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Fast ein halbes Jahr beschwerdefreier Muezzinruf in Köln

Muezzin

Auch im Ramadan gälten die vereinbarten Bedingungen zum Muezzinruf. Eine Anfrage zur Ausweitung des Rufes über das Freitagsgebet liege der Stadt nicht vor.

Köln (KNA/iz). Der vor fast einem halben Jahr eingeführte öffentliche Muezzinruf in Köln hat sich ohne Probleme etabliert. „Im Moment liegen der Stadt Köln keine Beschwerden seitens Anwohnenden oder Bürger*innen vor“, sagte ein Sprecher der Stadt auf Anfrage der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).

Muezzin: Gebetsruf problemfrei

Die DITIB-Zentralmoschee im Stadtteil Ehrenfeld erfülle alle Auflagen zum Lärmschutz. Auch im Ramadan gälten die vereinbarten Bedingungen zum Muezzinruf. Eine Anfrage zur Ausweitung des Rufes über das Freitagsgebet liege der Stadt nicht vor.

Foto: Raimond Spekking | Lizenz: CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons)

Im vergangenen Jahr hatte Köln ein auf zwei Jahre angelegtes Pilotprojekt gestartet, wonach der Muezzinruf in islamischen Gemeinden unter Auflagen ertönen darf. Die Stadt begründete den Schritt mit der Religionsfreiheit. An der Zentralmoschee erklang der Ruf erstmals am 14. Oktober über zwei Lautsprecher im Innenhof.

Die maximal fünfminütige Gebetsaufforderung ist seitdem immer freitags von 12.00 bis 15.00 Uhr zu hören – je nach Jahreszeit und Sonnenstand. Außerhalb des Moscheegeländes darf der Ruf 60 Dezibel und damit Gesprächslautstärke nicht überschreiten. Für mögliche Beschwerden muss eine Ansprechperson benannt sein.

Begrenztes Interesse bei anderen Gemeinschaften

Bislang hätten keine weiteren Gemeinden die Erlaubnis für den Ruf beantragt, sagte ein Stadtsprecher dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ (Dienstag). Im vergangenen Jahr hatten rund zehn weitere Moscheen Interesse an dem Projekt bekundet. Deutschlandweit gibt es der DITIB zufolge etwa 250 Moscheen, an denen der Muezzin offiziell ruft. Die Kölner Zentralmoschee habe aber einen höheren Symbolwert.

Foto: Creative Images, Shutterstock

Nach der Vorstellung des Projekts war eine bundesweite Debatte entflammt. Kritiker warnten vor einer unzulässigen Bevorzugung einer Minderheit. Zudem könnten konservative oder frauenfeindliche Strömungen in den Gemeinden gestärkt werden. Auch sei die DITIB der verlängerte Arm des türkischen Staats.

Die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker (parteilos) wertete das Projekt als Zeichen gegenseitiger Akzeptanz: „Wenn wir in unserer Stadt neben dem Kirchengeläut auch den Ruf des Muezzins hören, zeigt das, dass in Köln Vielfalt geschätzt und gelebt wird.“

Deutsche Debatten um den Ruf des Muezzins

Seit der Ankündigung von Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker, muslimischen Gemeinden den öffentlichen Gebetsruf (arab. adhan) zu erlauben, kannte die Debatte kein Halten mehr: In unzähligen Gastbeiträgen und Interviews haben echte und vermeintliche „Experten“ in den vergangenen Tagen kundgegeben, warum ihrer Meinung nach der Adhan erlaubt oder verboten werden sollte.

Die einen argumentieren mit persönlichen Erfahrungen, die zweiten machen den Muezzinruf abhängig von der Erfüllung integrationspolitischer Forderungen, die dritten reihen einfach plumpe Klischees aneinander. Das mag alles sehr interessant sein, für die Frage aber, ob Muslime zum Gebet rufen dürfen, ist es letztlich unerheblich. Denn die Antwort darauf ist eindeutig: Natürlich dürfen sie.

Der Grund hierfür steht in Art. 4 des Grundgesetzes. In Absatz 1 heißt es: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich“. Absatz 2 fügt hinzu: „Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“ Dass diese grundgesetzlich garantierte Religionsfreiheit auch öffentliche Gebetsrufe abdeckt, haben Gerichte immer wieder bestätigt.

Foto: Deutscher Bundestag, Thomas Köhler, photothek.net

Maßgeblich ist hierfür ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1968, wonach die Religionsfreiheit „extensiv“ zu interpretieren sei:  „Zur Religionsausübung gehören danach nicht nur kultische Handlungen und Ausübung sowie Beachtung religiöser Gebräuche wie Gottesdienst, Sammlung kirchlicher Kollekten, Gebete, Empfang der Sakramente, Prozession, Zeigen von Kirchenfahnen, Glockengeläute, sondern auch religiöse Erziehung, freireligiöse und atheistische Feiern sowie andere Äußerungen des religiösen und weltanschaulichen Lebens.“

Auch die Bundesregierung kennt das Recht auf Muezzinruf. In einer Antwort auf eine Große Anfrage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zum Thema „Islam in Deutschland“ aus dem Jahr 2000 schreibt sie: „Der islamische Gebetsruf als Betätigung einer Glaubensüberzeugung im Sinne der Bekenntnisfreiheit und der freien Religionsausübung wird durch Artikel 4 Abs. 1 und 2 GG geschützt.“

Gegner von Muezzinruf und/oder Glockenläuten argumentieren häufig, dass Religionsfreiheit der Gläubigen dann ein Ende finden müsse, wenn die Religionsfreiheit von Dritten, also zum Beispiel von Anwohnern, gefährdet sei. Doch das ist sie nicht.

Entgegen dem landläufigen Verständnis begründet die „negative Religionsfreiheit“ kein Recht darauf, von religiösen Bekundungen unbehelligt zu bleiben. Sie bedeutet lediglich, dass niemand zu religiösen Bekenntnissen oder Praktiken gezwungen werden darf.

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Viel Freude, leise Töne: Erster öffentlicher Muezzinnruf in Köln

Muezzin

Rund 3.000 Menschen sind am Freitag zum ersten öffentlichen Muezzinruf an der DİTİB-Zentralmoschee in Köln gekommen. Die Stimmung war andächtig und freudig. Doch es gab auch Kritik.

Köln (KNA). Dicht gedrängt steht eine Traube von Menschen um Muezzin Mustafa Kader. Es ist 13.25 Uhr, als der Imam auf dem Innenhof der DİTİB-Zentralmoschee in Köln seinen Gebetsruf anstimmt, der auch über zwei Lautsprecher auf der Freifläche ertönt. Kader wird genau 2 Minuten und 36 Sekunden rufen – und damit die von der Stadt vorgeschriebene Höchstdauer von 5 Minuten deutlich unterschreiten. Zahlreiche Smartphones filmen den Religionsbeauftragten, einige Anwesende haben Tränen in den Augen.

Schätzungsweise 3.000 Menschen sind zu der Premiere am Freitag gekommen – dem ersten öffentlichen Muezzinruf in Köln. Dass die Gebetsaufforderung nun auch außerhalb der Moschee ertönen darf, empfänden sie als Ehre, sagen zwei junge Frauen der Katholischen Nachrichten-Agentur. „Ich finde das fair, weil in vielen muslimischen Ländern ja auch die Kirchenglocken klingen“, ergänzt ein junger Mann.

