten Krise(n): globale Pandemie, Klima, drohende Wirtschaftskrise sowie Inflation und nun ein Krieg in „unserer Nachbarschaft“. Das sind Realitäten, die wir zur Kenntnis nehmen müssen.

Contra: War Merkels „Wir schaffen das“ doch nicht das Maximum?

Wie im Rahmen des Ukrainekriegs die Solidarität gegenüber Geflohenen höher ausfällt als 2015 – aber warum?

Eines sei vorweg angemerkt: Krieg ist schlimm, egal wo und zwischen welchen Parteien er auf der Welt stattfindet. Krieg ist unnötig, egal auf welche vermeintlichen Gründe er sich beruft. Krieg ist primitiv, egal in welchem scheinzivilisierten Gewand er daherkommt. Im Kontext der aktuellen Geschehnisse in der Ukraine und der damit verbundenen Fluchtbewegung gibt es eine weitere Sache, die mindestens genauso besorgniserregend ist und unser eigenes Land betrifft. Um diese Sache besser zu veranschaulichen, müssen wir in der Zeit etwas zurückreisen, und zwar bis zum Zeitpunkt des 6. Semesters in meinem Bachelorstudium.

Im 6. Semester absolvierte ich mit Mitstudierenden ein empirisch-experimentelles Praktikum. Unsere Aufgabe war es, eine psychologische Fragestellung in ein empirisch-experimentelles Versuchsdesign zu übersetzen und auf dieser Basis zu untersuchen. – Wichtiger in diesem Zusammenhang ist die Fragestellung und das anschließende Ergebnis unserer Untersuchung.

Wir gingen der Frage nach, ob ein Unterschied vorliegt in der Anwendung subjektiver Gerechtigkeitsmaßstäbe gegenüber Fremdgruppen, und zwar je nach dem, ob es sich um eine kulturell nähere oder entferntere Fremdgruppe handelt. Einfach gesagt: wie moralisch streng oder mild gehen wir mit Fremdgruppen um in Abhängigkeit ihrer kulturellen Zugehörigkeit? Gibt es überhaupt einen Unterschied? Das signifikante Ergebnis unserer Untersuchung war: Leider gibt es einen!

Wir stellten fest, dass die Anwendung von subjektiven Gerechtigkeitsmaßstäben unterschiedlich ausfällt in Abhängigkeit von der kulturellen Nähe oder Distanz zur betrachteten Fremdgruppe.

Das Ergebnis folgte folgendem Muster: Kulturelle Nähe entsprach einem moralisch milderen Umgang, kulturelle Distanz entsprach einem moralisch strengeren Umgang. Man kann auch sagen: Das WIR bestimmt zu WEM wir uns WIE stark moralisch verbunden und verpflichtet fühlen.

Was hat das nun mit den aktuellen Geschehnissen in der Ukraine zu tun? Es ist definitiv richtig und wichtig, wie unkompliziert und lösungsorientiert die deutsche Politik auf die Fluchtbewegung aus der Ukraine reagiert. Menschen sind in größter Not und es gilt auf kürzesten Wegen Hilfe zu leisten. Verglichen mit der Fluchtbewegung in den Jahren 2015-16 aus dem Nahen Osten frage ich mich jedoch, was genau damals anders war im Vergleich zu heute?

Als Reaktion auf die damalige Migrationsbewegung wurden die EU-Außengrenzen nach und nach durch internationale Abkommen undurchlässiger gemacht. Zudem unterzog man die europäische Grenzschutzagentur Frontex ihrem bis dahin größten Ausbau. Im Lichte der Signale, die man im Vergleich dazu den aktuell aus der Ukraine Fliehenden gibt, wirft das politische Vorgehen von damals und heute unweigerlich Fragen auf, die für große Irritation sorgen. Doch es sind nicht nur die Maßnahmen rund um die EU-Außengrenzen und Frontex, die diese Irritationen auslösen. 

Vorweg einige Zahlen zur Einordnung: Laut Statista gab es zwischen den Jahren 2015 und 2021 in Deutschland 2.109.654 Asylanträge, wobei 476.649 davon auf das Jahr 2015 gefallen sind. Dem Anfangsjahr der sogenannten „Flüchtlingskrise“. Laut dem Mediendienst Integration geht das UN-Flüchtlingshilfswerk nach aktuellen Schätzungen von bis zu 4 Mio. Menschen aus, die aus der Ukraine fliehen könnten, wobei nach derzeitigem Stand seit dem Kriegsbeginn am 24.02.2022 bereits 123.000 von ihnen nachweislich in Deutschland eingereist sind (Stand: 14.03.2022).

Dass im Zuge der erwarteten Fluchtbewegung für die aktuell aus der Ukraine fliehenden dennoch zentrale Schritte im Rahmen des hiesigen Asylprozesses anders ausfallen, trägt neben Frontex und Flüchtlingsabkommen weiter zur bereits beschriebenen Irritation bei. So steht nicht mehr zur Debatte, dass man in dem ersten EU-Staat, denn man betritt, einen Asylantrag stellen muss. Auch verliert der herkömmliche Asylprozess insgesamt seine Verbindlichkeit, da dieser in Deutschland nicht beantragt werden muss. Gleichzeitig wird eine unmittelbare Arbeitserlaubnis in Aussicht gestellt. Ergänzend wird eine Wohnortfreizügigkeit gewährt, die für die Asylsuchenden der Vorjahre nicht denkbar war, weil sie schlicht untersagt war (Stichwort: Residenzpflicht). Im Kontext dieser Signale ist für den weiteren Verlauf zu erwarten, dass es keine vergleichbaren Probleme beim Familiennachzug geben wird wie für die Geflohenen der Vorjahre.

All das macht aktuell etwas mit Menschen, die in jüngerer Vergangenheit aus dem Nahen Osten nach Deutschland geflohen sind und jahrelang mit bürokratischen Hürden zu kämpfen hatten oder vielleicht immer noch kämpfen. Und es macht nicht nur etwas mit ihnen. Die Schlüsselfrage an dieser Stelle ist nicht die, warum es heute für UkrainerInnen so einfach ist. Denn das ist aus meiner vollen Überzeugung zu absolut richtig. Und falls es abseits der Dringlichkeit eines Krieges plausible Gründe dafür gibt, so hat die Politik hier eine nicht zu unterschätzende Verantwortung einer breiten Aufklärungsarbeit, um die Menschen mit den beschriebenen Fragen, Irritationen und Sorgen abzuholen.

Die Schlüsselfrage ist vielmehr: Warum war all das für die vielen Kriegsgeflohenen aus dem Nahen Osten ab 2015 nicht möglich?

Refugees welcome, no matter who! (Muharrem Ünlü)