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Der Idealismus der Freiheit ist in Gefahr

Selbstkritisch muss hier gefragt werden, warum der sogenannte politische Islam heute in verdächtigen Relationen steht zu Phänomen wie Bürgerkrieg, Diktatur und Terrorismus. Angesichts autoritärer Regime, die sich mit dem Adjektiv „islamisch“ schmücken, werden sich auch Muslime wohl wieder an das ursprüngliche, griechische Ideal der Freiheit erinnern: die Ablehnung jeder Form der Tyrannei.

(iz). Es war ein kurzer Moment der Euphorie. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands und dem Untergang des kommunistischen Systems schien es so,  als wäre das westliche Modell der freien Marktwirtschaft, der Menschenrechte und der Demo­kra­tie nicht mehr aufzuhalten. Heute ist von dieser Euphorie nur noch wenig zu spüren. Die globalen Märkte weisen heute die nationalen Demokratien in ihre Schranken, Millionen Flüchtlinge erinnern an die Verwerfungen des globalisierten Kapitalismus und die ökologische Krise bedroht den Bestand der Menschheit an sich.  Das neue Gesellschaftsmodell eines autoritären Kapi­talismus stellt zudem die alte These in Frage, dass wachsender Wohlstand automatisch mit demokratischen Entwicklungen einhergehen muss.

In den letzten Wochen schockierte die Weltöffentlichkeit der chinesische Umgang mit der muslimischen Minderheit der Uiguren. Über eine Million dieser Menschen soll inzwischen in Umerziehungslagern leben. Dabei benutzt die chinesische Regierung ein ausgeklügeltes Überwachungssystem, dass unter anderem Kameras benutzt, die Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit und Hautfarben analysieren können. In China verbindet sich nicht nur, in einer paradoxen Gleichung, der Kommunismus mit ­autoritärem Staatskapitalismus, sondern es zeigt sich auch eine Herrschaft an, die die Möglichkeiten modernster Sozialtechniken skrupellos nutzt.

Das signifikante Schweigen der westlichen Regierungen gegenüber gröbsten chinesischen Menschenrechtsverlet­zungen erklärt sich nicht nur allein aus der ökonomischen Bedeutung Chinas für die Weltwirtschaft. Hier zeigt sich auch eine tiefe Verunsicherung über das Wesen der Freiheit in unserer Zeit. Bei aller nun notwendigen Kritik am ­Modell Chinas, gilt es ein Bewusstsein zu schaffen, dass auch in westlichen ­Gesellschaften der alte Idealismus der Freiheit in Gefahr ist.

In diesen Tagen legt der Philosoph ­Richard David Precht seinen dritten Band der Geschichte der Philosophie vor. Das Buch behandelt das 19. Jahrhundert und verweist direkt auf die Grundlagen der Theorien um die politische Freiheit seit dem Höhepunkt der Aufklärung, der französischen Revolution. Für Precht ist das Problem Chinas mit der Freiheit nichts anderes als die ­eigene Frage als Gestalt. Er legt den Finger in die Wunde: „Wer weiß“, schreibt er, „ob die Positivisten des Silicon Valley, die den Fortschritt anbeten, wie es ehemals Comte tat, die westlichen Demokratien langfristig durch Sozialtechnik ersetzen?“

Während in China jede Idee von ­Widerstand und zivilgesellschaftlicher Freiheit ad absurdum geführt wird, ­werden in westlichen Gesellschaften Stimmen laut, die die Bedrohung der Freiheit im technologischen Zeitalter ernst nehmen. Genau genommen, und hier besteht der Unterschied zu den ­Debatten des 19. Jahrhunderts, ist es nicht nur der Staat, der heute unsere Freiheit bedroht, sondern ebenso neue zivile Akteure. „Die Konzerne“ so warnt Amnesty International in Anspielung auf die Macht digitaler Unternehmen „hätten ein privates Überwachungsre­gime geschaffen, das sich der unabhängigen öffentlichen Kontrolle weitgehend entziehe“.

Die alte Frage nach der negativen und positiven Freiheit, die sich schon die Philosophen Aristoteles und Kant stellten, betrifft heute nicht mehr allein das Verhältnis zwischen Bürger und Staat, sondern auch die Beziehung zwischen Bürgern in aller Welt und den digitalen Konzernen. Das Verhältnis von negativer Freiheit, also vom Staat nicht drangsaliert zu werden, und die positive Freiheit an gesellschaftlichen Prozessen teilzunehmen, zu bestimmen, war eines der großen Themen des 19. Jahrhunderts. Im 21. Jahrhundert stellt sich die Frage des Verhältnisses von Technik und Freiheit neu.

Fakt ist, die technologische Revolution, lässt man sie einfach gewähren, nimmt auf die Freiheit seiner Nutzer keine Rücksicht. Aber wollen die Nutzer selbst überhaupt noch frei sein? Der Bürger unserer Zeit wird nicht nur von staatlichen und privaten Akteuren überwacht, er liefert auch selbst „freiwillig“ die Daten zur eigenen Kontrolle und Steuerung. Dieser paradox anmutende Umstand alarmiert Denker wie Byul Chun Han. In seinem Buch „Psychopo­litik“ warnt er nun, dass „die Freiheit eine Episode gewesen sein könnte“.

In einem Interview mit der ZEIT ­erklärt Han die neuen Verhältnisse. Freiheit ist für Han eine Gegenfigur des Zwanges. Wenn man den Zwang, dem man unbewusst unterworfen sei, als Freiheit empfinde, so der Denker, sei dies jedoch das Ende der Freiheit. Die Pointe für den Philosoph ist hier, dass der moderne Mensch, in seiner Funktion als Datenträger, seine eigene Situation nicht als Unfreiheit begreift und daher auch nicht mehr zum Widerstand fähig sei. Im Ergebnis sieht Han das ­Problem der Big-Data-Kultur weniger in dem Phänomen der Überwachung, ­sondern vielmehr in der möglichen Steuerung des menschlichen Willens. „Wenn aber der Wille gesteuert ist“, so fragt er, „was heißt dies für unsere Freiheit überhaupt?“

Es sind aber nicht nur technologische Innovationen die den Idealismus der Freiheit heute mehr oder weniger subtil bedrohen. Während im 19. Jahrhundert sich politische Formationen bilden, die auf unterschiedliche Weise das Ideal der politischen Freiheit umsetzen wollten, ist heute die gesellschaftliche Dynamik weniger durch große Hoffnungen, als durch große Sorgen geprägt.

Peter Sloterdijk hat hier den eigentümlichen Begriff der „Stressgemeinschaft“ geprägt. Politische Gemeinschaften, so der Denker, werden heute durch Stress und  Ängste geprägt, die sich nicht zuletzt aus den alltäglichen Erregungsvorschlägen der Medien ergeben. Hierbei spielt weniger die Vernunft, als die Emotion der gefühlten Wahrheiten eine mobilisierende Rolle. Die Folgen für den Freiheitswillen sind dabei nicht zu übersehen, denn, so scheint es zumindest, die gestressten Bürger sind zunehmend bereit Einschränkungen ihrer Freiheit weitläufig zu akzeptieren. Wer heute Angst vor Terror, Überfremdung oder dem ökologischen Untergang hat, ruft zumeist auch nach mehr Staat, mehr Grenzen und größerer Kontrolle über die gesellschaftlichen Entwicklungen.

Zur Ergänzung dieses Bildes passt auch der Ruf nach „ökologischen Notstandsgesetzen“, die den Umstand reflektieren, dass demokratische Prozesse angeblich zu langsam seien, um den ökologischen Untergang der Menschheit zu verhindern. Autoren wie Peter Seele warnen vor diesem Trend: „Die Freiheit der Gedanken und ihrer ethischen Reflexion hingegen gilt es prioritär zu schützen, denn diese Freiheit könnte in nicht symbolischen Notstandsregimen morgen vielleicht nicht mehr vorhanden sein, ganz gleich, wie gut gemeint diese einmal gewesen sein können.“

Das Dilemma ist augenscheinlich. In Zeiten der Angst, Überforderung und des Stresses wenden sich Menschen wieder einfachen Lösungen und Ideologien zu. Emotionen, Wut und Intoleranz eröffnen darüber hinaus Perspektiven, die der Idee der Bildung gemeinsamer ­Vernunftentscheidungen innerhalb der Demokratie offen entgegenstehen.

„Die Wut der Öffentlichkeit“, schreibt Thomas Pany auf „telepolis“ über das Wutbürgertum, „treibt häufig bis zum Nihilismus, an den Glauben, dass die Zerstörung des Establishments eine Form des Fortschritts ist, selbst wenn keine Alternative vorgeschlagen wird.“

Eine der provokanten Figuren des 18. Jahrhunderts, Jean Jacques Rousseau, hat in seinen „Träumereien eines einsamen Spaziergängers“ einen eigenartigen menschlichen Zustand beschrieben. Der Denker rudert über einen See, legt sich hin und lässt sich auf den sanften Wellen leicht schaukelnd treiben. In diesem Moment, ohne Gott, ohne Absichten und ohne politischen Willen habe er vollkommenes Glück erfahren. Dieser Zustand, den man heute als stressfreies „chillen“ oder „relaxen“ beschreiben würde, war schon zu Zeiten Rousseaus eine Provokation für jede Idee gemeinsamer Politik.

Es ist ein Zustand, der heute viele Menschen, trotz der Gefahr neuer Ideologien und der bewussten oder unbewussten Aufgabe der Freiheit, bes­chreibt. Neben dem stressfreien Ruderer liegt heute ein Smartphone. Die Bewahrung politischer Freiheit, dies zeigt der Blick in die Geschichte, verträgt sich aber nicht mit allgemeiner Sorglosigkeit, ­sondern muss immer wieder neu den Zumutungen des Realen abgeronnen werden.

Das Engagement für die Freiheit ist von jeher ein Kernbestand menschlichen Daseins. Muslimisches Verhalten war über Jahrhunderte von der einfachen Gewissheit geprägt, dass das Göttliche uns beobachtet. Die Frage nach der Technik und ihren neuen Implikationen auf unser Leben fordert nun denkende Muslime heraus. Wie stehen eigentlich Muslime zu der Idee der Freiheit im 21. Jahrhundert, was prägt unser zivilgesellschaftliches Engagement und wie positionieren wir uns grundsätzlich innerhalb des technologischen Projektes? Hier beginnen spannende, nicht nur politische Diskussionen, an denen wir uns stärker beteiligen sollten.

Das Beispiel der Uiguren in China zeigt jedenfalls, dass es sich lohnt für seine positive Freiheit und gesellschaftliche Beteiligung einzusetzen. In den Debatten um den Idealismus der Freiheit gilt es für uns nicht zuletzt die ­Erfahrungen der letzten Jahrzehnte zu verarbeiten.

Selbstkritisch muss hier gefragt werden, warum der sogenannte politische Islam heute in verdächtigen Relationen steht zu Phänomen wie Bürgerkrieg, Diktatur und Terrorismus. Angesichts autoritärer Regime, die sich mit dem Adjektiv „islamisch“ schmücken, werden sich auch Muslime wohl wieder an das ursprüngliche, griechische Ideal der Freiheit erinnern: die Ablehnung jeder Form der Tyrannei.

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Ich und Wir

(iz). In diesen Wochen ist ein neues Buch von Rüdiger Safranski erschienen. Nach seiner brillianten Goethe-Biographie „Kunstwerk des Lebens“ legt Safranski nun eine Einführung in die großartige Dichtung Friedrich Hölderlins vor. Hölderlin blieb zwar zeitlebens ein Außenseiter und erreichte nie die Bedeutung eines Schillers oder Goethes, für das Verständnis der deutschen Geistesgeschichte ist er aber überaus bedeutsam.

Besonders deutlich wird dies im wichtigen siebten Kapitel des Buches. Safranski schildert dort das Verhältnis des Dichters zur Ich-Philosophie Fichtes. Der 1762 geborene Philosoph rückte das „Ich“ endgültig in den Mittelpunkt seiner Erkenntnis und Weltanschauung. „Aller Realität Quelle ist das Ich“ erklärte Fichte und folgerte „alle Realität des Nicht-Ich ist lediglich eine aus dem Ich übertragene“. Ohne das lebendige Subjekt ist für Fichte eine Erkenntnis von Objekten schlechthin undenkbar. Hölderlin stand dieser Entwicklung im Denken des aufgeklärten Menschen einerseits fasziniert, aber auch andererseits nachdenklich gegenüber. Er blieb insbesondere skeptisch gegenüber dem neuen Anspruch des Denkens das Absolute fassen zu können.