„Heute sehe ich das Lächeln auf den Gesichtern der Gemeindemitglieder“, so der Direktor des Moscheeforums Murat Şahinarslan. Die Mühe, sich bei einem Pilotprojekt der Stadt Köln zu bewerben, habe sich gelohnt. „Man ist euphorisch und sehr, sehr glücklich darüber.“

Vor rund einem Jahr hatte die Stadt das Projekt gestartet, wonach der Muezzinruf unter Auflagen einmal pro Woche für maximal fünf Minuten ertönen darf. Interessierte Gemeinden müssen vorab ein Schallgutachten vorlegen, die Nachbarschaft informieren und eine Person für Beschwerden ernennen. Bislang hat nur die Zentralmoschee die nötigen Schritte ergriffen; etwa zehn weitere Gemeinden haben Interesse bekundet.

Die Stadt begründete ihr Projekt vor allem mit der Religionsfreiheit. Dennoch hagelte es Kritik. Dass ausgerechnet an einer Einrichtung der DİTİB der erste öffentliche Muezzinruf ertönen durfte, sorgte weit über Stadtgrenzen hinaus für Unmut. Der deutsch-türkische Moscheeverband verfolge die Agenda des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, warnte zum Beispiel Islamexperte Ahmad Mansour im Deutschlandfunk. Solche Argumente weist DİTİB-Vertreter Zekeriya Altuğ zurück. Der Verband leide unter einem „falschen Image“, sagte er bei einer Infoveranstaltung am Donnerstagabend. Seiner Schätzung nach gibt es deutschlandweit bereits etwa 250 Moscheen, an denen der Muezzin offiziell ruft. Köln sei also kein Pionier, die Zentralmoschee habe jedoch einen hohen Symbolwert.

Proteste, wie sie die Zentralmoschee zum Besuch des türkischen Präsidenten erlebt hatte, bleiben während des Muezzinrufs aus. In der Nähe des Gebetshauses erinnert lediglich ein gutes Dutzend Demonstranten an die religiös begründete Unterdrückung von Frauen im Iran. Ihre Rufe – und der Verkehrslärm der viel befahrenen Venloer Straße – übertönen den Muezzin fast vollständig. Außerhalb des Moscheegeländes darf sein Ruf den Auflagen der Stadt gemäß 60 Dezibel nicht überschreiten. Das ist etwa so laut wie ein Gespräch.

Anwohnerinnen und Anwohner finden sich kaum unter den Schaulustigen. Auch zu der Infoveranstaltung am Donnerstagabend waren nur wenige Menschen aus der Nachbarschaft gekommen. Eine Frau beschwerte sich, Oberbürgermeisterin Henriette Reker (parteilos) habe das Modellprojekt „aus der Hinterhand“ umgesetzt. „Warum ist man da nicht im Vorfeld im Dialog gewesen?“, fragte sie. An der DİTİB oder dem Ruf an sich gab es zumindest an diesem Abend jedoch keine Kritik.

An der Zentralmoschee darf der Ruf des Muezzin nun zunächst für zwei Jahre über die Lautsprecher erklingen. Die beiden 55 Meter hohen Minarette sind ohnehin nicht begehbar. Nach Auslaufen des Vertrags wollen Kommune und DİTİB die Lage bewerten. „Eine Vorreiterrolle zu spielen und zu sehen, dass der Dialog mit der Stadt klappt, ist eigentlich nur toll“, meint Murat Şahinarslan. „Der Muezzinruf gibt den Menschen das Gefühl, dass sie in Köln und in Deutschland angekommen sind.“

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DITIB-Bundesvorsitzender Türkmen tritt ab

Köln (iz). Wie die DITIB-Pressestelle am 30.8. meldete, tritt der Bundesvorsitzende des Moscheeverbands, Kazım Türkmen, nach vierjähriger Amtszeit wieder ab. Er werde solange in seinem Amt verbleiben, bis die Generalversammlung der Vereinigung einen Vorstand gewählt hat. In seiner Abwesenheit soll er durch seinen Stellvertreter Atasoy vertreten werden.

Türkmen wurde am 13.08.2018 vom türkischen Amt für religiöse Angelegenheiten (Diyanet) mit seinem Amt betreut. Nun wolle er sich wie andere auch neuen Tätigkeiten in der Türkei widmen.

Das aus der Vergangenheit der türkischen Migration nach Deutschland stammende System der Entsendung und befristeten Tätigkeit türkischer Religionsvertreter ist seit einigen Jahren von Muslimen in Deutschland in Frage gestellt worden. Es müsse diskutiert werden, so nachdenkliche Stimmen, ob diese Praxis einer Diaspora noch funktioniere angesichts der Beheimatung von MuslimInnen und Islam in Deutschland. (ak)

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Vom Willen zur Verbundenheit. Der Gebetsruf provoziert Reaktionen

(iz). Zweifellos wird die Pandemie als ein Ereignis in die Geschichte eingehen, das die Digitalisierung der Gesellschaft vorangetrieben hat. Das soziale Leben findet heute in den Sphären des Netzes statt. […]

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Widersprüche interessieren nicht

(iz). Nach den Ereignissen in der ­Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof und den sich anschließenden öffentlichen Diskussionen müssen wir festhalten, dass unser Land, unsere Gesellschaft, ein gravierendes und in seiner unheilvollen […]

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„In der Mitte der Gesellschaft angekommen“

