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Über die fünf Säulen hinaus

Ausgabe 280

Foto: Sufi Devran

„Glaube nicht, dass mit Fasten, Beten und der Hadsch / Dein Weg schon endet, du religiöser Mensch…“ (Niyazi Misri)
(iz). Der Mensch, an dessen Prophetie wir glauben, sagt, dass er uns nur aus einem Grund gesandt wurde: „Ich wurde gesandt, um das Wissen um den schönen Charakter zu vervollständigen.“ Alle Propheten, von Adam über Noah bis Jesus, stellen ein Mosaik im schönen Verhalten dar. Salomo beispielsweise steht für das schöne Verhalten im Reichtum, Jesus für das schöne Verhalten in der Armut. Sowohl Reichtum als auch Armut dürfen uns nicht daran hindern, wohltätig im Sinne Allahs zu sein. Wohltätigkeit ist nicht etwas, das sich auf Finanzielles beschränkt. „Das Lächeln ist eine Spende“, sagt Muhammad, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden. Wohltätigkeit zeigt sich mehr noch auf der Ebene des Verhaltens anderen Menschen gegenüber.
Muhammad, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden, hat sowohl Armut als auch Reichtum gesehen, sowohl Krankheit als auch Gesundheit, er war sowohl alleinstehend als auch verheiratet, war Vater, Onkel, Opa als auch öffentliche Person. Öffentliche Person als jemand, der zuerst für seine Vertrauenswürdigkeit bekannt war und als Weiser um Rat gefragt wurde, später auch als politisch aktiver Mensch. Durch sein zutiefst menschliches Verhalten hat er unzählige Poeten inspiriert. Ein Dichter sagte sinngemäß, dass nicht Muhammad rühmenswerter wird, wenn er ihn auf kunstvolle Weise lobt, sondern dass seine Gedichte rühmenswerter werden, wenn sie ihn zum Inhalt haben.
Maulana Dschalal ad-Din Rumi, der Mann, der als „Prophet der Liebe“ bezeichnet wird, nahm sich Muhammad zum Vorbild und hat diesem Vorbild nacheifernd gedichtet. Der Gesandte konnte selbst nicht dichten, doch hat er die Poesie nicht verboten. Unser Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe ging fälschlicherweise davon aus, dass Muhammad die Poesie „konsequent“ abgelehnt habe. Er hat dies bei Hammer-Purgstall gelesen, in dessen Werk „Geschichte der schönen Redekünste Persiens“. Hafiz Schirazi, der von Goethe als sein „Zwilling“ bezeichnet wurde, war ein liebender Muslim, der Allah und seinen Gesandten wie Muslime heute auch, liebte. Saadi Schirazi ebenso. Dieser wurde vom Volk der Aufklärung rezipiert und von vielen europäischen Autoren „ohne Angabe von Quellen geplündert“, so sagt es Hammer-Purgstall im bereits genannten Werk im Kapitel über Saadi. All dies sind Namen, die in Europa Bewunderung erfahren. Obwohl sie alle – streng formuliert – auch Muhammad gehorchten.
Der Hauptgrund, weshalb Muslime heute diesen Beispielen nicht mehr als Majorität folgen, ist leider der folgende: Sie sind bezüglich ihres Glaubens sehr unwissend. Der zeitgenössische Gelehrte Muhammed El-Konyevi sagt: „Einige Personen (damit meint er Muslime) behaupten, dass der Sufismus nicht notwendig sei. Diese Behauptung jedoch zeigt lediglich wie fremd diese Menschen der islamischen Religion und wie unwissend sie sind.“ Heutige Muslime haben kaum eine Verbindung zum Sufismus. Sie kennen das, wofür er steht, nicht. Der osmanische Dichter Niyazi Misri fasst in einer Strophe gut zusammen, warum Sufismus notwendig ist: „Glaube nicht, dass mit Fasten, Beten und der Hadsch / Dein Weg schon endet, du religiöser Mensch / Um ein vollkommener Mensch zu werden / Ist Verständnis notwendig.“
Sufismus ist der Versuch, das vorbildliche Verhalten Muhammads zu verstehen und es sich anzueignen. Wie soll ich mich in der Armut verhalten, wie im Reichtum? Wie als Onkel, wie als Neffe, wie als Vater – Muhammad ist von Allah auch deshalb als „Barmherzigkeit für alle Welten“ bezeichnet worden, weil er den Menschen eine Leuchte ist, ein Polarstern. Wilhelm von Humboldt spricht davon, dass es notwendig sei, sich in die verschiedensten Situationen zu begeben, um überhaupt in der Lage zu sein, die Wahrheit erkennen zu können. Er sagt: „Ich liebe jetzt neue Lagen. Der Grundsatz, dass man in vielen Lagen aller Art gewesen sein müsse, ist so fest in mir, dass mir jede, in der ich noch nicht war, schon darum angenehm ist.“
