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Vom Irrtum der Abstammung

Ausgabe 279

Foto: Archiv

(iz). Was fällt dir ein, wenn ich ‘Osmanisches Reich’ sage?“ – die Antworten ähneln sich: 1453, Wien oder Weltmacht. Sie beweisen die Ahnungslosigkeit darüber, was die osmanische Bevölkerung ausgemacht hat. Sich nicht über Geld und Ansehen zu definieren; die Meinung der Menschen zu respektieren, doch die Meinung Allahs über einen selbst am höchsten zu halten und in diesem Sinne tätig sein; ein Bittgebet als Geschenk anzusehen; ein funktionierender Vielvölkerstaat, der Flüchtlinge aufnimmt; ein Staat, der zu keiner Zeit ein Feudalwesen kennt; ein Staat, der die Ständegesellschaft überall abzuschaffen suchte; kein Nationalismus. Dies sind einige auf das Osmanische Reich zutreffende Beschreibungen. Fragt man heute einen Türkischstämmigen, so kann er viele davon nennen.
Beim Versuch eines Muslims, jemanden zu heiraten, der oder die einer anderen Nationalität zugehörig ist, tritt ein Denken zum Vorschein, das so nicht in der islamischen Lehre vorhanden ist. Zur Zeit des Abbasidenkalifen Harun Raschid fragte eben dieser den Gelehrten Imam Yusuf, einen Schüler Abu Hanifas: „Zu welchem Volk gehörst du?“ Und er antwortete: „Zum islamischen Volk.“ Das heißt in Gänze übersetzt: „Zum gottergebenen Volk.“ Der Begriff Islam wird in der Regel nicht übersetzt. So wird ­damit eine Religion bezeichnet.
Doch im Selbstverständnis der Lehre bedeutet der Begriff lediglich Gottergebenheit. Kein römisches, griechisches, deutsches, kein türkisches, kein persisches, kein arabisches Volk ist einem ­anderen überlegen. Lediglich die Persönlichkeit eines Menschen verdient es, ­gelobt oder getadelt zu werden. Der Mensch sucht sich die biologische oder kulturelle Zugehörigkeit nicht selbst aus. Was er sich aussucht und wofür er sich aus freien Stücken entscheiden kann, ist die Zugehörigkeit zu einem Glauben. Muhammad hat mit seinem Auftreten die Idee der Abstammung völlig in Frage gestellt und abgeschafft. Seinen Schwiegersohn, Ali ibn Abu Talib, bezeichnete er als die „Pforte des Wissens“. Und eben dieser Ali, möge Allah zufrieden mit ihm sein, sagt in einem Gedicht: „Ganz gleich, von wem du abstammst: Bilde dir deine Persönlichkeit, Mit der Persönlichkeit besiegst du die Idee der Abstammung! Derjenige bildet sich seine Persönlichkeit nicht, Dem es wichtig ist, von wem er abstammt, Der, der guter Sprache und Erziehung beraubt blieb. (…) Oh, du Unwissender, der du dich mit deiner ­Rasse rühmst, Von einer Mutter und ­einem Vater ist die Abstammung, wisse dies. Wert, gelobt zu werden, ist der ­Verstand, ist das Schamgefühl, Ist eine gute Erziehung und sich vor seinem Ego (Nafs) zu hüten.“
Die Aussagen der Pforte des Wissens sind eindeutig. Nur leider sind diese ­Gedichte nicht auf Deutsch erhältlich. Es gibt sie auf Arabisch und auf Türkisch. Doch wer macht sich die Mühe, sie zu suchen und zu lesen? Leider ist meine persönliche Erfahrung die, dass Arabisch- und Türkischkundige lieber Filme und Serien anschauen, als sich die scheinbar zu anspruchsvollen Werke der Literaturgeschichte, die nur darauf warten, rezipiert zu werden, zu Gemüte zu führen. Ein Fehler, der behoben werden sollte – ja sogar behoben werden muss.
In weiteren Versen sagt Ali, möge Allah zufrieden mit hm sein: „Wer sich mit der islamischen Lehre nicht erzieht, Der wird sich oftmals irren im Streben, Wird mit Qualen, Schmerzen und Trübnis leben.“
Die islamische Lehre, von der Ali, die Pforte des Wissens, spricht, scheint etwas zu sein, was heute nicht mehr existiert. Muslime sind mit anderen unzufrieden, geben anderen die Schuld und beklagen sich unentwegt und meinen, dies sei der Beweis dafür, dass sie auf dem richtigen Weg seien, weil ja auch Muhammad gelitten habe. Allah bewahre uns vor solch einer hochmütigen Unwissenheit! Die Muslime sind stolz auf ihre nationale Geschichte, auf nationale Reichtümer. Doch aufrichtig wäre es, stolz auf die muslimische Geschichte als solche zu sein. Das heißt, auf die Leistung Abu Bakrs, Umars, Uthmans und Alis, auf die der Umajjaden und die der Abbasiden oder der Seldschuken. Letztere beispielsweise gründeten eine Madrassa, in der die Schiiten ihrer Wissensmethode nachgehen konnten. Ihre Art, mit den Streitereien der unterschiedlichen Rechtsschulen umzugehen, ist vorbildlich und nachahmungswert.