(iz) Dass es so etwas wie Muslimfeindlichkeit gibt, ist mittlerweile in der Gesellschaft angekommen. Ein innermuslimisches Gespräch darüber steht noch aus. Dazu sprachen wir am Rande der Osnabrücker Fachkonferenz zum antimuslimischen Rassismus mit Dr. Zekeriya Altug. Der Physiker leitet die Außenbeziehungen bei DITIB und ist Sprecher des KRM.
Islamische Zeitung: Lieber Herr Dr. Zekeriya Altug, Sie waren am 14.1. Teilnehmer einer Podiumsdiskussion in der Universität Osnabrück zum Thema „antimuslimischer Rassismus“. Wie erleben Sie und der Moscheeverband, bei dem Sie engagiert sind, dieses Phänomen?
Dr. Zekeriya Altug: Das ist kein neues Phänomen. Die neue Dimension, die wir in diesen Tagen erleben, liegt darin, dass es sich gewandelt und in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Es wird nicht mehr als Rassismus wahrgenommen. Vielmehr denken viele Menschen, dass Sie mit ihren Forderungen nach Sonderregelungen und Beschränkungen für Muslime sogar diesen etwas Gutes tun würden. Man möchte quasi die Muslime vor sich selbst beschützen. Damit erkennt man den Muslimen die Fähigkeit auf den eigenen freien Willen ab. Am deutlichsten wird dieser „humanistische“ Rassismus selbsternannter Islamkritiker in ihrer Aussage, dass man Muslime nicht den muslimischen Verbänden überlassen dürfe.
Sprich, der Staat beziehungsweise die nichtmuslimische Mehrheitsgesellschaft muss die Muslime vor sich selbst schützen. Diese Forderung vieler Islamkritiker, aber auch mancher vermeintlich liberaler Politiker verkennt, dass es im Islam keine Zwangsmitgliedschaft in den Religionsgemeinschaften gibt. Die Brisanz der letzten Monate und Jahre liegt jedoch darin, dass diese Islamfeindlichkeit mittlerweile als Patriotismus und Verteidigung westlicher Zivilisation wahrgenommen wird. Immer mehr Menschen, die man zuvor nicht dem rechtsextremen Spektrum zugeordnet hätte, teilen solche fremdenfeindlichen Ansichten und schrecken mittlerweile sogar nicht vor Gewalt gegen Muslime zurück. Dies untermauern auch die Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden und das nicht nur seit den steigenden Flüchtlingszahlen oder der Silvesternacht von Köln.
Ich sehe das mehr als eine Reaktion auf den laufenden Integrationsprozess des Islams in der Gesellschaft. Die Mehrheitsgesellschaft reagiert zum Teil allergisch auf dieses Zusammenwachsen. Dabei bieten die Flüchtlingsfrage und auch die Ereignisse der Silvesternacht der bestehenden Islamophobie beziehungsweise der Islamfeindlichkeit lediglich eine nachgelieferte Legitimation.
Islamische Zeitung: Haben Sie, als Repräsentant einer der großen muslimischen Organisationen, eigentlich das Gefühl, dass Ihre Gesprächspartner aus Staat, Politik und Medien das Thema ausreichend ernst nehmen?
Dr. Zekeriya Altug: Das ist sehr unterschiedlich. Viele Politiker, aber auch Vertreter staatlicher oder kommunaler Institutionen, zeigen nicht nur Sensibilität für das Problem. Es gibt Ansätze und Bemühungen, die pluralistische Ausrichtung unserer Gesellschaft und den Beitrag der Muslime hierfür zu würdigen und zu stärken. Dazu gehört natürlich auch, dass Muslime neben der Wahrnehmung ihrer Rechte sich auch ihrer Verantwortung für diese Gesellschaft stellen. Zuletzt hat man dies bei der Unterstützung unserer neu ankommenden Mitmenschen sehr deutlich erlebt. Unsere Gesellschaft hat als ein Ganzes agiert und Menschen in Not geholfen, ohne darauf zu achten, welcher Religion oder Ethnie sowohl die Helfenden als auch die Hilfesuchenden angehören.
Dennoch erleben wir immer wieder, dass auch viele Politiker die Ängste und auch die große Abneigung gegenüber Muslimen und dem Islam in der Gesellschaft zur Selbstprofilierung nutzen. Leider werden nicht diejenigen, die gute und solide Arbeit für und mit den Menschen machen, sondern eher die Lautstarken stärker wahrgenommen. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass wenn die öffentliche Wahrnehmung kippt, sich auch die Politik der Mitte opportunistisch den Weg des geringeren Widerstandes zur Wählerstimme sucht. Dies sehen wir sehr deutlich darin, dass wenn von Seiten der Muslime oder besser gesagt auch vermeintlicher Muslime Straftaten oder nichtakzeptable Handlungen wie bei der Scharia-Polizei vorkommen, eine bundesweite Empörung durch alle Parteigrenzen hinweg deutlich und zu Recht artikuliert wird.
Jedoch nehmen viele Politiker kaum Notiz, wenn wöchentlich Moscheen angegriffen werden und sogar Flüchtlingsheime brennen. Daher können wir nicht einmal hoffen, dass der breite Rassismus beziehungsweise die Islamfeindlichkeit, die sich bereits in der Schule, der Nachbarschaft und im Berufsleben zeigt, als solche wahrgenommen wird. Bei Muslimen wird sogar das Fehlverhalten nicht beim Täter, sondern bei den Opfern der Ressentiments gesucht, da diese ja bekanntermaßen Integrationsverweigerer seien.
Ganz problematisch wird es jedoch, wenn vermeintlich linke Politiker, die für Multikulti und offene Gesellschaftsform stehen, gerade bei Muslimen radikale Forderungen nach staatlichem Einfluss stellen, wie zuletzt ein Teil der Grünen Spitze mit Herrn Özdemir und Herrn Beck. Tragisch ist es, dass man auch hier die globalen politischen Konflikte, die man deutlich als Privatfehde zwischen Herrn Erdogan und Herrn Özdemir erkennen kann, die von einer persönlichen Enttäuschung von Seiten des Herrn Özdemir zu resultieren scheint, auf dem Rücken der deutschen Muslime austrägt, indem man ihnen die laut Verfassung garantierten Grundrechte absprechen möchte. Interessant ist, dass auch diese vermeintlich grünen Politiker mit sehr starken Behauptungen um sich werfen, von denen sie wissen, dass sie jeder Grundlage entbehren. Man hofft wohl, dass die Wählerschaft noch grüner hinter den Ohren ist und diesen Unterstellungen Glauben schenken wird, wenn man sie denn nur laut genug artikuliert. Dieses Verhalten, welches wir bislang nur vom äußersten rechten Rand der Gesellschaft und Politik kennen, scheint, wenn es um Muslime geht, zunehmend auch im linken Spektrum und sowieso in der politischen Mitte salonfähig zu sein.
Islamische Zeitung: Reflektiert die, zumeist soziologische und auf die Träger des Ressentiments ausgerichtete, Analyse die Lebenserfahrung von Muslimen und deren Umgang mit dem Phänomen?
Dr. Zekeriya Altug: Auf akademischer Ebene haben wir mittlerweile viele und auch  differenzierte Untersuchungen des Phänomens, die nicht mehr nur das Problem bei den Muslimen verorten. Ich denke, dass sich in den letzten Jahren in diesem Bereich vieles bewegt hat, auch wenn wir noch einen langen Weg vor uns haben. Allerdings finden diese Erkenntnisse ihren Weg nur schleppend in die Arbeit vor Ort und in die Mitte der Gesellschaft. Das Problem verstärkend kommt hinzu, dass für öffentliche Meinungen und Wahrnehmungen wissenschaftliche Analysen und Fakten weniger effektiv sind, als das Bauchgefühl und die mediale Sprache. In der breiten Öffentlichkeit wird noch immer davon ausgegangen, dass Muslime aufgeklärt und somit vor ihrer eigenen Religion, zumindest vor Teilen davon, geschützt und ja auch vor ihrer eigenen Kultur gerettet, befreit werden müssten. Man möchte die Muslime zivilisieren.
Daher ist ein völlig neuer Diskurs nötig. Wir müssen den Umgang mit den Muslimen in der Öffentlichkeit diskutieren. Der Islam und somit die Muslime werden nicht nur als etwas Fremdes gesehen. Vielmehr wird der Islam als die Antithese westlicher Errungenschaften und der Moderne, natürlich auch der Postmoderne, wahrgenommen. Um hier einen neuen Ansatz zu schaffen, müssen wir sicherlich auch darüber diskutieren, welche Werte der Islam vertritt, aber auch, welche Werte unsere deutsche Gesellschaft als ihre eigenen ansieht. Gehört Pluralismus und Religionsfreiheit ohne Wenn und Aber dazu?
Dass der Islam dazugehört, ist mittlerweile schon artikulierbar. Aber ist der ­Islam auch gleichberechtigt? Das heißt, gehören wir als Muslime nur dazu, oder gehören wir als Muslime wie Nichtmuslime zusammen und bilden diese Gesellschaft in all ihrer Vielschichtigkeit und Vielfältigkeit? Diesen Fragen muss sich auch die Mehrheitsgesellschaft stellen. Wir müssen hier die Deutungshoheit den radikalen Kräften von rechts und auch den Islamkritikern entreißen. Dies darf  jedoch nicht schablonenhaft geschehen. Es reicht nicht, dass man behauptet, weltoffen und freiheitlich zu sein und man alle Menschen als gleich ansehe. Dies muss sich auch in den Handlungen widerspiegeln.