In einem absoluten Ich könne es kein Bewusstsein geben, argumentierte der Dichter, denn nur das Bewusstlose ist grenzenlos. Die Einheit von Subjekt und Objekt könne letztlich nicht von einem Denken umfasst werden. Seine Dichtung stand nun unter dem Anspruch den Zugang zum Absoluten neu zu eröffnen, das Gegenständliche aufzuheben und eine Sprache für dieses Ereignis zu finden. Den neuen Ich-Kult seiner Zeit wollte Hölderlin mit seiner Dichtung über die Götter der Antike, die Natur und die Liebe ergänzen und überhöhen.

Im 20. Jahrhundert erinnerte vor allem Martin Heidegger, mit seiner Kritik an der modernen Seins-Verlassenheit, an das lebenslange Bemühen Hölderlins, die Anrufung des absoluten Seins in den Mittelpunkt seiner dichterischen Erfahrung und Erzählung zu rücken. „Wo Subject und Object schlechthin …vereinigt ist…., da und sonst nirgends kann von einem Seyn schlechthin die Rede sein, wie es bei der intellectualen Anschauung der Fall ist“, schrieb Hölderlin. Heidegger und Hölderlin stimmten überein, dass für diese Erfahrung der Einheit allen Seins eine geistige Bemühung notwendig ist. Die heute populär gewordene Frage nach der Identität, in Form des Identitätssatzes A=A, konnte für beide Denker niemals an die Höhe des Absoluten reichen. Jede erfolgreiche Identitätsfindung muss in den engen Grenzen menschlicher Selbstreflexion verharren. Es gibt dagegen keine Identi­tät, die mit dem absoluten Sein gleichzu­setzen wäre.

Hölderlin blieb zeitlebens zerrissen, zwischen seinen glücklichen Momenten anwesender Göttlichkeit und den Niederungen des Nichts, dem Ausbleiben jeder Transzendenz und Erfahrung höheren Seins. „Je angefochtener wir sind vom Nichts, das, wie ein Abgrund um uns her angähnt, oder auch vom tausendfachen Etwas der Gesellschaft und der Tätigkeit der Menschen, das gestaltlos, seel- und lieblos uns verfolgt, zerstreut, um so leidenschaftlicher und ­heftiger und gewaltsamer muß der Wide­rstand von unserer Seite werden“, schrieb er 1797. Es sind diese Sätze, die seiner Auseinandersetzung mit dem Nihilismus in einer Welt ohne Gott und der Anrufung höheren Seins Ausdruck verleihen. Sie klingen bis heute nach und es ist das Verdienst Safranskis an diese wichtige Epoche des deutschen Denkens zu erinnern.

Wie wir heute wissen, konnten weder Schiller, Goethe oder Hölderlin und das sie begleitende Bildungsbürgertum das Abdriften des deutschen Denkens hin zum Nationalismus und Rassismus verhindern. Die Nationalsozialisten schafften einen „Wir“-Kult, betrieben nicht nur eine weltfremde Selbstvergötterung, sondern reduzierten das menschliche Sein auf die biologische Herkunft und seinen Willen zur Macht. Politisch führten diese Machenschaften in die Verheerungen der deutschen Rassenpolitik, in die monströsen Verbrechen der Judenverfolgung und endeten schließlich in der Trostlosigkeit des Zweiten Weltkriegs. Bis heute dominieren diese geschichtlichen Erfahrungen die Debatten um das Verhältnis von Ich und Wir, ­Individualität und Kollektivismus.

Die Frage nach dem „Ich“ und seiner Positionierung in einer gottverlassenen Welt führte später in die Strömungen des Existentialismus. Heidegger versuc­hte das Ich, das den Objekten der Welt dialektisch gegenüber steht, in einer Philosophie des Daseins aufzulösen. Ohne die Bindung an das Sein drohte aus Sicht Heideggers die Verödung und letztlich komplette Zerstörung der Welt. Ähnlich wie Hölderlin versuchte Heidegger dabei, das Ereignis der Rückkehr der Götter durch eine neuartige Sprachphilosophie vorzubereiten. Die Desillusionierung über die Möglichkeiten menschlicher Macht kam auch aus dem Feld einer neuen Wissenschaft: der Psychologie. Freud, mit seiner Psychoanalyse, zerstörte die Idee, dass das „Ich“ überhaupt der bestimmende Herr im eigenen Hause sei. Statt dem Ich war es nun das Es, das – aus seiner Sicht – im Mittelpunkt der Dynamik stand. Die neue zivilisatorische Aufgabe der politischen Kollektive bestand nunmehr, die destruktiv-triebhaften Neigungen des Menschen einigermaßen im Zaum zu halten.

Seit dem Ersten Weltkrieg drang auch mehr und mehr die atemberaubende Dimen­sion moderner Technologie für die Identität des Menschen in das Bewusstsein. Die totale Mobilmachung und die globale Rolle des „Arbeiters“ im Kleid der Technik wurden Gegenstand berühmter Bücher von Ernst Jünger. Die alte Idee Fichtes, eines souveränen und absoluten Ichs, wurde, angesichts der Entwicklungen der Moderne, zunehmend obsolet. Die moderne Philosophie regte zur letzten Frage an, ob der Mensch wirklich die Technik, oder aber die ­Technik vielmehr den Menschen bestimme. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts, inmitten der weltweiten Datenrevolution, ist der Mensch inzwischen in erster Linie Konsument, User und Datenträger geworden. Zu den Herausforderungen moderner Demokratien gehört nun das Ich und das Wir, gegenüber dem Sog moderner Technologien und dem sich daraus ergebenden Menschenbild auszubalancieren.

Angesichts der dramatischen Entwicklungen seit der deutschen Klassik verwundert es nicht, dass die alte Frage „Wer bin ich?“ heute wieder in aller Munde ist. Spannend ist dabei, den Versuch zu wagen, die Muslime in ihrem Selbstverständnis in diese Debatten einfügen. Auch hier taucht das menschlich-allzumenschliche Spannungsfeld zwischen Ich und Wir, Individualität und Kollektivität auf. Um das Phänomen deutscher Muslime tiefer zu fassen,­ ­drehen wir uns zudem um gleich zwei signifikante Fragestellungen: „Was ist deutsch?“ und „Was ist der Islam?“

Moderne Gesellschaften, zumindest in ihrer Mehrheit, haben sich längst von einer biologisch definierten Identität abgewandt. Sie versuchen die Freiheit des Individuums gegenüber den Ansprüchen der Mehrheit abzusichern und das von uns politisch Gewollte mit dem Instrument demokratischer Wahlen festzustellen. In diesem Kontext haben Muslime den Aggregatzustand des Bürgers angenommen, der in gebotener Selbstverständlichkeit auf seine Rechte pocht und seinen Pflichten nachkommt. Gleichzeitig versuchen Muslime auch philosophisch ihre Lebenspraxis in die deutsche Erzählungen über das Wesen der Identi­tät einzuordnen.

Muslime sind sich einig, dass ein umfassendes Verständnis des Islam, seine komplexen Grundlagen berücksichtigen muss. Diese ergeben sich aus Islam, Iman und Ihsan, seinen rechtlichen, religiösen und spirituellen Dimensionen. Bei den aktuellen Identitätsdebatten wird oft übersehen, dass im Kern der spirituellen Erfahrung von Muslimen die Auflösung der Identität steht. Das Ereignis spiritueller Erfahrung dreht sich gerade um die Möglichkeit der Auflösung aller Subjekt-Objekt Beziehungen. Hier liegt der Grund, warum Muslime gerade in der deutschen Dichtung, von Goethe bis Schiller, ihre spirituellen Einsichten durchaus wiedererkennen können. Auch das Bekenntnis Goethes, der Nationalismus sei die unterste Stufe der Kultur, findet in der islamischen ­Lebensauffassung tiefe Bestätigung. Wie stehen aber Muslime zu den Fragen des „Ich und wir?“. Der Islam geht dabei nicht nur von der Eigenverantwortlichkeit des Menschen gegenüber seinem Schöpfer aus, sondern sieht den Menschen als ein soziales Wesen in seiner Angewiesenheit auf die Existenz Anderer an. Jahrhundertelang wurde durch die Einräumung der Rechte von Anderen – seien es Minderheiten oder Andersgläubige – ein umfassendes Gemeinwesen und friedliches Zusammenleben überhaupt erst ermöglichte.

Die moderne Idee absoluter Raumbeherrschung oder totaler, gar faschistoider Machtübernahme ist dem Islam dabei zutiefst wesensfremd. Das Unwesen des „islamischen“ Staates in neuerer Zeit ­erinnert dabei an ein berühmtes Wort Hölderlins: „Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, daß ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte.“

Es wäre naiv zu übersehen, dass die Muslime in Deutschland noch nicht ein Teil eines neuen „Wir-Gefühls“ sind. Die gesellschaftlichen Probleme in diesem Kontext sind bekannt. Muslimische Organisationen, die noch immer auf ­ethnische Trennungen setzen, sind genauso antiquiert, wie die mangelnde ­Bereitschaft der Gesellschaft Muslime endlich als gleichberechtigte Bürger anzuerkennen. Der sogenannte „politische“ oder „organisierte“ Islam hat bisher nicht zweifelsfrei überzeugen können, dass es ihm nicht um die Übernahme des Staates, sondern allein um die Stärkung der Zivilgesellschaft geht.

Zu einem neuen „Wir-Gefühl“ ­könnten hier aber die Wiederbelebung der, in Vergessenheit geratenen islamischen Organisationsformen und ihre dahinter stehende Philosophie beitragen. Denken wir zum Beispiel an die Stiftungen oder die Gilden. Mit diesen wären beispielsweise zwei Instrumente genannt, die die Identität von Muslimen über Jahrhunderte entscheidend ausgemacht haben. Ihre berufliche und soziale Kompetenz, im Dienste aller Bürger und nicht nur alleine die politische Mobilisierung standen bei diesen Instrumenten im Mittelpunkt. Der ganzheitliche Ansatz, der sich in diesem Argu­ment widerspiegelt, kann aber nur gefunden werden, wenn sich Muslime wieder auf alle ihre Seins-Möglichkeiten besinnen.

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Der Kampf um die Bürgerlichkeit

(iz). „Der Staat ist eine Gemeinschaft gleichberechtigter Bürger zum Zweck der Erfüllung der besten Lebensführung“, heißt es bei Aristoteles, dem Begründer der europäischen Politikwissenschaften. Das alte Griechenland mit seinen Stadtstaaten lieferte die Bühne für die Gründung der ersten Demokratien und einer ersten Idee von Bürgerrechten. Heute ist die Lage komplizierter. Der Begriff des Bürgers und des Bürgerlichen ist Gegenstand vieler Debatten: was macht den Bürger aus? Wer ist überhaupt Bürger und unter ­welchen Voraussetzungen nimmt man am demokratischen Gemeinwesen teil?

Das moderne Staatsbürgerrecht der Bundesrepublik hat den Begriff verfeinert, teilweise neu definiert. Es spielt keine Rolle mehr ob man eine Frau ist, einen Immigrationshintergrund hat, oder welcher Religion man angehört. Das Grundgesetz geht grundsätzlich von der Gleichberechtigung aller Bürger aus, solange sie den Gesetzen des Landes ­folgen und die sich daraus ergebenden Pflichten einhalten. Auch wenn die rechtliche Definition des Bürgers eindeutig ist, hat sich dennoch ein politischer Streit um das Wesen des Bürgerlichen entzündet.