Humboldt hat recht. Neue Lagen sind notwendig, um sich zu bilden. Nur wissen viele nicht, wie sie sich in neuen Situationen und an unbekannten Orten verhalten sollen. Für jede Art von neuer Lage bietet Muhammad einen Leitfaden. Aus diesem Grund wurde er als letzter in einer Reihe von Propheten von Allah zu uns gesandt, er hat die Leitfäden, die uns einen Halt geben, vervollständigt. Von Muhammad und der durch ihn verkündeten Lehre beeinflusst entstand im Türkischen das Sprichwort: „Verschwiegenheit, Feinheit, Anstand und Anmut machen den Menschen allerorten zu einem Sultan.“
Gerade weil bei einigen Muslimen momentan diese Weisheiten nicht präsent sind, ist es den rassistischen Köpfen möglich, Stimmung gegen Muslime zu machen. Der Fehler, der hier unterläuft, ist die Art und Weise, wie kritisiert wird: Es wird beleidigt, es werden zynische, süffisante und ironische Kommentare – auch von Muslimen untereinander – geäußert. Dies entspricht weder dem Anstand, der Feinheit noch der Menschlichkeit. Wenn die Kritik taktvoll und elegant geäußert werden würde, würde sich vielleicht etwas bewegen, doch bisher ist dies nicht wirklich geschehen.
Das Verhalten des Gesandten und derjenigen, die der von ihm verkündeten Lehre folgen, sieht anders aus. Rumi, der von sich sagt, dass er ein Sklave des Qur’an sei, sagt in seinem Mathnawi: „Wer keine Achtung (Adab) besitzt, schadet nicht nur sich selbst, er setzt die ganze Welt in Flammen.“ Kant und Knigge würde dies bestätigen. Rumi spricht vom sufischen Aspekt der islamischen Lehre, dem Teil, der sich damit beschäftigt, den Charakter zu bilden. Gebet, Fasten und in Mekka das von Abraham erbaute Heiligtum zu umkreisen reichen nicht aus, um ein guter Mensch, und schon gar nicht, um ein guter Muslim zu werden. Der Poet, der von Annemarie Schimmel zahlreich übersetzt wurde, Yunus Emre, sagt in einem Gedicht: „Yunus sagt: O Hodscha! Wenn du willst, mach tausend Hadsch, Besser als all dieses ist’s, Einzugehen in ein Herz.“
Wir brechen Herzen anderer Menschen, verletzten sie, beleidigen sie – warum? Weil wir witzig, zynisch, ironisch sein wollen. Das ist dann nicht unzivilisiert, wenn es um Freunde und Bekannte geht, die es nicht missverstehen würden, doch da, wo es missverstanden wird, ist es eben unmenschlich.
Der erste Muslim, der auf Türkisch die islamische Lehre vermittelt hat, war Hodscha Ahmed Yesevi. In der ersten Weisheit seines „Divans der Weisheit“ sagt er: „Sunna ist es, selbst wenn es ein Leugner (d.h. kein Muslim) ist, schade ihm nicht, / Der Ankläger all derer, die harten Herzens sind und Herzen brechen, ist Allah.“ Der Lehrer und Aufklärer der damaligen Türken hat davon abgeraten, herzlos und unbedacht zu sprechen, indem er darauf aufmerksam machte, dass Allah, der Schöne, mit solch einem Verhalten nicht zufrieden wäre, es gar verurteilt.
Was also ist nötig, um ein friedlicheres Miteinander der deutschen Gesellschaft zu ermöglichen: Menschen, die über ihr eigenes Verhalten reflektieren und die respektvolle Behandlung anderer  nicht von fremden, sondern von eigenen Prinzipien abhängig machen. Im Unterstellen von Absichten sind doch viele Weltmeister. Jeder meint zu wissen, warum wer was getan hat. „Er wollte doch nur…. Der will doch nur Geld… Er verbirgt seine wahre Absicht…“ usw. Goethe sagt über Menschen, die anderen etwas unterstellen, Folgendes: „Der missversteht die Himmlischen, der sie blutgierig wähnt, Er dichtet ihnen nur die eignen grausamen Begierden an.“ Anderen eine böswillige Absicht zu unterstellen, sagt mehr über den eigenen Charakter aus als über das Objekt des Vorwurfes. Viele Journalisten, die auch schon Heinrich Böll in seiner Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ anklagte, haben jedes Gefühl für Menschlichkeit und Empathie verloren. Sie sind lediglich daran interessiert „ihren Job“ zu machen und meinen, die Auswirkungen müssten andere ausbaden. Dies ist widerlich und hat eben nichts mit Pressefreiheit zu tun. Ressentiments in der Gesellschaft zu schüren stellt einen Missbrauch der Pressefreiheit dar. Wo Ressentiments geschürt werden, ist keine Neutralität vorhanden; da mögen die jeweiligen Parteien noch so sehr behaupten, sie seien neutral.