Islamische Zeitung: Welche individuellen Auswirkungen haben Ihrer Meinung nach solche Vorurteile bei betroffenen Muslimen? Gelegentlich drängt sich der Eindruck auf, dass ein Teil der muslimischen Community sich ebenfalls in eine „Wagenburg“ zurückgezogen hat…
Dr. Zekeriya Altug: Die Auswirkungen werden immer fataler. Während die erste und zum Teil auch die zweite Generation von Migranten, die ja die große Mehrheit der Muslime darstellen, sich selbst als Gäste, und somit als Fremde gesehen haben und dadurch die Ablehnung der Gesellschaft zum Teil besser verkraften konnten, weil sie ja irgendwann zurück in die Heimat zurückkehren würden, sieht es für die hier geborenen Muslime ganz anders aus. Wenn man keine andere Heimat kennt, hier geboren wurde und von klein auf die Sprache und Kultur erlernt hat und sich selber als Deutscher fühlt, aber nicht als solcher akzeptiert wird, hat das für die Entwicklung des Individuums gravierendere Folgen. Denn diese Menschen haben nichts, wohin sie – wenn auch nur in ihrer Zukunftsplanung oder Hoffnung – gehen können.
Auch wenn viele junge Menschen, Kinder und Enkelkinder von ehemaligen Migranten, sich selbst neben ihrer deutschen Identität auch als türkisch oder arabisch bezeichnen, so wissen sie, dass sie nicht nur das jeweilige, vermeintliche Heimatland nicht nur nicht wirklich kennen, sondern sie wissen auch, dass sie auch kulturell dem Herkunftsland ihrer Eltern fremd geworden sind. Wenn nun diese Menschen im einzigen wirklichen Heimatland ebenfalls als Fremde angesehen werden, so ist dies sehr schwer zu verarbeiten. Für Konvertiten gilt das Gleiche. Obwohl seit Generationen Teil der Gesellschaft, wird man wegen seiner Glaubensentscheidung plötzlich zum „Ausländer“.
Islamische Zeitung: SoziologInnen glauben ja, dass es sich hier um ein Vorurteil ohne das Objekt des Vorurteils handle. Ist es wirklich so einfach, dass Muslime gar nichts mit der Entstehung von gegen sie gerichteten Vorurteilen zu tun haben?
Dr. Zekeriya Altug: Ja und Nein zugleich. Man kann in der Tat sagen, dass es für dieses Vorurteil sowie für die Ablehnung des Islam und der Muslime keiner Handlung der Muslime bedarf. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist in allen Gesellschaften unterschiedlich stark verankert. Das zeigt auch die Tatsache, dass in den Regionen, wo wenig oder keine Muslime leben, die ­Islamophobie und Islamfeindlichkeit am größten ist.
Dennoch kann man auch nicht übersehen, dass auch viele Geschehnisse in islamischen Ländern, die zwar zum Teil auch von säkularen Gruppen ausgelöst sein können, dazu beitragen, dass die Situation nicht entspannt, sogar eskaliert, wie wir es zurzeit erleben. Sicherlich müssen sich auch die Muslime in Europa an die eigene Nase fassen und überlegen, was sie dagegen tun können und ob sie etwas dagegen getan haben.
Islamische Zeitung: Bedeutet das im Umkehrschluss nicht auch eine fatalistische Einstellung?
Dr. Zekeriya Altug: Das denke ich nicht. Fatalistisch wäre es ja, wenn man jegliche Verantwortung von sich wegschiebt. Zu analysieren, dass die Haltung der Muslime nicht die Ursache darstelle, ist erst einmal legitim. Wichtig ist jedoch, dass man die eigene Verantwortung und auch die eigenen Möglichkeiten zur Lösung und Entspannung der Lage sieht und auch demnach handelt. Sicherlich kann ich hierbei nicht für jeden einzelnen Muslim sprechen. Aber zumindest wir als DITIB sowie viele andere Vertreter von Muslimen haben den Handlungsbedarf erkannt und tun sehr viel in diesen Bereichen, vom Dialog über soziale Dienste bis hin zur Bemühung der gleichberechtigten Teilhabe in vielen Bereichen. Der Hinweis, dass man für eine Lösung und Entspannung auch den Beitrag der nichtmuslimischen Gesellschaft, den es bereits von vielen Gruppen wie den Kirchen gibt, braucht, darf nicht als Fatalismus verschrien werden. Vielmehr ist es die Bestrebung, echte Lösungen zu finden.
Islamische Zeitung: Es gibt seit einigen Jahren einen enormen Anstieg in der Beschäftigung mit dem Phänomen „antimuslimischer Rassismus“ auf muslimischer Seite. Praktisch geschieht aber recht wenig. Woran liegt das?
Dr. Zekeriya Altug: Muslime wachsen bereits mit vielen Ressentiments und sogar Repressalien auf, sodass sie irgendwann abgestumpft sind und sogar der offensichtliche Rassismus, dem sie begegnen, sie eher resignieren lässt. Viele Ressentiments und unterschwelligen Rassismus erkennen sie oft erst gar nicht.
Die Diskussionen um und über den Islam nach den Anschlägen von 2001 haben jedoch dazu geführt, dass die Muslime hierbei sensibler geworden sind. Daher hat man großen Nachholbedarf sowohl in der Analyse des Phänomens als auch in Gegenstrategien. Gleichwohl kann man sagen, dass die Muslime viele Mechanismen, die für Gegenstrategien nötig wären, erst noch aufbauen und sich sogar erst die Expertise aneignen müssen. Denn über Jahrzehnte war man nur für religiöse Dienste zuständig. Später kamen soziale Angebote dazu. Jetzt ist man in der Situation und der Pflicht, die Gesellschaft mitgestalten zu können.
Islamische Zeitung: Wieso kriegen es Deutschlands Muslime, insbesondere ihre Interessenvertreter, nicht hin, analog zu den USA eine Lobbygruppe wie CAIR auf die Beine zu stellen? Diese, mit geringen Mitteln begonnen, ist mittlerweile landesweit vertreten und arbeitet hochprofessionell. Ein Vorbild für Sie?
Dr. Zekeriya Altug: Das kann mehrere Gründe haben. Zum einen hat Lobbyarbeit in den USA einen anderen Stellenwert und eine andere Historie. Zum anderen ist es sicherlich auch eine Frage der Prioritäten. Wie bereits erwähnt, sehen viele muslimische Organisationen ihre Aufgaben in der Basisarbeit. Die Lobbyarbeit wird erst langsam als eine Notwendigkeit erkannt und sicherlich auch nicht bei allen in gleicher Gewichtung. Wir als DITIB versuchen momentan, hierfür Strukturen zu stärken und neue Möglichkeiten aufzubauen. Es ist ein Prozess, der von vielen weiteren Aktivitäten begleitet wird und nur im Gleichschritt erfolgreich funktionieren kann. Wir brauchen sicherlich eine gute Lobby, aber nicht nur. Ebenso brauchen wir eine funktionierende Wohlfahrtspflege, Religionsunterricht an Schulen, Islamische Theologie an Universitäten, Seelsorge, Bestattungswesen, Solidarität mit Bedürftigen, einen echten innerislamischen Diskurs und vieles mehr, was die DITIB neben der Religionsausübung leisten muss. Nur durch ganzheitliche Strategien können wir tatsächlich auch eine starke Überzeugungskraft und Teilhabe in Politik und Gesellschaft erreichen.
Islamische Zeitung: Ablehnung und Feindschaft hat bereits der Prophet Muhammad erfahren. Brauchen wir auch eine spirituell-religiöse Behandlung des Themas, um es richtig einordnen zu können?
Dr. Zekeriya Altug: Die Spiritualität und die Religiosität begleiten uns ja ständig. Ansonsten hätten wir auf muslimischer Seite eine viel stärkere Aussichtslosigkeit und Resignation. Der Glaube ist die stärkste Quelle unserer Zuversicht auf eine bessere Zukunft. Wir sehen ja gerade im Verhalten manch junger Muslime, die die Religion erst neu entdecken und die Tradition und Spiritualität nicht kennen, dass ohne diese eine schnelle Desillusionierung und Perspektivlosigkeit einsetzen kann und leider oft genug der Weg in eine Abschottung und schlimmstenfalls in eine Radikalisierung sehr kurz sein kann. Daher ist der Glaube und das Vertrauen in Gott eine Quelle unserer Motivation.
Diese Spiritualität darf jedoch gerade nicht zu der fatalistischen Einstellung führen, es sei göttlicher Wille, dass man hier dieser Anfeindung ausgesetzt ist. Vielmehr kann unsere Spiritualität, insbesondere der Grundgedanke des Sufismus, der ja eine tiefe Verankerung in der Tradition des Islam hat, uns und auch der Gesamtgesellschaft neue Wege aufzeigen, um mit den aktuellen Spannungen besser umzugehen. Lösen werden wir die Polarisierung unserer Gesellschaft am Ende nicht nur über Regeln und Gesetze. Vielmehr über gegenseitige Akzeptanz und Toleranz. Am Ende werden es wieder höchst menschliche Gefühle, wird es wieder das Bauchgefühl unserer Gesellschaft sein müssen, das ein respektvolles Miteinander und eine kulturelle Vielfalt als völlig normal ansehen wird.
Islamische Zeitung: Lieber Dr. Altug, vielen Dank für das Interview.