Das Vorbild doch, das heute am ­nächsten an unserer Zeit dran ist, ist das der Osmanen. Ihr Untergang ebnete den Weg der Spaltung, wie sie die islamische Geschichte noch nicht erlebt hatte. Nach ihnen haben die nationalen Kämpfe auch innerhalb der Muslime begonnen. Das, was aus Europa bekannt war, schwappte über. In die Ideenwelt, in die Gedanken der Muslime. Der muslimische Dichter Yunus Emre sagte: „Wer auf 72 Nationen Nicht mit demselben Auge blickt, Der lehnt sich gegen Allah auf, Selbst wenn er das Volk zu unterrichten scheint.“
Er spielt auf einen Ausspruch des ­Geliebten Allahs an, der sagte, dass seine Gemeinde sich in 72 Gruppierungen aufteilen wird. Yunus Emre deutet damit an, dass das der Sunna entspringende menschenfreundliche Verhalten das Hauptmerkmal derjenigen ist, die dem Vorbild des Geliebten Allahs folgen. In einem anderen Gedicht sagt, Ali, einer der eifrigsten Schüler des Geliebten Allahs: „Jemand, der sich mit seiner Abstammung rühmen möchte, Der soll wissen: Er stammt von Lehm und Wasser ab! Vorzug und Überlegenheit besitzen die Leute des Wissens, Diejenigen, die den wahren Weg fanden und ihn weisen. Das Gute, das jemand tut, macht den Wert einer Person aus, Unwissenheit lässt die Unwissenden zu Feinden des Wissens werden.“
Wer nach Wissen handelt, sich mit der islamischen Lehre erzieht, dem ist die biologische Nation, der jemand angehört, völlig egal. Allah, der Rechtleitende, sagt im Qur‘an: „Die Gläubigen sind ja Geschwister.“
Diejenigen Muslime, die eine Sprache sprechen, dürfen dies nicht als Privileg ansehen, das ihnen Sonderrechte einräumt. Sie müssen es als Verantwortung ansehen, das Wissen, das ihnen offenliegt, auch denen zu übermitteln, die keinen Zugang haben, etwa aufgrund einer Sprachbarriere. Allah, der Helfende, liebt jene Geschöpfe am liebsten, die seinen übrigen Geschöpfen zu Diensten sind. Vermittlung von Wissen ist eine solch wertvolle und den Vermittelnden erhöhende Aufgabe, dass der Geliebte des Wahren, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden, sagte: „Die Vorzüge des Wissens übersteigen die Vorzüge der Gottesdienste.“
Es ist an der Zeit, über die letzte hohe Zivilisation der Muslime hinauszuwachsen. Denn eine Sache, welche die Osmanen leider versäumt zu haben scheinen, sind Übersetzungen. Wieso wurden die Werke nicht in europäische Sprachen übersetzt? Dies muss nachgeholt werden, um Vermittlung möglich zu machen. Türkischstämmige müssen von ihrem hohen Ross herunterkommen, auf dem sie sich wähnen, weil sie von den Osmanen abstammen. Sie waren es auch, die Abdulhamid II. abgesetzt haben. Das ­waren nicht die Arabischstämmigen. Sie selbst waren es. Die Arabischstämmigen müssen anerkennen und würdigen, dass die Türkischstämmigen lange Zeit die Aufgabe nach den Abbasiden übernommen haben und die Muslime und viele andere Menschen wohlbehütet haben.
Menschen, die dieselben Gefühle ­teilen, darf die Sprache nicht trennen. Bosnier, Deutsche, Engländer, US-Amerikaner, Spanier, Indonesier, Brasilianer… es gibt so viele verschiedene Muslime. Der Angesehenste unter ihnen ist derjenige, der am meisten Achtung vor Allah besitzt. Niemand wird nach seiner biologischen Rasse zur Rechenschaft gezogen, doch alle werden nach ihrem Verhalten befragt werden. Wer einem anderen Muslim das Herz bricht, nur weil er auf einem anderen Teil derselben Erde geboren wurde, offenbart seinen Mangel an Verstand. Dies sagt Allah, der Gerechte, in Seinem Buch, dies sagt Muhammad, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden, dies sagt Ali ibn Abu Talib, die Pforte des Wissens, und noch viele mehr.
Das heißt, dass ich in meiner Sprache acht gebe darauf, das Muslimsein nicht Arabern und Türken vorzubehalten. Als ob kein anderer Muslim sein könnte… Ich spreche nicht von „weißen Männern“, von „den Europäern“ usw., sondern nehme mir die Weisheiten der Gedichte Alis, möge Allah zufrieden mit ihm sein, zu Herzen. Sie sind eine zeitlose Leuchte, die unsere verdunkelten Gedanken erhellt: Muhammad, der Geliebte des Wahren, hat die Idee der Abstammung, der Standeszugehörigkeit, der Stammeszugehörigkeit und ihre weiteren Erscheinungsformen, wie es einem Aufklärer gebührt, abgeschafft. Es ist an der Zeit, sie nun auch in unseren Gedanken und unserer Sprache abzuschaffen.