Spätestens seit der Flüchtlingskrise 2015 spielt das wachsende Bewusstsein über die Existenz von neuen und alten Bürgern muslimischen Glaubens eine Rolle. Ihr wachsendes Selbstbewusstsein, selbst deutsche Bürger muslimischen Glaubens zu sein, provoziert Teile der deutschen Gesellschaft. Fakt ist, die große Mehrheit der in Deutschland ­lebenden Muslime nimmt ihre Bürgereigenschaft ernst und grenzt sich insoweit von einer Minderheit von Fundamentalisten und Extremisten ab, die sich ausdrücklich nicht als Bürger definieren wollen. Die meisten Muslime sind nicht nur bereit die Verfassung zu achten, Steuern zu bezahlen oder zu wählen, sie beanspruchen auch verfassungsrechtlich abgesicherte Rechte, unter Anderem ihre Religion auszuüben, sich zu organisieren oder Moscheen zu bauen.

Inzwischen ist es vor allem die AfD, die die Möglichkeit eines muslimischen Bürgertums mehr oder weniger offen ablehnt. Ironischerweise unterliegt sie selbst dem Vorwurf keine bürgerliche Partei zu sein und zumindest in Teilen ein legalistisches Verhältnis zur Demokratie zu pflegen. In der WELT ist ein Streit zu diesem Thema, zwischen dem AfD-Sprecher Alexander Gauland und dem Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt dokumentiert. Gauland behauptet in seinem Beitrag, dass es den Bürger in der islamischen Vorstellungswelt nicht gebe, sondern nur den Glaubensbruder als Teil der Umma. Die These basiert auf der Binsenweisheit, dass es im Ursprung des Islam, ebenso wie zu Beginn des Christentums, noch keinen Begriff des Bürgertums gab. Er unterstellt gleichzeitig, dass die Muslime, quasi als ewige Fundamentalisten, nicht in der Lage seien mit neuen politischen Realitäten umzugehen. Gönnerhaft fügt Gauland hinzu, dass zwar der einzelne Muslim auch ein normaler Staatsbürger sein könne, aber die Implementierung muslimischer Strukturen verantwortungslos sei. Poschardt erinnert dagegen in seiner Replik an die andere Seite der Realität muslimischer Präsenz in Deutschland: „Dass in Elitegymnasien ebenso wie in Verla­gen, Kliniken oder Notarskanzleien muslimische Bürger zum Besten, Inspirierendsten, Weltoffensten, Liberalsten gehören, was dieses Land zu bieten hat – dazu fehlt Gauland die Vorstellung.“

Die AfD, ähnlich wie die FPÖ in ­Österreich, fordert nicht offen die Abschaffung des Religionsverfassungsrechts, wohl aber das Verbot des politischen ­Islam. Es ist genau dieser Begriff des Politischen, der im Zentrum aller Debatten über die Existenz muslimischer Bürger steht. Die Logik der islamkritischen Stimmen ist zunächst simpel. Jeder Bürger, unabhängig von seiner Konfession, darf sich grundsätzlich für politische Ziele einsetzen, allerdings, nicht für Ziele des politischen Islam. In der FAZ definieren die Politikwissenschaftler Heiko Heinisch und Nino Scholz die – aus ­ihrer Sicht – eindeutige Absicht des ­politischen Islam: die Abschaffung der Demokratie und die Errichtung eines weltweiten islamischen Staates unter ­einem Kalifat. Natürlich ist in dieser These impliziert, dass diese Absichten nicht bürgerlich sein können.

Eine Kritik am Begriff des „Islamismus“ war bisher, dass die Schnittmenge der „Islamisten“ undifferenziert Verbrecher und Mörder, aber auch beispielsweise einfache Funktionäre des organisierten Islam umfasst. Die Zweiteilung in „militante“ und „legalistische“, also mit friedlichen Mitteln agierende, „Islamisten“ soll hier Abhilfe schaffen. Dabei ist es nicht das angebliche Ziel, dass diese Muslime trennen soll, wohl aber die Methodik. Während die Einen offen kämpfen und agitieren, soll die andere Gruppe die Gesellschaft „nur“ unterwandern. „Legalistische Islamisten nutzen die Möglichkeiten des demokratischen Rechtsstaat, aber es wäre ein fataler ­Irrtum in ihnen Demokraten zu sehen“, schreiben die Autoren in der FAZ ­abschließend.

Zweifellos sind militante und gewaltbereite Muslime in der deutschen muslimischen Gemeinschaft weitgehend ­isoliert. Darüber hinaus ist es leichter den Verdacht zu äußern, als wirklich zu ­belegen, dass eine relevante Zahl von Muslimen tatsächlich die Abschaffung der Demokratie plant und eine Etablierung eines Kalifats anstrebt. Viele Statistiken, die die angebliche politische Einstellung von Muslimen prüfen, sind hier wenig differenziert. Auch wenn die Existenz radikaler Muslime kaum ­geleugnet werden kann, die reale Möglichkeit einer derartigen Islamisierung der deutschen Gesellschaft liegt wohl eher auf der theoretischen Ebene. Die Angst vor dem Islam bleibt gleichzeitig ein wichtiges Element rechter Mobilisierung.

Das praktische Problem liegt auf der Ebene des organisierten Islam in Deutschland. Sind diese Strukturen wirklich, folgt man der obigen Theorie, Teil des legalistischen, politischen Islam, ihre Mitglieder per se keine Bürger und keine Demokraten? Wer entscheidet darüber und wer erforscht die geheimen Absichten dieser Menschen? Susanne Schröter fordert in ihrem neuen Buch über den „politischen Islam“ nicht nur den Abbruch der Beziehungen des ­Staates zu den islamischen Verbänden. Sie sieht in ihrem Text die islamisch geprägte Welt überhaupt am Scheideweg. Sie folgert: „ein Teil der Muslime ist entschlossen, am Aufbau der säkularisierten Welt festzuhalten, ein anderer Teil treibt die Durchsetzung einer islamistischen normativen Ordnung voran“. Später ­gesellen sich zu dieser Vorstellung weitere Begriffspaare, der eine Teil dieser zwei Gruppen ist aus Sicht Schröters liberal, der andere Teil konservativ. Sie schreibt weiter, in diesem Sinne des „Entweder-Oder“: „Es gibt konservative und liberale Muslime, rückwärtsgewandte Funda­mentalisten und progressive Erneuerer, patriarchalische Hardliner und aufmüpfige Feministinnen.“

Da der Vorwurf, dem politischen ­Islam angehörig zu sein, mit erheblichen sozialen Folgen einhergeht, flüchten viele Muslime in Deutschland in das Private oder aber sie gründen neue Organisationsformen des politisch korrekten Islam, der sich ganz ausdrücklich zur Liberalität und Demokratie bekennt. Die neuen Strukturen sind ein Ausdruck der po­litischen Unzufriedenheit gegenüber dem mangelnden Reformwillen der Verbände. Ob damit der generelle Argwohn gegenüber organisierten Muslimen schwindet, oder sich die Misstrauenskultur gegen jede muslimische Organisationsform durchsetzt, ist eine offene Frage. Nicht zu übersehen ist allerdings, dass das politische Bekenntnis inzwischen als wichtiger Teil der Religionsausübung angesehen wird.

Letztendlich führt die Debatte um den politischen Islam und die Bürgerlichkeit auch bei Muslimen immerhin zu einer grundsätzlichen Selbstreflexion: Was ist der Islam? Was ist Deutsch? Inzwischen drehen sich viele Veranstaltungen im innermuslimischen Diskurs um diese Frage. Dabei wird erinnert, dass der ­Islam soziale und ökonomische Antworten gibt und nicht nur auf Politik reduziert werden kann. Viele Muslime sehen ihre eigene Rolle und die Funktion ihrer Einrichtungen als eine Stärkung der ­Zivilgesellschaft an. Diskutiert wird aber, ob der sogenannte politische Islam nur und ausschließlich in Diktatur und Gewalt führen muss. Viele Muslime wehren sich auch gegen die dialektische Zuspitzung entweder liberal oder konservativ, rückwärtsgewandt oder fortschrittlich zu sein. Die Lebensrealität der Muslime ist letztlich deutlich komplizierter als es die politische Dialektik und ihre Einteilungen manchmal wahr haben will.

Hannah Arendt hat daran erinnert, dass das Private niemals politisch ist. Der Rückzug in das Private und eine Entpolitisierung der Muslime birgt für die Minderheit die Gefahr, dass es kein ­politisches Subjekt mehr geben könnte, dass auf die Rechte der Muslime in diesem Land pocht. Die kleinen, neuen Verbände der Muslime haben bisher kaum politisches Gewicht. Die Lage ist aber durchaus ernst. Nicht wenige Muslime fürchten bereits, dass eines Tages dem Verbot des politischen Islam, dass Verbot des öffentlich praktizierten Islam folgen könnte. Muslime bilden mit ihren Moscheen schließlich in jedem Fall eine öffentliche Sphäre und jede Form der Öffentlichkeit ist schließlich auch ­politisch.

Vorbild für die muslimische Welt?

(iz). Kürzlich feierte der malaysische Premierminister Mahathir Bin Mohammed seinen 94. Geburtstag. Im Fernsehen wurde aus diesem Anlass ein Foto veröffentlicht, welches den Politiker, der die Geschichte Malaysias der letzten Jahrzehnte entscheidend mit prägte. Mahathir saß auf einem Mountainbike, trug einen Helm, unter dem er verschmitzt lächelnd in die Kamera blickte.

In meinem Hotelzimmer, in Kuching, der Hauptstadt des malaysischen Bundesstaates Sarawak, verfolgte ich daraufhin eine Diskussionsrunde, die dem ­Premierminister huldigte. Durch eine kri­tische Berichterstattung fiel die auf Englisch ausgestrahlte Sendung nicht gerade auf, sodass ich nach einigen Minuten das Fernsehgerät ausschaltete und mich zum Fenster begab.

Der Tag war gerade angebrochen, die Stadt war am Erwachen. Ich entschied mich zu einem spontanen Spaziergang, entlang der Promenade des Flusses ­Sarawak, nachdem der Bundestaat hier auf der Nordspitze Borneo benannt wurde. Auf Borneo, der drittgrößten Insel der Welt, grenzt Malaysia an Indonesien sowie das Sultanat Brunei. Borneo ist die drittgrößte Insel der Welt, im Norden tropischen Eilandes, liegen die beiden malaysischen Bundesstaaten Sarawak und Saba, die unter anderem für ihre unberührten Regenwälder bekannt sind.

Bei meinem Rundgang durch Kuching genieße ich die angenehme Brise, welche vom Fluss aufzieht, vor dem Einbruch der schwül-heißen Witterung ab der Mittagszeit. Kuching heißt auf Deutsch Katze, was erklärt, weshalb im Stadtzentrum mehrere klobige Denkmäler errichtet wurden, wie diesen in Deutschland als Haustier gehaltenen Vierbeiner. Neben diesen künstlerischen Entgleisungen, wirkt das Zentrum überaus positiv und reflektiert den beispiellosen ökonomischen Aufstieg, welcher der Förderation in den letzten Jahrzehnten zweifelsohne beschert wurde.

Entlang der Uferpromenade reihen sich kleine Bars und Restaurants. Nach Einbruch der Dunkelheit erleuchten die an Bäumen befestigten Girlanden die Nacht. Unter einigen Palmen demonstrieren einige Schüler konzentriert ihre Taekwondo-Kenntnisse. Sie dürften höchs­tens 10 Jahre alt sein, unterscheiden sich aber stark in ihrem Auftreten von gleichaltrigen im Westen. Eine Reihe von Neubauten ist am Entstehen, Appartements für die wachsende Mittelschicht, neben Hotelbauten und Shoppingmalls. Die Altbauten aus der Kolonialzeit ­wurden sanft saniert, der Gestank, der in früheren Jahren entlang der Flüsse zu vernehmen war, ist ebenso verschwunden, wie die wilden Müllberge.

Kuching wirkt sauberer als viele Städte in Europa und Amerika, ohne jene erdrückende Sterilität aufzuweisen, die für Singapur obligatorisch ist. Ähnlich wie im benachbarten Indonesien ist das Kettenrauchen weit verbreitet, wobei diesem Laster überall gefrönt wird. Im vergangenen Jahr führte Mahathir die Opposition zum Sieg und wurde wieder zum Premierminister gewählt. Der 92-jährige hatte das Land mehr als 20 Jahre lang regiert. „Vielleicht ist unser Premierminister kein angenehmer Zeitgenosse“, erklärt der Kellner in einem Café in der Altstadt, der an der Universität Englisch studiert und später im boomenden Tourismus tätig werden möchte.