„Anschlag gegen Menschlichkeit“

Seit Monaten häufen sich in Deutschland Anschläge gegen Flüchtlingsheime. Mit einer Granate im Schwarzwald erreicht die Gewalt eine neue Qualität. Eine entscheidende Frage ist aber offen.
Villingen-Schwenningen (dpa). Mit einem Handgranatenanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft im Schwarzwald hat die Gewalt gegen Zuwanderer in Deutschland eine neue Dimension erreicht. Unbekannte warfen in der Nacht zum Freitag den Sprengsatz auf das Gelände der Unterkunft im baden-württembergischen Villingen-Schwenningen – unklar ist aber, ob die jugoslawische Granate vom Typ M52, eine Kriegswaffe, scharf war und hätte explodieren können. Verletzt wurde niemand.
„Es steht fest, dass sie mit Sprengstoff gefüllt war“, sagte Johannes-Georg Roth, Leiter der Staatsanwaltschaft Konstanz. „Ob ein Zünder verbaut war, ist bisher nicht bekannt.“ Ein Experte des Landeskriminalamtes erklärte, von einer scharfen Granate könne nur gesprochen werden, wenn Sprengstoff und Zünder vorhanden seien. Aus Polizeikreisen hatte es zunächst geheißen, die Granate sei scharf.
Die Polizei ermittelt nach eigenen Angaben in alle Richtungen und schließt ein fremdenfeindliches Motiv nicht aus. Einen konkreten Verdacht gebe es noch nicht. Befragungen in der Nachbarschaft hätten aber den einige Hinweise dazu erbracht, hieß es.
Die Granate wurde von Entschärfern kontrolliert gesprengt. In der Unterkunft leben nach Auskunft des Regierungspräsidiums Freiburg 104 Flüchtlinge aus mehreren Ländern, 39 davon aus Syrien, weitere Flüchtlinge stammten aus Afghanistan, Irak und Albanien.
Die Handgranate sei gegen 1.15 Uhr von der Straße aus über den Zaun in eine Zufahrt des Geländes geworfen worden, sagte der Leiter der Sonderkommission „Container“, Rolf Straub. Der Sprengkörper sei neben einem Container des Sicherheitsdienstes liegengeblieben, in dem sich nach Auskunft von Klemens Ficht vom Regierungspräsidium Freiburg drei Sicherheitsleute aufhielten. Die Granate explodierte jedoch nicht. Zwölf Streifenbesatzungen rückten an, die Polizei sperrte das Gelände und angrenzende Straßen weiträumig ab.
Es ist bundesweit der erste Sprengstoff-Angriff auf Flüchtlinge. „Bis jetzt hatten wir zwar mehrere Fälle, in denen Pyrotechnik verwendet wurde“, sagte eine Sprecherin des Bundeskriminalamts (BKA) in Wiesbaden. „Dass nun eine Kriegswaffe zum Einsatz gegen eine Flüchtlingsunterkunft kam, ist neu.“
Politiker sprachen von einer neuen Dimension der Gewalt. „Also das ist wirklich unfassbar, dass jetzt schon mit Handgranaten – quasi mit militärischen Waffen – auf Asylsuchende losgegangen wird“, sagte Ministerpräsident Winfried Kretschmann. „Die Täter dürfen nicht ungestraft davon kommen“, twitterte Bundesjustizminister Heiko Maas.
CDU-Spitzenkandidat Guido Wolf nannte die Attacke einen „Anschlag gegen die Menschlichkeit“. Die Tat müsse mit der ganzen Härte des Rechtsstaates bestraft werden. Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Volker Beck, innenpolitischer Sprecher, bezeichnete die Tat als „Straßenterror“ und forderte einen Gipfel im Kanzleramt mit Diskussionen, „die am Wohl und Schutz der Flüchtlinge orientiert sind und nicht nur an deren Abwehr“.

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Zur Zukunft der muslimischen Selbstorganisation: Muslimische Zusammenschlüsse auf der Landesebene tragen wichtige Elemente der Gemeindearbeit

Norbert Müller ist 52 Jahre alt. Er arbeitet im Hauptberuf als Rechtsanwalt. Engagiert aktiv ist er als Vorstandsmitglied bei der SCHURA Hamburg. Müller war unter anderem Mitglied der Verhandlungskommission, die […]

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Interview: Imam Benjamin Idriz über die Zukunft der Community und seiner Pläne in München

