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Unsere Phantomdebatten oder die Angst des Vaters?

Ausgabe 276

(iz). Heranwachsende gelten im Islam generell als verantwortlich (baligh), wenn das Mädchen zum ersten Mal seine Tage bekommt oder wenn der Junge zum ersten Mal einen feuchten Traum hat. In der Tradition gab es aber auch die Praxis, dass man darauf schaute, wie weit entwickelt die mentale Reife war, bevor man Dinge verpflichtend für jemanden machte.
Für die frühen Muslime war die Bedeckung ­heranwachsender Frauen Zeichen der Pubertät, sie waren nicht mehr Kind. Die Fähigkeit, ­Entscheidungen zu treffen ging mit einem ­körperlich-sexuellen und mentalen Reifungs­prozess einher.
Zum anderen hatte der Hidschab keine rein ­sexuelle Konnotation. Musliminnen sollten erkannt werden – als freie, gläubige Frauen. Nicht, um Sklavinnen zu erniedrigen, sondern um das Miteinander im öffentlichen Raum zu erleichtern. Eine muslimische Frau konnte ­Handel treiben sowie anderen Tätigkeiten nachgehen und hatte besondere Anforderungen an Männer, die sie heiraten wollten wie auch klare Umgangsformen mit Fremden, Freunden und Verwandten. Diese dienten dem Schutz und der Würde der Frauen – somit der Gesellschaft als Ganze.
Heute erleben wir jedoch eine Hypersexuali­sierung der weiblichen Form. Viele der heutigen Praktiken der Muslime, die den weiblichen Körper als Quelle der Unzucht und anderer Übel betrachten, und ihn somit „bändigen“ wollen, stammten aus frauenfeindlichen Quellen. Jedoch werden sie als islamisch interpretiert – von Muslimen wie auch Nichtmuslimen.
Wenn insbesondere Väter ihre vorpubertären Töchter dazu erziehen oder zwingen, ein Kopftuch zu tragen, obwohl keine islamische Grundlage dafür besteht, dann ist dies Ausdruck eben dieser Sexualisierung und der Angst des machtlosen Vaters, der seine Tochter in die Hände des Staates, „der Deutschen“ oder „der Gesellschaft“ abgeben muss, da er de facto seine Rolle als ­Erzieher und Beschützer im Alltag zu großen Teilen an sie abgeben muss. Das Tuch als ­Symbol der sexuellen Reinheit der Tochter gilt für ihn womöglich als letzter Versuch von „ich habe hier das Sagen!“ und ist Ausdruck eines gewissen Ressentiments. Der Hidschab wird ­somit in ein politisches Feld geworfen.
Gleichzeitig wollen nun auch der Staat und die Gesellschaft „wir haben hier das Sagen!“ rufen. Auch sie wollen auf das muslimische Mädchen Macht ausüben und über seine Kleidung bestimmen. Sie folgen derselben Logik, denn auch sie diskutieren den Körper eines Kindes in einem sexualisierten Kontext, der dort absolut nichts verloren hat.
Kinder werden immer früher mit Sexualität in Kontakt gebracht. Selbst GrundschülerInnen kommen Umfragen zufolge mit pornographischen Inhalten in Berührung und denken, dies sei Sex, wie er sein sollte. Diese Erfahrungen werden oft als Normalität angesehen. Dass dabei vor allem Mädchen Gewalt erfahren – Jungs verlangen von ihnen oft das, was sie in den ­Pornos sehen –, ist das eigentliche Problem ­unserer Gesellschaft.
Wir sind übersexualisiert. Ob wir unseren Mädchen vorpubertär ein Kopftuch aufsetzen, um sie von „den Anderen“ abzugrenzen oder ob wir es hinnehmen, dass Kinder längst in der Verrohung im Umgang mit wie auch in der Debatte um Sexualität zu einem Faktor geworden sind, macht keinen wirklichen Unterschied. Dies sind nur zwei Seiten derselben Medaille.
Daher geht der Diskurs um das Kopftuch bei Kindern völlig am wirklichen und absolut ­desaströsen Problem unserer Zeit vorbei – der sexuellen Objektifizierung der Frau (und des Mädchens) als solche und somit der Perver­tierung sozialer Dynamiken.