Der Student spielt dabei offensichtlich auf die verbalen Entgleisungen, teilweise Obszönitäten an, die in der Vergangenheit ein Kennzeichen seiner Amtszeit war. „Aber als die große Wirtschafts- und Finanzkrise über unsere Tigerstaaten hereinbrach, als sogenannte Spekulanten und Global Players das Währungssystem zwischen Seoul und Djakarta zum Einsturz brachten, da setzte Mahathir seine Macht sinnvoll ein und ignorierte die Drohungen Washingtons, der Weltbank und der angelsächsischen Trusts“ fügt der junge Mann hinzu, während er Mineral­wasser und Coke Zero serviert.

Der kellnernde Student bezieht sich hierbei auf den Umstand, dass es Mahathir damals gelang, durch seine zeitlich begrenzte autarke Politik-Politik Malaysia damals wieder den drohenden Währungsverfall aufzuhalten. Bedingt durch die Tatsache, dass Malaysia ein an Bodenschätzen unglaublich ergiebiges Land ist, sowie über reiche Plantagen verfügt und dass er sich bei den im Land ansässigen chinesischen Bankiers auf eine mit allen Wassern gewaschene heimische Finanzelite stützen konnte.

Das Thema der Anfälligkeit von Währungen durch Spekulationen, beschäftigt den Premierminister bis heute. Dieser Tage, im Rahmen einer Konferenz in Tokyo, plädierte Mahathir für eine an Gold gebundene Währung, bezüglich des Handels der Staaten in der Region. Es soll sich hierbei um eine Handelswährung mit Gold-Bindung handeln. Gemäß der Vorstellungen Mahathirs, könnte sie zwischen Staaten der Region beim Warenaustausch verwendet werden, um Exporte und Importe auszugleichen. Für den Binnenhandel wäre so eine Währung allerdings nicht „Wenn man in Fernost zusammenfinden möch­te, dann sollten wir mit einer gemeinsamen Handelswährung beginnen, die nicht lokal, aber zum Zwecke des Handelsausgleichs verwendet werden sollte. Die Währung, so wurde vorgeschlagen, sollte auf Gold basieren, weil Gold sehr viel stabiler ist“, ließ der ­Premierminister in Tokyo verlautbaren. Völlig unerfahren ist Malaysia auf diesem Gebiet nicht. In Kelantan, zugleich ein Bundestaat und ein Sultanat, wurde schon vor 9 Jahren eine durch das Edelmetall gedeckte Währung eingeführt.

 Zeitgleich hat Malaysia Klage erhoben, gegen 17 Top-Manager von Goldman-Sachs. Schon 2018 hatte Kuala Lumpur gegen das Bankhaus Goldman Sachs sowie zwei frühere Angestellte des Geldinstituts, einen ehemaligen 1MDB-Mitarbeiter und einen malaysischen Investor Anzeige erstattet. Von Goldman-Sachs wird dabei Schadenersatz in Milliardenhöhe gefordert.

Im Chinesen Viertel von Kuching herrscht um diese Uhrzeit schon reges Treiben. Im Gegensatz zum benachbarten Indonesien dürfen die Malaysier chinesischer Ethnizität, ihre Schrift und Sprache verwenden und machen davon reichlich Gebrauch, wie die Schriftzeichen an den Geschäften ebenso beweisen, wie die Gesprächsfetzen, die man vernimmt. In den Seitenstraßen findet man buddhistische und konfuzianische Tempel, neben Moscheen und Kirchen.

Die religiöse und ethnische Vielfalt Malaysias, von etwa 70 Prozent muslimischen Malaien, etwa 25 Prozent buddhistischen, konfuzianischen, teils auch christlichen Chinesen, sowie rund 5 Prozent Indern, die überwiegend Tamilen und Hindus sind, prägt das politische System.

Zwar kam es in Malaysia nie zu solchen grausamen Massakern wie in Indonesien, in dem höchstwahrscheinlich von der CIA inszenierten Putsch von 1965, in dessen Folge Millionen von Chinesen zwischen Java und Borneo ermordet wurden. Doch auch hier kam es in den ersten Jahrzehnten der Unabhängigkeit zu Spannungen, die bis heute nicht vollständig abgeflaut sind. Die Chinesen wurden im 19. Jahrhundert von den britischen Kolonialherren größtenteils als Kulis für ihre Kautschuk-Plantagen verpflichtet und hatten dabei, flankiert von ihrem Geschäftssinn, die leitenden Positionen in der Finanz- und Geschäftswelt erlangt. Die malaiische Bevölkerung hatte sich gegen die Vormachtstellung der Söhne des Himmels heftig zur Wehr gesetzt und daraufhin die Schlüsselpositionen in Politik, Verwaltung, vor allem aber dem Militär übernommen. Der Inspirator der damaligen antichinesischen Bewegung war übrigens niemand anders als Muhammed bin Mahathir, der seiner Zeit ein Pamphlet verfasste, welches zum politischen Programm erhoben wurde, unter dem Titel „The Malay Dilemma“.

Heute haben sich die Dinge aber grundlegend geändert, wenn die Volksgruppen auch eher nebeneinander her leben als miteinander. Der Malaien-Markt ist nur wenige Gehminuten vom Chinesen-Viertel entfernt, erscheint aber als eine ganz andere Welt. 60 Prozent der Malaysier sind Muslime, unter den Malaien fast alle, denn diese Ethnizität, die die Hälfte der Bevölkerung ausmacht, wird per Gesetz zum Islam verpflichtet. Wie auch in Indonesien kam der Islam durch arabische Kaufleute im 7. Jahrhundert ins Land. Durch die ­Erweckungsbewegung Dakwah, in den 1960er Jahren, setzte sich eine orthodoxe Interpretation des Islams durch.

Auf dem Markt werden traditionelle Kleidung und Gewürze zum Verkauf ­angeboten.

„Der Islam ist bei uns zwar Staatsreligion“, erwähnt eine Verkäuferin, die wie die Mehrheit der malaiischen Frauen Malaysias ein Kopftuch trägt, „aber wir unterscheiden uns doch sehr von der weit entfernten arabischen Welt. „Ich bin sehr dankbar dafür, dass unser ­Premierminister das öffentliche Auspeitschen von zwei Frauen, aufgrund einer Gesetzesübertretung im letzten Jahr ­verurteilt hat“, erwähnt sie lächelnd, während sie einige Textilien auf ihrem Verkaufsstand platziert. Die Dame bezieht sich auf die Worte des Premierministers, der den damaligen Vorfall mit den Worten verurteilte: „Dies zeichnet ein schlechtes Bild des Islam.“ Die Religion erschiene hart und grausam und das sei ein Fehler.

Andere muslimische Politiker und Würdenträger pflichteten ihm bei. ­Anwar Ibrahim, der ehemalige Rivale Mahathirs, mit dem er sich allerdings ­wieder versöhnt hat, kommentierte die Auspeitschung mit folgenden Worten, die zuvor von einem Lokalpolitiker ­gerechtfertigt wurde: „Ich bin ein praktizierender Muslim, aber ich teile diese Interpretation nicht.“ Anwar, der im ­Nahen Osten studierte, betonte dabei, dass er kein Gegner der Scharia sei, „aber man muss sich auf deren höheren Ziele besinnen, auf Erziehung, Sicherheit, ­Toleranz, Verständnis“.

Weise Worte. Malaysia hat das Potenzial, gemessen an dem relativ harmonischen Nebeneinander seiner Volksgruppen und Religionen, flankiert von wachsendem Wohlstand und boomender Wirtschaft, dem hohen Bildungsstand, vor allem aber aufgrund seiner Stabilität, so etwas wie ein Modellland der islamischen Welt zu werden.

Das Drama der Deutschen

In seinem Faust, an dem er sich sein ganz Leben lang abmühte, verwirklichte der inzwischen 82-jährige Goethe nicht nur eine weltberühmte Tragödie, die der sprichwörtlichen Zerrissenheit der Deutschen Ausdruck gibt, sondern gleichzeitig auch ein Drama des Lebens und der Menschheit an sich. Es entwickelt sich um das Spannungsverhältnis von Him­mlischem und Teuflischem, Irdischem und Göttlichem, in dem menschliches Streben stets verortet ist.

(iz). Die kontroversen Debatten über die kollektive Identität der Deutschen, die Renaissance des deutschen Nationalismus bis hin zu anti-deutschen Haltungen, erinnern an das Drama der Deutschen: den Faust. Die Frage, wer die Deutschen sind, hat Dieter Borchmeyer unlängst, bezeichnenderweise in einem Buch von über 1.000 Seiten, zu beantworten versucht. Was ist deutsch? Naturgemäß verweist der ­Lite­raturwissenschaftler in seiner ­Untersuchung auf geistige Grundlagen, die bereits weit vor der Gründung des deutschen Nationalstaates ihre Wirkung entfalten. Hierher gehört Goethes Skepsis gegenüber den Nationalismen, den untersten Stufen der Kultur, die ihn beschäftigen, bevor er, post mortem und nicht ganz ohne Ironie, zum Nationaldichter der Deutschen wurde. Natürlich gehört hierher ebenso die Fausttragödie, die den Weltruhm des Dichters mitbegründet.

In seinem Faust, an dem er sich sein ganz Leben lang abmühte, verwirklichte der inzwischen 82-jährige Goethe nicht nur eine weltberühmte Tragödie, die der sprichwörtlichen Zerrissenheit der Deutschen Ausdruck gibt, sondern gleichzeitig auch ein Drama des Lebens und der Menschheit an sich. Es entwickelt sich um das Spannungsverhältnis von Him­mlischem und Teuflischem, Irdischem und Göttlichem, in dem menschliches Streben stets verortet ist.

In seiner Einführung zum Faust („Prolog im Himmel“) erklärt Gott in einem Gespräch mit dem teuflischen Charakter, Mephistopheles, höchstpersönlich die paradoxe Situation des Menschen: „Es irrt der Mensch, solang er strebt“ und „ein guter Mensch in seinem dunklen Drange, ist sich des rechten Weges wohl bewusst“. Beide Lehrsätze sind in der deutschen Sprache längst zu sprich­wörtlichen Bestimmungen der menschlichen Lage geworden. Am Ende des zweiten Teils, nachdem Tod des Fausts, werden die Engel ergänzen: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.“

Diese letzte Ergänzung, die Möglichkeit der Gnade, zeigt bereits Goethes Sicht auf die Grenzen teuflischer Verfüh­rungskünste auf. Die Folge mag tröstlich sein, Mephistopheles wird den Menschen nie ganz verstehen, er kann ihn nur verführen, aber niemals ganz bestimmen. Deswegen ist das Teuflische „Teil jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“. Schon im Prolog im ­Himmel deutet sich die ganze Aktu­alität der Tragödie an. Gott rechtfertigt in dem Prolog, hier bedient sich Goethe einem ironischen Unterton, sogar die Existenz des Teuflischen: „Des Menschen Tätigkeit kann allzu leicht erschlaffen, er liebt sich bald die unbedingte Ruh; drum geb’ ich gern ihm den Gesellen zu, der reizt und wirkt und muß als Teufel schaffen…“

Nur ein Jahrhundert später, nach dem Teufelspakt der Deutschen mit dem ­nationalsozialistischen Regime, dem Holo­caust und dem 2. Weltkrieg, wird diese, ursprünglich ironisch gemeinte Passage, in manchen Ohren heute eher als Zynismus vernommen. Der Pakt der Deutschen mit dem Bösen wird nicht nur die (verständliche) Grundlage anti-deutscher Gefühle werden, sondern auch – sozusagen als weitere Folge der Verarbeitung des historischen Traumas – in den Abgrund eines verbreiteten Nihilismus führen.

Nach dem „Prolog im Himmel“ folgen zunächst die berühmten Charakterisierungen des Faust. Der Universalgelehrte verkörpert ein maßloses Begehren nach Wissen, Macht und Herrlichkeit, aber auch ein Streben, dass zutiefst unerfüllt bleibt. So in eine existentielle Krise gera­ten, heute würden man sagen nach einem „Burn-Out“, stellt er resigniert fest: „Hier steh ich nun ich armer Thor, und bin so klug wie stets zuvor.“ Faust sucht sein Heil schließlich in der Magie, um das Gesetz, das die „Welt im Innersten“ zusammenhält, tiefer zu verstehen. In seiner größten Verzweiflung trifft der Forscher Mephistopheles. Sie schließen eine legendäre Wette: Wenn es Mephistopheles gelingt Faust in eine Situation zu führen, in der Faust ausspricht „Augenblick verweile!“, dann wird Faust untergehen und sein neuer Kumpan die Wette gewinnen.