(iz). In den letzten Monaten häuften sich Meldungen und Stellungnahmen über Meinungsverschiedenheiten zwischen Mitgliedern des Koordinationsrates der Muslime. Dabei ging es nicht nur um Personalien oder Einzelinteressen, sondern auch um Grundfragen der zukünftigen Ausrichtung.
Wir sprachen mit Imam Benjamin Idriz über Fragen der muslimischen Selbstorganisation, zukünftige Möglichkeiten der deutschen Community sowie sein Großprojekt in München. Idriz ist seit Längerem Imam der erfolgreichen, multikulturellen Gemeinde im bayrischen Penzberg und plant derzeit den Bau eines großen Zentrums in der Landeshauptstadt München.
Islamische Zeitung: Lieber Benjamin Idriz, heute, mehrere Jahre nach Einweihung der beeindruckenden Moschee im bayrischen Penzberg, streben Sie und Ihr Team den Bau eines wesentlich größeren Zentrums in der Landeshauptstadt München an. Wo steht das Projekt derzeit und was sind die größten Hindernisse, die Sie überwinden möchten?
Benjamin Idriz: Zunächst einmal sind es nicht die Hindernisse, sondern die Unterstützung, die das Projekt erfährt, die ich für ausgesprochen bemerkenswert halte. Diese Unterstützung kommt nämlich nicht nur von Muslimen (wo sie selbstverständlich sein sollte), sondern aus der ganzen demokratischen Gesellschaft, aus verschiedenen Religionsgemeinschaften, aus Verbänden, von den Medien und aus allen Fraktionen des Münchner Stadtrats.
Nachdem eine extremistisch-islamfeindliche Minipartei über mehrere Jahre hin versucht hat, Unterschriften gegen das Projekt zu sammeln um damit einen Volksentscheid dagegen herbeizuführen, hat der Stadtrat dies als unzulässig abgelehnt, weil die islamfeindlichen Hetzer nachweislich mit falschen Behauptungen gearbeitet hatten. In derselben Sitzung hat der Stadtrat stattdessen eine Resolution „Solidarität mit den Muslimen in unserer Stadt“ beschlossen!
Das derzeit einzige Hindernis liegt in der Finanzierung. Es wäre natürlich schön, ein solches Projekt mit Spenden von Muslimen (und Nichtmuslimen) aus Deutschland zu realisieren. Für die Grundstücks- und Baukosten wird es aber, wie es scheint, nicht ohne einen oder mehrere Großspender aus der Golfregion gehen. Unsere Anfragen laufen in mehreren Ländern (Oman, Katar, VAE) – hier brauchen wir jetzt dringend baldige Antworten – sonst wird die Chance auf ein repräsentatives und zentral gelegenes Grundstück vergeben.
Islamische Zeitung: In der Vergangenheit haben Sie den Gedanken entwickelt, mit einem eventuellen Zentrum in München auch die Möglichkeit einer, mit anderen europäischen Einrichtungen vernetzt, Ausbildung einheimischer Imame anzubieten. Steht dieser Punkt noch im Blickpunkt Ihrer Bemühungen?
Benjamin Idriz: Das war von Anfang an einer der Hauptgedanken bei diesem Projekt. Dass inzwischen in Deutschland universitäre Zentren für islamische Theologie eingerichtet worden sind, ist eine ausgesprochen positive Entwicklung und entspricht dem, was wir die ganze Zeit befürwortet haben, auch wenn bisher dort ja noch keine Ausbildung für Imame stattfindet. Mit solchen Zentren, und falls möglich auch mit anderen europäischen Einrichtungen, wird unser „Münchner Forum für Islam“ gerne kooperieren – zum gegenseitigen Nutzen. Denn Imam wird man nicht allein durch Bücher und in Hörsälen. Hier braucht es die Einbindung in das „richtige Leben“ einer Gemeinde, die Erdung durch die tagtägliche Praxis. Das MFI könnte hier zum Beispiel die Möglichkeit von Praktika anbieten, die die universitäre Ausbildung (wenn es sie einmal für Imame geben wird) ergänzen.
Islamische Zeitung: Im Rahmen der aktuellen Debatte zur muslimischen Gemeinschaft wurde auch gefordert, Finanzierungen aus dem Ausland, analog zum österreichischen Gesetz, abzuschaffen. Ganz unabhängig davon, dass das sicherlich nicht beim Kampf gegen Radikalisierung helfen dürfte, lässt sich ein Riesenprojekt wie Ihres überhaupt ohne ausländische Hilfe realisieren?
Benjamin Idriz: Hier muss man unterscheiden, für den Erwerb des Grundstücks und für die Baukosten wird es, wie gesagt, ohne ausländische Großspender nicht gehen. Was aber dann den Betrieb des Zentrums angeht, werden Einflussnahmen von außen ausgeschlossen. Es ist ein wesentlicher Bestandteil des Selbstverständnisses dieses Projekts, dass Islam am Hier und Jetzt orientiert sein soll, also da, wo Menschen sich entschlossen haben, ihr Leben zu verbringen und die Zukunft ihrer Kinder und Enkel liegt. Die Bindung an Herkunftsländer war eine notwendige Phase in den ersten Jahrzehnten muslimischer Einwanderer in Deutschland. Aber jetzt muss etwas Neues entstehen, sonst blockieren wir die Zukunft des Islam in Deutschland.
Islamische Zeitung: Gibt es einen Druck auf öffentlich auftretende Gelehrte wie Sie, Rhetorik und Inhalte eines politisch-korrekten Diskurses zu übernehmen?
Benjamin Idriz: Meine Rhetorik und die Inhalte dessen, wofür ich stehe, was ich denke, sage und lebe, entstammen dem Qu’ran und der Sunna. Es geht darum, unsere Quellen in unsere heutige Wirklichkeit zu übertragen und uns ununterbrochen zu fragen: was bedeutet diese oder jene Aussage für uns hier und heute? Daraus resultiert eine sehr weitgehende Übereinstimmung zwischen dem Islam und den Werten einer demokratischen Gesellschaft. Mit Druck von woher auch immer hat das nichts zu tun.
Was wir allerdings schon spüren, ist der ständige Druck, sich gegenüber den nicht enden wollenden Verbrechen zu distanzieren, die im Namen unserer Religion begangen werden. Hier ist es schmerzlich, dass Politik und Gesellschaft nicht wahrhaben, dass uns als Muslime diese Verbrechen genauso selbstverständlich entsetzen, wie andere auch; oder sogar noch mehr, denn es ist schließlich unsere Religion, die von den Verbrechern missbraucht wird. Das eigentliche Problem ist dabei aber nicht der Druck sich zu distanzieren – sondern die Tatsache, dass solche Verbrechen immer wieder verübt werden.
Islamische Zeitung: Sind Sie mit der Rolle zufrieden, die Gelehrte heute in der innermuslimischen Debatte spielen? Es ließe sich ja kaum behaupten, dass diese – und ihr Wissen – einen nennenswerten Einfluss auf die Entscheidungsbildung hätten…
Benjamin Idriz: In den letzten drei Jahren können wir Muslime durchaus ein starkes religiöses Autoritätsdefizit wahrnehmen. Die traditionellen Azhar-Gelehrten sind entweder entmachtet oder stehen unter politischem Druck, wie die Persönlichkeiten Al-Qaradawi oder Al-Tayyib. Hier in Europa war der ehemalige Großmufti von Bosnien Mustafa Ceric eine Stimme, auch er ist nicht mehr in der Position, in der er war. In Syrien ist Said Ramadan Al-Bouti grausam ermordet worden, und so sind in den letzten Jahren die bekanntesten Gelehrten von der Weltszene verschwunden. Leider gehen positive Stimmen, wie die von Mehmet Görmez, dem Religionsoberhaupt der Türkei, in dem großen Trubel unter.
Wo keine Autorität – dort herrscht Chaos. Und dieses Vakuum füllen heute selbsternannte Pseudo-Gelehrte. In Deutschland stehen wir nicht anders da. In dem Maß, in dem neu ausgerichtete Zentren wie eben unser MFI in Deutschland entstehen werden, kann auch das, was an den Universitäten stattfindet, viel mehr an die Basis und in die Gemeinden dringen. Diese Entwicklung kommt gerade erst in Gang, aber sie ist, glaube ich, auf die Dauer sicher nicht aufzuhalten.
Islamische Zeitung: In der Vergangenheit haben Sie sich skeptisch in Sachen des „organisierten Islam“ geäußert. Was hat Ihren Sinneswandel, den Beitritt zum Zentralrat der Muslime, hervorgerufen?
Benjamin Idriz: Meine Gemeinde in Penzberg ist multiethnisch und hat aus dem Zusammenwirken von Menschen mit unterschiedlichen Wurzeln ungeheuer profitiert. Genau das möchte der Islam ja von uns! Deshalb kann sich die Gemeinde als Ganzes keinem ethnisch oder national orientierten Verband anschließen. Der Zentralrat vertritt meines Erachtens eine Ausrichtung, die dem entspricht.
Organisierte Strukturen für die Muslime in Deutschland habe ich schon immer befürwortet; in dem von mir mit herausgegebenen Buch „Islam mit europäischem Gesicht“ wird ein entsprechendes Modell entworfen. Es sollte aber nicht aus mehreren parallelen und womöglich konkurrierenden Verbänden bestehen, sondern aus einer umfassenden, anerkannten Institution.
Islamische Zeitung: Nachdem der KRM an die Wand gefahren scheint, sehen Sie Alternativen für die Zukunft? Wenn ja, welche?
Benjamin Idriz: Wir haben in den letzten Monaten erlebt, dass endlich eine muslimische Stimme in Deutschland sehr viel mehr wahrgenommen wurde, als das früher der Fall war. Das haben wir Muslime doch seit langem ersehnt und auch gefordert. Sollten wir nicht dankbar sein, dass das jetzt zu gelingen scheint und alle gemeinsam den- oder diejenigen nach Kräften unterstützen, die sich mit Erfolg darum bemühen?
Wenn manche diese Entwicklung gerade jetzt torpedieren, ist das ein verheerendes Signal an die Politik und an die Öffentlichkeit: Ihr könnt die Muslime weiterhin ignorieren, ihr braucht sie weiterhin nicht ernst zu nehmen und nicht einzubinden, sie werden sich auf absehbare Zeit selbst blockieren. Hier müssten wirklich alle muslimischen Entscheidungsträger ihre Verantwortung ernster nehmen, als ihre jeweiligen Einzelinteressen.
Islamische Zeitung: Es gibt eine Vielzahl von Aspekten, die im Denkschemata des politisch organisierten Islam nicht vorhanden sind – was sich auch als „muslimische Zivilgesellschaft“ bezeichnen ließe. Wie könnte diese Zivilgesellschaft zukünftig angemessen Beachtung finden?
Benjamin Idriz: Viele Muslime halten sich von Moscheen fern, weil deren Ausrichtung oder Orientierung an andere Ländern sie nicht anspricht. Hier brauchen wir neue Angebote. Diese Angebote können und sollten aber über die Gebete hinausgehen. Seit wir in München einen provisorischen Sitz für das MFI eröffnet haben, ist aus dem Stand eine sehr vitale Gemeinde entstanden, die Muslime anspricht, die teilweise seit vielen Jahren auf so etwas gewartet haben. Dazu gehören nicht nur die Freitagsgebete, sondern soziale Angebote, Vorträge und Diskussionen, die kritisch und offen gehalten werden, sodass sich auch solche angezogen fühlen, die der Religion bisher vielleicht eher noch distanziert gegenüber stehen.
Islamische Zeitung: Ihre Penzberger Gemeinde ist seit Jahrzehnten multikulturell geprägt und bietet umfassende Aktivitäten an. Handelt es sich dabei um das Modell der Zukunft?
Benjamin Idriz: Es wird wohl auch in Zukunft solche Muslime geben, die emotional an der Bindung an frühere Herkunftsländer festhalten wollen, und das kann ja auch sehr wertvolle Aspekte beinhalten. Aber die Zukunft des Islam in Deutschland wird nicht dominant türkisch, bosnisch oder arabisch sein – sonst wäre er tatsächlich kein Teil Deutschlands. Der Prophet Muhammad hat nicht Mekka nach Medina verpflanzt, sondern nach der Hidschra in Medina etwas Neues geschaffen.
Islamische Zeitung: Lieber Imam Benjamin, wir bedanken uns für das Gespräch.
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Der KRM scheint vor der Auflösung – ist das Teil eines Problems, oder eher die Lösung?