Doch diese Menschen zu verfluchten und die Zeit damit zu vergeuden, sie zu beschimpfen, ist ebenso achtungslos (ohne Adab). Diese Zeit kann dafür genutzt werden, etwas Produktiveres zu tun. Edebali, ebenfalls jemand, der versuchte, vorbildliches Verhalten zu zeigen, sagte: „Das Tier stirbt, der Sattel bleibt. Der Mensch stirbt, sein Werk bleibt. Nicht derjenige, der geht, ist zu beweinen, sondern der, der kein Werk hinterlässt. Und dort, wo der Gegangene aufhörte, dort muss weitergemacht werden.“ Prof. Dr. Fuat Sezgin – um ein Beispiel, zu nennen – ist gegangen und nun braucht es Menschen, die dort weitermachen, wo er aufhörte.
Ein Werk ist: Ein Buch, das übersetzt wird; ein Buch, das geschrieben wird; ein Mensch, der ausgebildet wird; eine Erfindung; technologischer Fortschritt; eine Stiftung; ein Baum, der Früchte spendet. Sie werden auch im Jenseits den Initiatoren helfen.
Wer Wahres und Schönes durch seine Handlungen wiederbelebt, muss sich jedoch vor einigen Gefahren hüten: Hochmut, Selbstgefälligkeit, vor Scheinheiligkeit. Denn Sufismus ist mehr noch, als Muhammad in äußerlichen Handlungen in Form von Gebeten, Fasten und schönen Verhaltensweisen nachzuahmen. Sufismus ist der Versuch, seine Geisteshaltung einzunehmen. Nicht, um Ansehen zu erheischen, finanzielle Vorteile zu erwerben, eine Frau oder einen Mann zu beeindrucken oder aufgrund anderer weltlicher Wünsche zu tun, sondern einzig und allein für Allah, den über alle Teilhaber Erhabenen.
Wer den Qur’an rhythmisch schön rezitieren kann, genießt hohes Ansehen bei Menschen. Wenn dieses Ansehen beabsichtigt wurde, stellt sie bei Allah, dem einzig Anbetungswürdigen, keine aufrichtige Handlung dar. Für das Auge ist es jedoch nicht sichtbar, welche Absicht jemand hat. Aus diesem Grund kann nur Allah erkennen, ob jemand aufrichtig ist oder nicht. Doch wenn ein Mensch es nicht ist, so ist er scheinheilig. Dies wird im Jenseits aufgedeckt werden, da es für andere Menschen nicht sichtbar ist. Aus diesem Grund ist es verboten, anderen eine böse Absicht zu unterstellen. Es ist verboten, die Aktivitäten anderer zu verurteilen. In diesem Sinne sagt der große Schams, der Lehrmeister des ehrenwerten Rumi: „Zu dem Zeitpunkt, als meine Gutmütigkeit als ein Übel wahrgenommen wurde, wusste ich, dass ich auf dem richtigen Weg bin.“ Anderen in an sich schönen Aktivitäten böse Absichten zu unterstellen, zeugt von eigener Verderbtheit. In Aktivitäten, die sich in der Sunna nicht nur nicht finden lassen, sondern den Akteur und andere von ihr entfernen, lässt sich nichts Schönes hineinlegen. Der Geist, aus dem heraus sie entstanden sind, ist entweder unwissend oder böswillig. Letzteres deutet wiederum ebenfalls auf Unwissenheit hin, da nur unwissende Menschen böswillig sind.
Geisteshaltung bedeutet mehr, als nur schöne Ziele zu beabsichtigen. Wer sich Muhammads Geisteshaltung zu eigen machen möchte, der muss in allen Objekten gewillt sein, das Gute und Schöne zu erblicken und zu Tage zu fördern. So tat er es. Der Gipfel der Weisheit sagte: „Gutes zu denken (husnu dhann) ist eine Spur der Reife in der Ergebenheit.“ (Abu Dawud, Ahmed b, Hanbal) Ein Beispiel: Wer sich freut, wie ein anderer einen Fehler begeht, der besitzt den Charakter eines Teufels. Gutes zu denken wäre es, davon auszugehen, dass die Person sich bessert und bei Allah einen hohen Rang innehat. Folgende Strophe Yunus Emres fasst zusammen, was Sufismus und die Geisteshaltung Muhammads ist: „Die Kunst liegt darin, das Schöne zu erblicken, In das Geheimnis der Liebe einzudringen, Die Welt, das Universum, alle sollen wissen: Der höchste Gottesdienst (Ibada) ist es, zu lieben.“