Es beginnt ein fulminanter Ritt in menschlich-allzumenschliche Situationen, in der Mephistopheles immer wieder versucht mit allen Mitteln seine Wette zu gewinnen. Nach einer Verjüngungskur, die Mephistopheles für Faust arrangiert (Mephistopheles: „Du siehst mit diesem Trank im Leibe, bald Helenen in jedem Weibe“) trifft er zunächst ein schönes, aber auch naives Mädchen: Gretchen. Gretchen reagiert verstört und instinktiv verunsichert auf Fausts Werben und Liebeswerben, seinem Verhältnis zu Mephistopheles und seiner gleichzeitigen Distanz zur Kirche. Innerlich bleibt das junge Mädchen den christlichen Konventionen ihrer Zeit verbunden. Sie stellt Faust schließlich die berühmte Gretchenfrage: „Wie hält’s Du es mit der Religion?“ Obwohl Faust kein Christentum mehr hat, lässt sich Gretchen auf die ­außereheliche Beziehung ein. Das Verhältnis endet schließlich in einer Tra­gödie. Gretchen wird, nachdem aus ­Versehen ihre Mutter getötet wurde, zur Kindesmörderin, sie wird zum Tode ­verurteilt und wird – nachdem sie sich gegen den Willen Fausts zu ihrer Verantwortung bekannt hat – von der Gnade Gottes gerettet, während Faust immer weiter streben muss.

Im zweiten Teil des Dramas entfesselt Goethe seine ganze Sprachgewalt. In ­Reimen, Sprechgesängen, Chören, Dialogen und Monologen offenbart sich eine Weltbühne, die reale, symbolische und imaginäre Vorstellungen vermischt. Der staunende Leser wird in die griechische Mythologie, das Mittelalter und in allerlei Zukunftsvisionen entführt, wohnt gar der künstlichen Schaffung einer Menschwerdung bei und bekommt die Schöpfungsgeschichte von tausenden Jahren in Reimform präsentiert. Der Dichter kümmert sich dabei weder um strenge ­Chronologie noch um Einschränkungen strenger Logik. Bis heute mühen sich ­Generationen von Regisseure auf deutschen Bühnen ab, den maßlosen Stoff und seine visionären Anspielungen auf die Zukunft – von Fragen der Bioethik bis zur Kapitalismuskritik – auf eine ­Bühne zu bringen.

Faust entwickelt sich als Hauptfigur endgültig zu einem Art Archetyp der Moderne, einem Tatmenschen, eine Figur, die radikal mit den kulturellen, religiösen, philosophischen und politischen Traditionen seiner Zeit bricht, um eine zweite, ganz neue Welt aufzubauen. Faust und Mephistopheles werden zu Partnern, die    – wenn auch aus unterschiedlicher Motivation heraus – alles was entsteht auch stets verneinen. Michael Jaeger (Global Player Faust) beschreibt diese Verwandlung, hin zum Geist permanenter Revolution, wie folgt: „… Faust verwandelt sich selbst in einen Geist, der jedes gegenwärtige Dasein, jeden Augenblick und jedes bewußt-reflektierende Verweilen in ihm stets verneint, weil alles, was da ist, seinen Ansprüchen von vornherein nicht genügen kann und infolgedessen wert ist, dass es zugrunde geht.“

Faust wird unter dem Einfluß des ­Mephistopheles zu einem Getriebenen, in dem sich durchaus ehrenwerte Ziele nach dem Fortschritt der Menschheit mit niedrigen Aspekten, Gier und Wille zur Macht, vermischen. Fausts Wille zur Macht äußert sich, wie Jaeger schreibt „als Fluch, als heroische Geste der Negation. Doch ist der Fluch in Wahrheit ein Ausdruck des äußersten Zwangs, die Realität zu verdrängen, eine Zwangslage, die hervorgeht aus der modernen Furcht vor dem Entgegengesetzten, aus der ­Todesangst“.

Tatsächlich verstrickt sich Faust im zweiten Teil der Tragödie in der Durchführung planetarischer Vorhaben, in Kriegen und Machenschaften in neuen Kolonien, bis hin zur Schaffung, mit Hilfe des Mephistopheles, eines neuen magischen Instrumentes: dem Papiergeld. Faust lädt im Rahmen seines Expansionsplans immer mehr Schuld auf sich, auch weil sein teuflischer und gewissenloser Gehilfe jeden Kollateralschaden in Kauf nimmt. Das technologisch-ökonomische Projekt der Neuzeit wird so zu einem Segen und Fluch des modernen Menschen werden. Immer neue Pakte, sei es mit Diktatoren oder Finanzmärkten, sind zum Machterhalt nötig. Das faustische Projekt der maßlosen Weltunterwerfung, mit Hilfe neuer Technologien der Macht, ist dabei längst nicht mehr das Schicksal der Deutschen oder Europäer alleine, es wird zum allge­meinen Weltschicksal. In allen Erdkontinenten verdrängt es zunehmend die ­alten, lokalen Maßstäbe der Kultur oder Religion.

Nur in einer imaginären Begegnung Fausts mit dem alten Griechenland und der göttlichen Helena, wird Faust ausnahmsweise nicht gejagt vom panischen Schrecken vor dem Verweilen. In diesen Bezügen zur griechischen Klassik steht er ausnahmsweise nicht unter der Herrschaft des modernen Veränderungszwangs. In dieser Welt höchster geistiger Ansprüche hat auch Mephistopheles und seine Tendenz zu den Niederungen des Seins, keinen Zugriff auf ihn. Natürlich ist sich Goethe dabei bewusst, dass es ­keine reale Rückkehr zur Klassik geben kann. Ob es in der Zukunft ebenso keine Hinwendung zum Religiösen mehr geben kann lässt Goethe dagegen offen. In der Welt Goethes ist Gott niemals tot. Eckermann zitiert Goethe wie folgt: „Ich sehe die Zeit kommen, wo Gott keine Freude mehr hat an ihr (der Welt) und er abermals alles zusammenschlagen muß zu einer verjüngten Schöpfung.“

Hatte Goethe eine Lösung für die ­Probleme des Faust? Hier streiten die Gelehrten bis heute. Eduard Spranger, um nur eine Möglichkeit vorzustellen, sieht den Lösungsansatz in einem „unablässigen Emporringen“, zu dem der Mensch fortlaufend geführt wird. „In der Folge des heiligen Stirb und Werde begegnen sich die Reiche der Natur und der Gnade. In ihrem Schnittpunkt bewegt sich der Mensch“ schreibt Spranger über die Lösung des Faust, dass auch eine Selbstbekenntnis Goethes beinhalten könnte. Am Ende des zweiten Teils zeigt sich dann tatsächlich Goethes Hoffnung, dass die weltumspannende, göttliche Liebe eine Rettung verspricht. Gleichzeitig entzieht sich der Dichter, der sich in dem Feld der Kunst als Polytheist begreift, den einschränkenden Dogmen der Religionen. Michael Jaeger beschreibt diese Seite Goethes wie folgt: „Religiös in einem ganz allgemeinen Sinne war Goethe sehr wohl, nämlich im ursprünglichen, wörtlichen Verständnis der religio als spiritu­eller Ehrfurcht vor jenem dem menschlichen Willen – zur Macht – Unzugänglichen und Unverfügbaren, dem Goethe den dezidiert unorthodoxen Namen des Ewig-Weiblichen geben konnte.“

So lädt das Meisterwerk die Deutschen zu immer neuen Interpretationsversuchen ein. Das Dämonische, das Göttliche, das Natürliche und das Geistige in einem Lebensentwurf zu vereinen, lädt zu neuem Streben und Scheitern ein. Die aktuellen Zeichen der Erde, von der Klimakatastrophe bis zu den Finanzkrisen, gestatten dem Menschen kein Verweilen. Noch immer kann es dem modernen Menschen nicht nur um Achtsamkeit ­gehen, sondern auch, angesichts des ­drohenden Untergangs, um politische Wirkung. Im Chorus Mysticus heißt es auf der letzten Seite des Faust: „Alles ­Vergängliche ist nur ein Gleichnis; das Unzulängliche, hier wird’s Ereignis, das Unbeschreibliche, hier ist’s getan; das Ewig-Weibliche, zieht uns hinan.“

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Zeichen der Erde

„Allerdings dürfte die ­Perspektivdebatte innerhalb der Jugendumwelt­bewegung dadurch auch an Fahrt aufnehmen. Das ist nur das Beste, was ihr ­passieren kann. Eine ­Bewegung, die inhaltlich so schwammig bleibt, dass sie nur niemand ausgrenzt, kann in der Anfangsphase erfolgreich sein. Aber es ist das Wesen von ­Bewegungen, dass sie an Grenzen stoßen und an ­Dynamik verlieren. Spätestens dann steht die Perspektivdebatte auf der Agenda.“ Peter Nowak

(iz). Sie sind unübersehbar: die Zeichen der Erde. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts gehen die Bilder der Wetterextreme um die Erde. Die ökologische Zerstörung macht vor keiner Grenze halt und lässt keinen Erdteil aus. Das Gefühl, dass die Schöpfung elementar bedroht, teilen inzwischen Menschen aus aller Welt. Letztendlich stellt sich so die Frage nach dem Maß menschlichen Handelns und nach neuen politischen Entwürfen, die den Herausforderungen der Klimakrise gerecht werden. Das Ausmaß der Krise zeigt nicht zuletzt auch die Grenzen nationaler Politik auf.

Wie genau die Auswirkungen der ökologischen Krise unter den Rahmen­bedingungen demokratischer Systeme gehegt werden können, sind naturgemäß strittig. Der Ruf nach harten Maßnahmen und Einschränkungen des gewohnten Konsums, die Rückkehr zur Atomkraft oder der Ausbau der alternativen Energien werden kontrovers diskutiert. Zwischen den Zeilen hört man auch ­bereits Ungeduld und Unzufriedenheit über die Langsamkeit demokratischer Prozesse heraus. Darüber hinaus wird die systemische Frage gestellt: Erlaubt ein entfesselter Kapitalismus, insbesondere die maßlose Geldpolitik, als die Grundlage moderner Ökonomie, überhaupt noch einen verantwortlichen Umgang mit der Natur?

Im Rahmen dieser Fragestellungen sind auch die Weltreligionen heraus­gefordert. Wie steht die religiöse Praxis zur Bedrohung aller Lebensgrundlagen und zu einer modernen Technik, die ­zumindest in Teilen die Schöpfung herausfordert? Hierbei wächst das Bewusstsein, dass die Aktualität von religiösen Entwürfen mit der Beantwortung der Schicksalsfragen der Menschheit einhergeht. Dabei haben die Religionen eine wachsende Bedeutung, weil ihre An­hängerschaft von jeher global organisiert ist. Die Solidarität zwischen Armen und Reichen ist eine der Grundprinzipien ­aller Religionen.

„Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist“, kommentierte einst Victor Hugo. In unserer Zeit massenmedialer Gestimmtheit kommt eine andere Grundstimmung hinzu: der Effekt der Angst. Die modernen Krisen der letzten Zeit, sei es die Finanz-, die Immigrations- oder eben die Klimakrise sind grundsätzlich mit allgemeinen Zukunftsängsten unterlegt. „Der Klimanotstand ist unser dritter Weltkrieg. Unser Leben und unsere Zivilisation, wie wir sie ­­kennen, stehen auf dem Spiel, genau wie im Zweiten Weltkrieg“, dramatisiert ­beispielsweise der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Joseph Stiglitz die Lage. Die Gefahr ist dabei, dass die Angst vor dem Untergang so groß wird, dass auch einfache Heilsversprechen und ideologische Politikansätze Konjunktur ­bekommen. Vielleicht können gläubige Menschen, die grundsätzlich auf ein gutes Ende der Schöpfungsgeschichte ver­trauen, hier ein wenig zur Gelassenheit beitragen.