(iz). Vor jeder Reflexion oder Kritik am organisierten Islam in Deutschland, muss natürlich für alle beitragenden Akteure zunächst die Selbstkritik stehen. Salopp gesagt, „nobody is perfect“ und es ist für den neutralen Beobachter immer leichter zu kritisieren, als selbst aktiver Teil einer positiven Lösung zu sein. Natürlich ist es aber auch für uns Muslime legitim, sich an den inhaltlichen Debatten zu beteiligen und auch öffentlich auf diverse Widersprüche hinzuweisen. Kein Verband darf sich heute noch ernsthaft über dieses Phänomen beklagen, gerade auch, weil sich viele Verbandsvertreter selbst inzwischen gerne in den Medien positionieren. Eine ganz andere Frage ist es, ob eine echte innerislamische Debatte – im Vergleich zum kühlen Austausch von Pressemitteilungen – immer noch der bessere Weg wäre, um gemeinsam auf dem Teppich zu bleiben.

Wer sollte aber so einen konstruktiven Austausch organisieren? Beinahe ironisch klingt es heute, wenn man hier zunächst an einen „Koordinationsrat der Muslime“ denken sollte. Mit diesem Anspruch, eine Vertretung der Muslime zu sein – und großen Hoffnungen – ist der KRM 2007 an den Start gegangen. Der erste KRM-Sprecher, Ayyub Axel Köhler, erklärte damals selbstbewusst der „Mitteldeutschen Zeitung“: „Wir vertreten viel mehr Leute, als bei uns Mitglied sind.“ Der damalige Generalsekretär des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek, pries ausdrücklich die „Handlungsfähigkeit“, welche die Muslime mit der Gründung des KRM bewiesen hätten. Das war gestern. Die Macher zeichnen sich in diesen Tagen eher durch Wortkargheit gegenüber ihrer eigenen Basis aus und klären kaum öffentlich auf, was die Lage des Rates wirklich ist.

Heute, einige Jahre nach der vollmundigen Ankündigung einer neuen Einheit der Muslime, scheint der KRM nach internen Querelen jedenfalls kaum noch handlungsfähig. Vielleicht wird er künftig nur noch den jährlichen Ramadankalender und eine Pressemitteilung zum Eid-Fest veröffentlichen. Will man verstehen, warum das so ist, muss man sich zunächst über die Konstruktionsfehler des Über-Verbandes klar werden. Tatsächlich ist das Scheitern des zentralen Koordinierungsgremiums der Muslime auf Grundlage des kleinsten gemeinsamen Nenners nicht wirklich überraschend. Dies hat weniger mit den involvierten Persönlichkeiten zu tun, sondern eher mit den oft unreflektierten Techniken der Macht, an die uns der politische Islam über die Jahre gewöhnt hat.

Es wäre tatsächlich ein Feld für sich, über Phänomene wie „islamischer“ Staat und „islamischer“ Verein und den aus diesen Formen entstehenden Habitus grundsätzlich nachzudenken. Hierher gehört auch die Historie der beteiligten Verbände; oft von Immigranten gegründet, die im deutschen Vereinsrecht zunächst die einzige mögliche Organisationsform für ihre muslimischen Anliegen vorfanden. Es ist keine Nebensächlichkeit, dass das eigentlich zentrale Anliegen politischer Formation im Islam, die lokale und unmittelbare Verteilung der Zakat, in dieser Rechtsform gerade nicht nach altem Vorbild umgesetzt wurde. Über Jahrhunderte war die Erhebung und gerechte Verteilung der Zakat die Legitimationsbasis politischer Führung überhaupt. Den organisierten Islam interessierte die korrekte, dezentrale Umsetzung dieser Säule des Dins weniger. Er strebte durch Mitgliedsbeiträge, Zakat-Zahlungen ins Ausland und durch die Mehrung der Vereinsmitglieder in erster Linie nach dem profanen Machtzuwachs, der mittels Vereinsrecht erreichbar schien. Das unterschwellige Machtkalkül der Verbände stellte aber auch die Idee einer echten Einheit der Muslime von Beginn an in Frage.

Da muslimische Vereine sich gerade ihrer inneren Struktur nach und nur über die eigene Machtsteigerung definieren, war die Idee einer politischen Einheit der Verbände von jeher fragil. Bisher war es für jede Organisationen unausgesprochen klar, dass eine Zeitung, die Schule oder die Moschee die „eigene“ sein müsse.

Die Idee einer offenen Infrastruktur dagegen – zum Beispiel Stiftungen, die den Muslimen an sich gewidmet ist und außerhalb der eigenen Machtstruktur verortet wird – blieb diesem Denken naturgemäß fremd. Im Organisationsmuster wurde die Lehre dem politischen Willen der Verbände untergeordnet und die „ökonomischen Akteure“ – zum Beispiel die erfolgreichen muslimischen Geschäftsleute – organisatorisch ausgegrenzt.

Es gab aber noch andere Probleme, die der Koordinationsrat von Beginn an nicht überwinden konnte. Die unterschiedlichen Mitgliederzahlen der Beteiligten hätten jeden demokratischen Prozess in dieser politischen Einheit ad absurdum geführt. Die Folge war ein lähmendes Vetorecht des größten beteiligten Verbandes, der DITIB. Eine starke, gar den Verbänden übergeordnete Führungsebene des Koordinationsrates war aber auf dieser Grundlage des Politischen von vornherein undenkbar; hätte sie doch von einer übergeordneten Ebene aus agieren können. Unter diesen Umständen durfte der KRM weder finanziell, noch personell wirklich erstarken.

Vielleicht wäre es immer noch möglich, etwas guten Willen vorausgesetzt, diese Konstruktionsprobleme durch eine kleinere, aber effektive Agenda zu überwinden. Natürlich könnte zum Beispiel eine würdige Repräsentanz der Muslime in Berlin wünschenswert sein. Nach wie vor gibt es einigen Koordinationsbedarf und nach wie vor gilt das Argument, dass ein Untergang des KRM letztlich auch die gesellschaftlichen Ansprüche der Muslime schwächen würde. Es ist schon jetzt absehbar, das kleinere Verbände leichter gegeneinander ausgespielt werden können. Tatsächlich scheint diese pragmatische Möglichkeit einer pro forma Einheit nun auch durch persönliche Konflikte erschwert.

Der Streit um den agilen, an sich aber relativ kleinen „Zentralrat“ der Muslime (ZMD) unter Führung seines Vorsitzenden, Aiman Mazyek, zeigt hier das aktuelle Dilemma. Seine Stärke sind weniger die großen Mitgliedszahlen, als das „symbolische Kapital“, das sich der Vorsitzende Mazyek über jahrelange Medienarbeit hart erarbeitet hat. Während die türkischen Verbände nur langsam und mühsam eine Sprache für den Diskurs fanden, hat Mazyek längst schon viele unterschiedliche Themenfelder auf öffentlicher Bühne besetzt.

Nicht immer ist der Entscheidungsprozess dabei transparent und oft wirkt es für Außenstehende, als würde hier sogar im Namen aller Muslime gesprochen. In der letzten Pressekonferenz des ZMD – aufgeschreckt durch Angriffe der Partnerverbände, die den Vorwurf lanciert hatten, der ZMD würde sich auf Kosten aller Muslime profilieren – stellte Mazyek dann klar, dass man keinen Anspruch auf Vertretungsmacht aller Muslime stelle und sich zunächst eben alleine entwickeln wolle. Und – etwas gönnerhaft – fügte die Vizechefin des ZMD Soykan hinzu, es könnten ja auch die anderen Verbände die öffentliche Bühne suchen.

So tritt Mazyek weiter auf, hält Festreden auf der Dresdner Opernbühne, diskutiert mit dem DFB, bekommt das „Seniorensiegel“ verliehen und ist so beinahe täglich in den Medien präsent. Spätestens seit seinem Ausflug mit Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel, einem Duzfreund Mazyeks, in die Golfregion, begegnet dem umtriebigen ZMD-Chef dabei auch des Öfteren Neid und Missgunst. Sachlicher wirkt die Kritik, dass er – übrigens ähnlich wie SPD-Chef Gabriel – recht sprunghaft Positionen und Themen wechselt. So war bei seinem heftig kritisierten Vorstoß für ein Islamgesetz nach österreichischem Vorbild schnell nicht mehr klar, ob er denn ursprünglich dafür oder dagegen war. Allerdings wirkte sein Seitenhieb gegen die Fremdfinanzierung türkischer Imame dann schon wie das bewusste Durchtrennen der Freundschaftsbande mit den türkischen Partnern.

Es ist keine Frage, dass Aiman Mazyek immer wieder die muslimische Sache wortgewaltig vertritt. Sein Gespür für die Situation, zum Beispiel bei der Organisation der Berliner Mahnwache gegen den Terrorismus, die er mit Unterstützung großer Parteien perfekt inszenierte, rechtfertigt noch keine Ablehnung. Er hat auch Recht, wenn er postuliert, dass Muslime in Deutschland endlich ankommen müssen. Es wäre sogar logisch und für alle Muslime naheliegend, dass er mit seinen Talenten auch dem Koordinationsrat etwas mehr Leben verleiht. Nur, auch hier holt ihn eben die Logik der Machtansprüche wieder ein.

Die türkischen Verbände fürchten, dass ein agiler KRM-Sprecher oder selbstbewusster Generalsekretär inhaltliche Fakten schaffen könnte. Gleichzeitig hört man aus den Reihen der DITIB, dass man an einem zentralen Verband sowieso wenig Interesse habe; man befürchte eine Art kirchliche Struktur, die dem pluralen Charakter des Islam eben nicht entspreche. So sagt man wohl in diplomatischen Worten Adieu zu den Bemühungen, übergeordnete Koordination weiter gedanklich zuzulassen.

Im Ergebnis wird wohl jeder wieder für sich bleiben und ZMD-Boss Mazyek wird so künftig – wie bereits angekündigt – in erster Linie den Ausbau des Zentralrats vorantreiben. Im schlimmsten Fall wird er dabei als geschickter ­Stratege, und mit entsprechender Medienunterstützung, das Markenzeichen „liberal“ für seinen Verband beanspruchen und die antiquierte Dialektik „Konservative gegen Liberale“ für sich und seine Organisation nutzen. Die so überfällige wie mühsame Einebnung der des­truktiven Logik von „Liberalen gegen Konservative“ wäre damit „politisch“ wieder aufgehoben.

Was also tun? Vielleicht ist es de facto einfach ehrlicher, die plurale Struktur unserer Gemeinschaften zu akzeptieren. Zumindest das Ausloten gemeinsamer Interessen sollte dies natürlich nicht ausschließen. Es droht damit die weitere Verödung der innerislamischen Diskussionen, schon jetzt drehen sich die Verbände viel zu sehr um sich selbst. Andererseits, ist es vielleicht auch einfach an der Zeit, die gewohnte Bevormundung durch politische Vereine und den facettenreichen politischen Islam an sich in Frage zu stellen. Es erinnern sich viele schließlich an die zeitlose islamische Weisheit: „Wer die Macht für sich will, ist dafür am Wenigsten geeignet.“

Für nicht wenige Muslime sind es bereits heute die anderen, unverzichtbaren Elemente islamischen Zusammenlebens – wie Stiftungen, NGOs und unabhängigen Gemeinden –, die Querverbindungen zwischen den Muslimen herstellen, sich bewusst dem Machtspiel entziehen und wichtiger geworden sind, als der ewige Tanz um die Macht.

Eine anderer Trend kündigt sich ­ebenso an. Viele junge Muslime an der Basis können mit dem Zentralismus der 1980er Jahre wenig anfangen. Sie sind in Deutschland zu Hause und leben auch nicht mehr mit der Logik ethnischer Trennlinien. Sie wollen etwas vor Ort tun, keine Bürokratie aufbauen und nicht nur Befehlsempfänger sein. Als Organisationsmodell der Basis, die den höchsten gemeinsamen Nenner sucht, wie die Zakat, bietet sich von jeher das Umfeld lokaler Moscheegemeinden an. Den jungen Leuten geht es dort weniger um Repräsentation, als um die alltäglich gelebte und immer mögliche Erfahrung der Einheit im Rahmen überzeugender Wissensvermittlung. Wenn sie Parteiatmosphäre erleben wollen, dann gehen sie eben gleich in die Politik. Eine starke, „verjüngte“ Basis wird auch ohne Mühe die Verhältnisse umkehren; also von unten nach oben ermächtigen, statt von oben nach unten dominiert zu werden.