Wie immer man zum Thema der ­Klimakrise im Detail steht, beachtlich ist die Mobilisierung, die diese Frage inzwischen bei der Jugend auslöst. Wie kaum ein anderes Thema hat es junge Leute auf die Straße gebracht. Das Phänomen „Fridays for Future“ zeigt zunächst, dass die These einer entpolitisierten und ­konsumorientierten neuen Generation falsch ist. Jede Politik und natürlich auch jede Religion kann künftig nicht mehr ignorieren, dass Millionen junge Leute hier Antworten verlangen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch die Umwelt­bewegung in der islamischen Welt Fuß fasst.  Die Folgen eines unverantwort­lichen Umgangs mit den Ressourcen ­dieser Erde sind auch dort unübersehbar. Zunehmend beteiligen sich muslimische Gelehrte aus aller Welt an diesen Debatten.

Der englische Gelehrte Fazlun Khalid hat in seinem neuesten Buch die Situation aus muslimischer Sicht zusammengefasst. Seit 1992 beschäftigt er sich mit ökologischen Fragen und gründete 1994 eine NGO, die sich ausschließlich mit Umweltfragen beschäftigt. Neben der Schilderung der bekannten Fakten rund um die ökologische Situation der Neuzeit, verweist der Autor in seinem lesenswerten Buch „Signs on the Earth“ auch auf die entsprechenden Quellen der islamischen Lebenspraxis. Die Botschaft ist klar: der Koran beschreibt umfassend die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen. Dabei wird nicht nur das generelle Maß menschlicher Handlungsmöglichkeiten bestimmt, sondern auch die politische und ökonomische Macht faktisch beschränkt. Der Mensch wird so immer wieder an seine moralische Verantwortung gegenüber Schöpfer und Schöpfung erinnert.

„Es gibt eine gut etablierte Tradition im Islam“ stellt Fazlun Khalid daher grundsätzlich fest, „dass die ganze Erde ein Ort des Gebets ist. Ein heiliger Raum, in dem man über das Göttliche nachdenken kann.“ Die täglichen Aktivitäten, die Muslime in diesem Raum ausführen, erfordern vorbildliches Verhalten, da von ihnen erwartet wird, dass jede Handlung in der Natur eines Gebets stattfindet. Das Gebet und die Natur sind so unwiderruflich miteinander verbunden. Der Muslim ist in seiner religiösen Praxis auf das Wohl seiner Mitmenschen und die Sorge über seine Umwelt bezogen.

Der Qur’an ist dabei von Natur aus ökologisch und ganzheitlich ausgerichtet. Er spricht von Schöpfung (arab. khalq) und enthält über 250 Verse, in denen dieses Wort in seinen verschiedenen grammatikalischen Formen verwendet wird. Abgeleitet von der Wurzel kh-l-q, wird es in vielerlei Hinsicht verwendet, um zu beschreiben, was wir in der Welt sehen, fühlen und spüren. Die Verse ­enthalten Hinweise auf die natürliche Welt, von Kräutern bis zu Bäumen, von Fischen bis zu Geflügel, von Sonnen­himmel bis zu Sternen. Der Mensch ist Teil und zugleich Spiegel eines großen Ganzen.

Der Autor wirft den islamischen Staaten vor, das islamische Modell einer gerechten Wirtschaft und die Sorge um die Umwelt vernachlässigt zu haben. Das Buch verweist hier auf die unkritische Übernahme neuer Techniken der Macht und des westlichen Lebensstiles in der islamischen Welt. „Der Konsumismus ist so allgegenwärtig geworden“, schreibt Khalid, „dass wir sogar die Religion in Form eines Rituals konsumieren. Wenn dieses Ritual leblos ist und uns nicht mit dem gesegneten Geschenk des Schöpfers, der natürlichen Welt, verbindet, bleibt uns eine Einheit übrig, die wir als Ressource betrachten, die unser Konsum­leben zufrieden stellt“.  Tatsächlich versuchen moderne islamische Staaten heute vor allem durch riesenhafte technolo­gische Projekte ihre Fortschrittlichkeit zu beweisen.

Im Kern kritisiert Fazlun Khalid letztendlich die Politisierung der islamischen Lebenspraxis, mit der Folge, dass die ­ursprüngliche Balance des islamischen Entwurfes zwischen Materialismus und Spiritualität verloren gegangen ist. Entscheidend ist hier das islamische Wirtschafts- und Sozialrecht, dass man als Einschränkung des Politischen begreifen kann. Das Riba-Verbot enthält nicht nur das konkrete Verbot der Zinsnahme, sondern stellt sich auch gegen allmächtige Monopole und gegen die Möglichkeit unbegrenzter Kapitalanhäufung. Die Mobilisierung der Gläubigen und der Aufruf an sie, sich für die Bewältigung der Umweltkrisen einzusetzen und ein wachsendes Bewusstsein für die politische Ökonomie gehören für den Autor daher zusammen.

Der Qur’an erinnert uns, dass wir nicht die Herren, sondern die Diener der Welt sind. Wir lesen dort: „Die Erschaffung von Himmel und Erde ist weitaus größer als die Erschaffung der Menschheit. Aber die meisten Menschen wissen es nicht.“ (Al-Ghafir, Sure 40, 57)

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Leben zwischen Politik und ­Religion

Thomas Mann

(iz). Es ist eine deutsche Familiengeschichte, „Die Buddenbrooks“, die Thomas Mann weltberühmt macht. Die Beschreibung des Aufstiegs und Verfalls einer Lübecker Kaufmannsfamilie wurde zum ersten deutschen Gesellschaftsroman mit Weltgeltung. Thomas […]

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Katastrophenstimmung

(iz). Es schien ein symbolischer Höhepunkt auf dem Wirtschaftsgipfel in Davos. Die 16 Jahre alte Schwedin Greta Thunberg nutzte das Forum in den Schweizer Alpen um nicht nur vor der drohenden Klimakatastrophe zu warnen, sondern sie rief auch das Kollektiv mit revolutionärem Anspruch auf: Ihr müsst Euer Leben ändern! Über Nacht wurde die Umweltaktivistin zum Medienstar, wenn auch die Wirklichkeit ihres Auftrittes etwas profaner war. Zum Zeitpunkt als Greta den Gipfel adressierte, war die Mehrzahl der Wirtschaftskapitäne und Politiker längst ­abgereist. Sie sprach de facto in einem Nebenraum vor ausgewählten 50 Per­sonen. Dennoch ging ihr Aufruf an die Jugend um die ganze Welt. Die Per­sönlichkeit „Gretas“ mutierte so für die Einen zum Symbol eines jugendlichen Hoffnungsträgers, der die Eliten herausfordert, während für Andere ihr Beitrag nur einen Ausdruck einer neuen Ideologie darstellte.
Der persönliche Imperativ „du musst Dein Leben ändern“, den Greta für das große Publikum ausspricht, wurde einst durch ein Gedicht Rainer Maria Rilkes berühmt. Der Dichter wurde durch einen Torso angesprochen und verfasste darauf eines der berühmtesten Gedicht der deutschen Literatur. Die letzten zwei Zeilen lauten: „Da ist keine Stelle die Dich nicht sieht. Du musst Dein Leben ändern.“ In seinem gleichnamigen Buch interpretiert Peter Sloterdijk nicht nur das Gedicht, er stellt auch treffend fest, dass der moderne, liberale Mensch eigentlich ungern Befehle akzeptiert, die von außen, sei es durch Religion oder Staat, in seine private Autonomie eingreifen.
Die evidente ökologische Krise schafft hier eine Ausnahme, viele Menschen akzeptieren instinktiv, dass sie nicht wie gewohnt weitermachen können und ihr Leben ändern müssen. In diesem Sinne spricht Greta etwas aus, was eine ganze Generation Jugendlicher längst verinnerlicht und in ihr Über-Ich integriert hat. Inzwischen wundern sich Eltern, wenn sie am Mittagstisch von ihren Kindern über ihre jährliche Schadstoffbilanz oder ihre Essensgewohnheiten befragt werden.
Das Gefühl den Planeten retten zu müssen, gehört heute zu den typisch deutschen Anwandlungen. Auf der Mün­chner Sicherheitskonferenz bekannte sich die Bundeskanzlerin Angela Merkel ganz ausdrücklich zu diesem Projekt. Paradoxerweise hörten der Kanzlerin dutzende Generäle und Vertreter der Rüstungsindustrie zu, die gleichzeitig immer neue Potentiale atomarer Verwüstung aufbauen. Das europäische Projekt der Rationalisierung, Ökonomisierung und Verwissenschaftlichung aller Lebensprozess, sieht sich gleichzeitig immer wieder mit der irrationalen Möglichkeit des eigenen Untergangs konfrontiert. Was die Kanzlerin mit ihrer Idee der Rettung verbindet, sind aber keine systematischen Zweifel, sondern eher die Vorstellung mit immer mehr Technik und Kapital immer bessere Zustände zu schaffen.
Dieser „Lösungsansatz“ wird – gerade angesichts der ökologischen Krise – von Slavoj Zizek in seinem Buch „Die Tücke des Subjektes“ angezweifelt: „Wenn wir die ökologische Krise auf Störungen ­reduzieren, die durch unsere exzessive technologische Ausbeutung der Natur ausgelöst wurden, unterstellen wir schon stillschweigend, dass die Lösung des ­Problems wieder auf technologische ­Innovationen basieren wird: auf einer neuen grünen Technologie, die noch ­effizienter und globaler in ihrer Kontrolle der natürlichen und menschlichen ­Ressourcen sein muß.“
Im politischen Deutschland kon­kur­rieren seit geraumer Zeit drei große Beschreibungen fundamentaler Ängste, die sich aus den Folgen der Klima-, der Flüchtlingskrise und der Krise um die Finanzstrukturen ergeben. Vor allem die Klima- und Flüchtlingskrise trennen ­dabei die Gesellschaft in zwei Lager. Für die Befürworter eines starken Nationalstaates ist es gerade die Flüchtlingskrise, die ihre ultimativen Ängste vor der Globali­sierung rechtfertigt, während für die ­Globalisten die Bewältigung der Klimakrise den Nationalstaat überfordert und gerade deswegen globale Institutionen gestärkt werden müssen. Beide Gruppen stehen sich so in einem unversöhnlichen Patt gegenüber.
Natürlich steht hinter beiden Positionen auch eine bestimmte Form von Überzeugungen, die sich nicht vollständig in rationale Argumentationsketten begründen lassen. Slavoj Zizek argumentiert immer wieder, dass es de facto ­Ideologien sind, die auch unser Dasein in der Demokratie heute beherrschen. „Ideologie“, klärt Zizek auf, „darf nicht als eine Illusion, die die Realität der ­Dinge markiert, verstanden werden, ­sondern als eine unbewusste Phantasie, welche die Realität strukturiert“.
So berufen sich politische Überzeugungen, so zumindest Zizek, notwen­digerweise auf „erhabene Objekte der Ideologie“, um die eigene Position als die absolut Überlegene zu etablieren. Das Erhabene definierte schon Kant als das, „was schlechthin groß ist“ und sich so durchaus als Gottesersatz eignet. Diese erhabenen Objekte sind heute Begriffe wie zum Beispiel „Natur“ oder „Volk“, die letztlich in ihrer Substanz philo­sophisch unbestimmt bleiben, deren Schutzwürdigkeit aber, je nach ideo­lo­gischer Verortung, besonders hoch eingeschätzt werden. Dies kann im Extremfall dazu führen, dass auch eine Ökodiktatur oder ein nationalistischer Staat als legitime Größen zur künftigen Sicherung des bedrohten Objektes gerechtfertigt werden.
Verstärkt werden diese Gegensätze heute durch das Spiel der Medien. Der Gebrauch bestimmter Worte, wie zum Beispiel „Asylantenflut“ oder „Klimakatastrophe“ strukturieren den Diskurs und rufen bestimmte Assoziationsketten ab. In einem neuen Gutachten der ARD wird dieser Mechanismus als „Framing“-Effekt offiziell eingeführt und in seiner Wirkung wie folgt erklärt: „Entgegen dem gängigen Mythos entscheidet der Mensch sich nicht‚ rein rational und ­aufgrund einer ‚objektiven’ Abwägung von Fakten für oder gegen Din­ge, denn objektives, faktenbegründetes und rationales Denken gibt es nicht, zumindest nicht in der Form, in der es der Auf­klärungsgedanke suggeriert.“
Der Mangel des Menschen, dem es nie ganz gelingt die komplexe Wirklichkeit ganz zu begreifen, zu erklären und zu ­erfassen, macht ihn also gleichzeitig ­anfällig für Ideologie und für Phantasien, die sich durch die eigene Einbildungskraft bilden. Mögliche Leerstellen in der eigenen Argumentationslogik werden so überbrückt. Politisch zeigt sich dies in gefährlichen gesellschaftlichen Spannungen, in denen diverse Überzeugungen sich gegenseitig herausfordern und immer öfters mit dem Habitus absoluter Überlegenheit der eigenen Position vorgetragen werden. Ideologe ist in dieser Anordnung immer der Andere. Darüber hinaus verbreitet sich in verschiedenen Lagern, angesichts der Katastrophenstimmung, die bedenkliche Überzeugung, dass die Demokratie zu langsam und zu wenig radikal auf die ökologischen oder sozialen Herausforderungen zu reagieren vermag. Die Versuchung liegt hier nahe, angesichts dem imaginierten bevorstehenden Untergang, nach harten politischen Lösungen, eventuell sogar gegen die Mehrheit der Bevölkerung, zu rufen.
Wie sollen also Muslime umgehen mit den neuen Formen der Ideologie? Ein grundsätzlicher Unterschied besteht hier, dass der Gläubige den Schöpfer und nicht den Mensch in den Mittelpunkt stellt. Naturgemäß wird hier zunächst die ­Offenbarung eine Rolle spielen und ­Muslime sich die Frage stellen, ob es hier Ansatzpunkte zur Bewältigung der ­aktuellen Krisen geben kann. Tatsächlich finden sich in der Überlieferung zahlreiche Aufrufe die Schöpfung zu bewahren und zwischenmenschliche Solidarität auszuüben. Bekannterweise finden sich im Koran auch dezidierte Hinweise, eine maßvolle Ökonomie zu gestalten, den Handel zu erlauben und „Riba“ zu verbieten, bis hin zu rationalen Maximen die das Wirtschaftsrecht betreffen.
Natürlich ahnt man hier schon den Einwand, den Denker wie Slavoj Zizek, vermutlich vortragen würden. Würde die Anrufung erhabener Objekte der Reli­gion nicht zu endgültig totalitären Gottesstaaten führen? Ein kurzer Blick auf die faschistoide Episode des „Islamischen Staates“ gibt diesem Einwand sein eigenes Gewicht. Nur, das ergibt sich aus der ­Argumentation Zizeks über die Ideologie ebenso, die Möglichkeit oder die Gefahr der Ideologisierung betrifft letztlich alle gesellschaftlichen Gruppen, die sich um den Fortbestand des Lebens auf der Erde sorgen.
Es wird für uns Muslime also darauf ankommen, den Islam selbst nicht als eine politische Ideologie, sondern immer auch als eine Praxis der Mäßigung zu ­verstehen. Hinzukommt eine gelassene Geisteshaltung, die sich im Kern weder in einer Dialektik gegen Andere noch durch eine Katastrophenstimmung bestimmt. Man erinnert sich hier auch an prophetische Wort, dass man – selbst im Angesicht des drohenden Untergangs – einen Baum pflanzen sollte.

Rilke oder die „Bienen des Unsichtbaren“

(iz). Der öffentliche Raum ist naturgemäß der Austragungsort ­gesellschaftlicher Konflikte. Hier wird sichtbar, wer die Macht hat sich zu manifestieren oder, auf Dauer gesehen, sich zu behaupten. Das Symbol für dieses Vermögen sind heute die sichtbare Präsenz von Moscheen, sie dokumentieren, dass Muslime in Deutschland nicht nur als private Individuen exis­tieren, sondern auch gemeinsam in der Öffentlichkeit handeln. Diese Macht, wenn man so will, ist heute nicht un­bestritten, im Gegenteil sie wird von ­national-identitären Bewegungen zunehmend in Frage gestellt. Natürlich ist es legitim, dass Muslime sich organisieren und gemeinsam handeln. Hannah Arendt beschreibt diese Notwendigkeit in ihrem Hauptwerk, Vita Aktiva, wie folgt: „Macht aber besitzt eigentlich ­niemand, sie entsteht zwischen Menschen, wenn sie zusammen handeln, und sie verschwindet, sobald sie sich wieder zerstreuen.“
Die Krise muslimischer Organisationen, von der Zahl ihrer Mitglieder ­betrachtet mit einigem Machtpotential ausgestattet, trifft hier mit einem wachsenden Misstrauen gegenüber dem öffentlichen, sagen wir politischen Islam zusammen. Muslime die heute öffentlich wirken, fallen schnell unter den Verdacht des machtorientierten, politischen Islam. Sie treffen zunehmend auf die Forderung nach einer entpolitisierten, privaten ­Religionsausübung. Ob die islamische Lebenspraxis, man denke nur an das ­Freitagsgebet oder das Gebot die Zakat öffentlich zu verteilen, überhaupt nur privat sein kann, ist eine weitere Frage und Gegenstand öffentlicher Debatten.
Der Anspruch eines unpolitischen ­Islam trifft zudem auf ein weiteres Paradox. Institutionen wie die deutsche Islamkonferenz, fordern die Zurückweisung des politischen Islam und rufen gleichzeitig „politisch“ zu einem Bekenntnis auf, insbesondere zu einem Engagement für die Demokratie und die Zivilgesellschaft. ­Islamische Verbände sollen ihre Macht nicht gänzlich verlieren, aber eben für die richtige Sache einsetzen. Gleichzeitig entstehen muslimische Initiativen, die sich auf bestimmte zivilgesellschaftliche Beiträge beschränken.
Vielleicht ist es nun an der Zeit das Dilemma zwischen innerer und äußerer Wirklichkeit, zwischen privater und ­öffentlicher Präsenz tiefer zu fassen. ­Dieses Problem ist, wie sich zeigen wird, kein exklusives Problem der Muslime, sondern ein Grundsätzliches. Schon Nietzsche beschrieb das Problem des ­modernen Menschen, aus seiner Sicht in einer Welt ohne Gott, das innere und äußere Gleichgewicht zu wahren. Wir erleben so, nach dem Philosophen, einen „merkwürdigen Gegensatz eines Inneren, dem kein Äußeres, eines Äußeren, dem kein Inneres entspricht. Ein Gegensatz, den die alten Völker nicht kannten.“
Man mag hier hinzufügen, einen ­Gegensatz, den auch muslimische Zivilisationen lange nicht kannten. Über Jahrhunderte waren zum Beispiel ihre Moscheeanlagen nicht nur Verortungen innerer Spiritualität, sondern ebenso ­öffentliche Plätze des Handelns, der ­Vorsorge und der sozialen Umsicht. Über Jahrhunderte war keine islamische Stadt denkbar, die in ihrem Mittelpunkt nicht eine Moschee, Stiftungen und einen Marktplatz hatte. Entsprechend drehen sich islamische Gesetzlichkeiten nicht nur um die korrekte Ausübung des Gebetsrituals, sondern auch um die Gestaltung von Verträgen und Marktgesetzen.
Wenn heute die neue Rechte die ­„Islamisierung“ Europas befürchtet und letztlich den Rückzug der Muslime aus dem Öffentlichen Raum fordert, fällt auf, dass die Angst von einer Umsetzung ­islamischer Lebenswirklichkeit, eigentlich de facto kein Beispiel hat.
Bisher ist ­muslimisch-öffentliche ­Präsenz nur auf die Einrichtung von ­Moscheen beschränkt – Stiftungen oder Marktplätze wird man dagegen kaum entdecken. In vielen Großstädten leben Muslime in ­Bezirken, die gerade nicht durch eine muslimische Infrastruktur, sondern eher durch eine trostlose ­Großstadtarchitektur geprägt ist. Dabei ist gerne zugestanden, dass gerade diese Lebenswirklichkeit auch ein guter Nährboden für die weltabgewandte Ideolo­gisierung von Muslimen ist. Das Bild des herzlosen Ideologen, der von einem ­islamischen System träumt, ist Sinnbild dieser Lage.
Es mag überraschen, dass sich eine erste Beschreibung dieser gesellschaftlichen und psychologischen Misere in der ­Dichtung Rainer Maria Rilkes findet. In seinem Gedicht der „Panther“ (1903) ­beschreibt er das Schicksal eines Tieres, das er in Paris hinter den Gittern seines Gefängnisses beschreibt. Der Wille des Panthers ist nicht nur innerlich gefangen, sondern er ist auch von der Außenwelt abgeschottet. Wenig überraschend ändert sich sein natürliches Verhalten. Rilke’s Gedicht, wie man heute weiß, stellt eine erste Beschreibung des Phänomens der Depression dar und endet mit den ­Zeilen:
„Nur manchmal schiebt der ­Vorhang der Pupille
sich lautlos auf — Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille —
und hört im Herzen auf zu sein.“
Die Metapher mag auch an das Los heutiger Muslime in den Ghettos Frankreichs erinnern. Ihr „muslimischer Wille“ führt hier dazu, bestimmte Ausdrucksformen islamischer Praxis manisch zu ­betonen und gleichzeitig die Außenwelt als Bild zu empfangen, dass „im Herzen aufhört zu sein“. Die ganze Tragik zeigt sich in der Existenz eines Pseudo-Kalifen, der eine kleine Wohnung in einem Hochhaus bewohnt.
Das Verhältnis von Innen und Außen beschäftigte Rilke ein Leben lang. In den berühmten Duineser Elegien versucht Rilke eine neue Form der Identität, eine Verbindung des Herzens mit den Phänomenen der Außenwelt zu bilden. Er nennt diesen Raum einer erneuerten ­Einheit „Weltinnenraum“. Rainer Maria Rilke reißt so auf seine Weise, die Gitter, die den Panther umgeben, ein. Für den deutschen Schriftsteller Erich Heller ist der Poet „ein Noah, der eine unsichtbare Arche der Innerlichkeit zimmert, um ­darin das reine Wesen der Schöpfung vor der Sintflut zu retten, die draußen tobt und den Sinn der aller Dinge ertränkt“.
In der 7. Elegie nimmt Rilke das Thema wiederum auf, und sieht – insoweit ein Kritiker der Moderne – das Außen überhaupt schwinden: „Nirgends Geliebte, wird Welt sein, als innen. Unser Leben geht hin mit Verwandlung. Und immer geringer schwindet das Außen.“ Zur Deutung wichtig ist hier ein Brief, den er am 13.11.1925 an seinen polnischen Übersetzer Witold Hulewicz, der ihn um Erläuterungen seiner Elegien gebeten ­hatte, zu lesen. Dort heißt es: „Unsere Aufgabe ist es, diese vorläufige, hinfällige Erde uns so tief, so leidenschaftlich ­einzuprägen, daß ihr Wesen in uns unsichtbar wieder aufersteht. Wir sind die Bienen des Unsichtbaren.“
Mancher Muslim wird wohl die Skepsis Rilkes über die Erscheinungen der technisierten Welt teilen und vielleicht auch mit der Idee „eine Biene des ­Unsichtbaren“ zu sein sympathisieren. Man entdeckt heute gerade bei Muslimen einen Trend das Diesseitige überhaupt zu entwerten und die eigene Praxis nur noch als rein spirituelle Übung, ohne den Anspruch auf öffentliche Wirkung, zu begreifen. Der Trend, die Welt als gottlos und sinnentleert zu erfahren, widerspricht allerdings der grundlegenden ­Absicht Nietzsches und Rilkes, die mit ihren geistigen Werken die Sinnentleerung des Diesseits gerade abwenden wollten. Denkt man insoweit Rilke’s Gedicht über den Panther und seine Erfahrungen der Innerlichkeit in den Elegien zusammen, fragt man sich, aus muslimischer Sicht, nach der Balance von Innen und Außen. Ist der Islam eine Religion der abstrakten Moral und reinen Innerlichkeit, oder führt die Praxis in ein aktives Leben und in einen Gemeinsinn, der für Europa akzeptabel ist?
Wenn man die letztere Variante ­bevorzugt, wird man allerdings die ­Grenze zur ideologischen Umsetzung ziehen müssen. Um die gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber dem gesellschaftlichen Engagement von Muslimen zu erhöhen, gilt es zunächst die ganzheitliche Dimension, die Zielrichtung innerer und äußerer islamischer Gebote zu erklären, aber auch mit den Vorwürfen umzugehen, die heute mit dem politischen Islam einhergehen. Um es mit dem Bild des Panthers zu sagen, es ist zu klären, wie die Gitter eingerissen werden und wie der innere Wille von Muslimen heute „politisch“ nach außen dringen kann. Das jüngste Beispiel des Islamischen Staates hat ­abgründig bewiesen, dass dabei auch Muslime fähig sind, den Anderen hinter Gitter zu bringen.
Es ist also eine Selbstanalyse notwendig, die sich der Frage stellen muss, ­warum heute der sogenannte politische Islam mit Bürgerkrieg, Diktatur und ­Terror verknüpft wird. Nichts Anderes ist notwendig, als das Verhältnis von ­Innen und Außen neu zu justieren. Dabei gilt es auch darüber nachzudenken, ob Muslime nicht in erster Linie auf Seite der Zivilgesellschaft stehen sollten, gerade auch in den heute so bezeichneten ­islamischen Staaten. Es ist alles andere als ein Zufall, dass moderne islamische ­Parteiungen die Etablierung von Märkten oder Stiftungen, die die islamische Zi­vilgesellschaft gerade ausmachen, in ­ihrem Machtanspruch immer wieder ­vernachlässigen.
Auch aus der Sicht der Mehrheitsgesellschaft sollte es von größtem Interesse sein, dass Muslime eine Balance zwischen Innen und Außen finden. Hierzu gehört, dass gesellschaftliche Engagement von Muslimen, dass auf eigene Räume und Lebenswirklichkeit abzielt, nicht generell zu diffamieren. Muslime wiederum müssen klarer machen, dass ihre angestrebte Lebenswirklichkeit das öffentliche Leben bereichern kann. Wenn Muslime die Bienen des Unsichtbaren sind, dann muss auch der Honig in die diesseitige Realität einfließen.

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Islamkonferenz beschäftigt Freund und Feind

„Der Staat moderiert hier, (…) und schafft gleichzeitig praktisch, durch die aktive Integration von Islamkritikern, eine dialektische Atmosphäre. Durch die aktive Positionierung relativ kleiner Organi­sationen und Gruppen als Gegenspieler zu den etablierten, mitgliedsstarken Verbänden wird die Vertretungsmacht dieser Organisationen zudem weiter in Frage gestellt.“
(iz). Es war das mit Spannung er­wartete Medienspektakel. Der deutsche Bundesinnenminister Horst Seehofer eröffnete die DIK und setzte zunächst auf einen versöhnlichen Ton. In seiner Grundsatzrede mied der konservative Politiker zunächst die ­erneute Formulierung seiner strittigen These, dass der Islam nicht zu Deutschland gehöre, stattdessen betonte er ­ausdrücklich die Zugehörigkeit der ­deutschen Muslime in die deutsche ­Gesellschaft. Seehofer verzichtete auch auf die seit dem 11. September üblichen Assoziationsketten, die deutsche Muslime immer wieder in den Kontext von ­Terroristen und Kriminellen setzen. Dem Minister gelang es so in einer guten Rede für eine pragmatische Fortführung der Debatten um die Rolle der Muslime in Deutschland zu werben.
Die eigentliche Pointe dieser Kon­ferenz stellte Seehofer zentral vor. Sie liegt in der Beteiligung – neben den muslimischen Verbänden – von ausgewählten „säkularen, laizistischen und liberalen“ Muslimen, die, wie er ausführte „sich ­allerdings genauso betroffen von Fragen wie der Wahrnehmung der Muslime und des Islams in unserer Gesellschaft, dem Zusammenleben der verschiedenen ­Religionen oder der Integration von ­Zuwanderern aus islamischen Staaten fühlen“.
Damit war die Ausrichtung und gleichzeitig die Problematik dieser Konferenz klar: sie soll nicht nur als Plattform für den Dialog zwischen Staat und Muslimen dienen, sondern auch als Forum für eine innermuslimische Verständigung über die künftige Identität deutscher Muslime herhalten. Der Staat moderiert hier, gibt sich theoretisch neutral und schafft gleichzeitig praktisch, durch die aktive Integration von Islamkritikern, eine dialektische Atmosphäre. Durch die aktive Positionierung relativ kleiner ­Organisationen und Gruppen als Gegenspieler zu den etablierten, mitglieds­starken Verbänden wird die Vertretungsmacht dieser Organisationen zudem weiter in Frage gestellt. Ob die Konferenz wirklich demokratisch legitimiert ist und die Mehrheitsverhältnisse innerhalb der muslimischen Gemeinschaft wiedergibt, bleibt somit ein Streitpunkt.
Was dieser neue Ansatz für die Praxis der Konferenz heißt wurde schnell in der Auftaktdiskussion deutlich. Auf der ­Bühne diskutierten zunächst Serap Güler, Horst Seehofer, Bülent Ücar und Aiman Mazyek über die Ausbildung von Imamen, die Rolle der Moscheegemeinden und weiteren wesentlichen Inhalten der Konferenz. In der Fragerunde gab es dann aus dem Publikum die zu erwartenden Stimmen der verbandskritischen Muslime, die zu Kontroversen führten, die, wie Seehofer spitzbübisch kommentierte, „ihn an den Streit auf deutschen Kirchentagen erinnerten“. Der Vergleich des CSU-Politikers hinkte ein wenig, denn natürlich würde weder die katholische, noch die evangelische Kirche in Deutschland sich vorschreiben lassen, mit wem und wie sie innerkirchlich zu diskutieren hat.
Wohin führt also dieses neue Format der Konferenz? Einerseits ermöglicht sie durchaus einen künftigen Konsens aller Teilnehmer, den Dr. Aydin Süer, der stellvertretende Vorsitzende der Alhambra Gesellschaft, in seinem Impulsvortrag auf der Auftaktveranstaltung der DIK so definierte: „Die Diaspora ist zu Ende. Wir leben nicht in der Fremde. Deutschland ist für uns Musliminnen und ­Muslime Heimat geworden.“ Die Islamkonferenz könnte mit diesem vorgeschlagenen Bekenntnis endlich deutlich ­machen, dass deutsche Muslime auch deutsche BürgerInnen sind und es an der Zeit ist, dieses Faktum der Geschichte anzuerkennen. Viel zu lange wurde ja das Phänomen deutscher Muslime allein ­unter dem Stichwort „Integration“ abgehandelt. In diesem Sinne hat die DIK nicht nur zweifellos eine wichtige gesellschaftliche Funktion, sondern auch eine Rolle als entscheidender Impulsgeber für künftige Debatten.
Andererseits zeigt aber gerade der ­Ablauf und die Organisation der Konferenz, dass diese Normalität des Verhältnisses zwischen Staat und Muslimen noch lange nicht erreicht ist. Man kommt nicht umhin, im Auswahlverfahren der Teilnehmer, in der Bestimmung von Themen und in der mangelnden Transparenz der Abläufe in erster Linie die ­starke Handschrift des Staates zu erkennen. Die vielbesungenen Muslime von der Basis, hatten jedenfalls kaum einen Einfluss auf die Auswahl der Teilnehmer, Themen und Verfahren. Den Muslimen gelingt es bisher kaum, auf dieser Plattform, ihre Themen oder ihren originären Beitrag, man denke nur an die Zakat, städtebauliche Visionen oder das Stiftungswesen, öffentlich darzustellen. Bisher wirkt der Anspruch der muslimischen Organisationen stark auf die Bereit­stellung von staatlichen Mitteln, zum Beispiel für die Ausbildung von Imamen, ausgerichtet.
Natürlich ist es kein Zufall und auch nicht die Schuld des Staates, dass die muslimische Community kaum Einfluss auf die Gestaltung der Konferenz hatte. Es ist auch wahr, dass bis heute innermuslimische Diskussionen – ohne Hilfe von außen – kaum stattgefunden haben. Geht man von den reinen Mitgliederzahlen aus, müsste eigentlich der Koordinationsrat der Muslime, der Dachverband der islamischen Religionsgemeinschaften, nach wie vor ein gewichtiges Wort im Kontext legitimer Vertretungsmacht der Muslime in Deutschland ­haben. Für die Bedeutung des Dachverbandes spricht auch, dass die für die Integration bedeutenden Moscheegemeinden in großer Zahl in seinen Mitgliedsverbänden organisiert sind. Allerdings ist dieses Gremium seit Jahren handlungsunfähig und war noch nicht einmal in der Lage einen Forderungskatalog oder ein Strategiepapier zu verabschieden. Auf den Ablauf der Konferenz schien der KRM jeden Einfluss verloren zu haben. In der Auftaktveranstaltung der DIK nahm dann auch nicht der aktuelle Vorsitzende des Koordinationsrates, sondern der Vorsitzende des Zentralrates der Muslime teil.
Tatsächlich zeigt gerade die Rolle Aiman Mazyeks auf der Konferenz das strategische Dilemma der organisierten Muslime auf. Der in den Medien omnipräsente Mazyek ist inzwischen das Gesicht der Muslime in der deutschen Öffentlichkeit, spricht aber de facto nur für den relativ kleinen Zentralrat der Muslime. Für eine echte Vertretungsmacht fehlt dem Vorsitzenden die Rückendeckung des KRM und für den ZMD selbst gibt es in dem Format der DIK nur eingeschränkte Möglichkeiten, sich selbst als eine eigenständige Religionsgemeinschaft zu profilieren.
Auch in seinem eigenen Verband sieht sich Mazyek nun wachsender Kritik ausgesetzt. „Viele Muslime an der Basis sind irritiert über die zum Teil ausgrenzende Berichterstattung innerhalb der DIK und diversen Versuchen etablierte Religionsgemeinschaften zu marginalisieren“ heißt es in einer Presseerklärung des Zentralrates. Auf Regionalkonferenzen will sich nun der ZMD-Vorstand verstärkt kritischen Fragen stellen und gemeinsam mit den Mitgliedsmoscheen Vorschläge erörtern, wie es in der DIK weitergehen soll. Damit zeigt der ZMD immerhin, dass er an einem Konsens mit seinen Mitg­liedern interessiert ist. Kein anderer ­Verband hat seine Positionen zur DIK ähnlich transparent überhaupt mit seinen Mitgliedern besprochen.
Soll die Islamkonferenz wirklich auf Dauer die Präsenz der deutschen Muslime prägen, dann wird es allerdings darauf ankommen die Basis, die Muslime selbst, mitzunehmen. Die Teilnehmer der Konferenz werden hier ihre Relevanz für den Prozess der Selbstfindung deutscher Muslime noch aufweisen müssen. Es spielt nicht nur eine Rolle, wie viele Mitglieder eine Formation hat – ganz ­bedeutungslos ist die innerislamische Wirkungsmacht ebenso wenig.
Viele Muslime befürchten nach wie vor, dass die Politisierung ihrer Präsenz und die Kategorisierung von Muslimen in „Liberale und Konservative“ auch auf Kosten der Lehre gehen könnte. Die Konferenz muss hier deutlich machen, dass sie nicht die Inhalte des Islam ausverhandeln will und kann. Hier liegt auch eine weitere Chance der Islamkonferenz. In vielen islamischen Ländern der Welt kann von einer freien Lehre nicht gesprochen werden. Sollte Deutschland einer unabhängigen, islamischen Wissenschaft Raum geben, würde dies auch viele Muslime beeindrucken. Interessant war auf der Konferenz insoweit, dass Professor Ucar diese Position der freien Lehre auch repräsentiert hat. Gegen den Zeitgeist gerichtet wies der Gelehrte die Wortkombination deutscher Islam zurück. Die Idee, dass Muslime sich aus­schließlich in Deutschland verorten ­lassen ist für ihn kaum vorstellbar. Der Islam ist und bleibt eine Weltreligion. Muslime sind Deutsche, Europäer und Weltbürger.