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Will Berlin trotz Biden mehr globalen Einfluss?

Foto: UN Photo/Loey Felipe

BERLIN/WASHINGTON (GFP.com). Die Bundesregierung stellt anlässlich der gestrigen Amtseinführung von US-Präsident Joe Biden eine engere transatlantische Kooperation in Aussicht und beharrt zugleich in zentralen Streitpunkten auf Eigenständigkeit. Trotz aller Zusammenarbeit werde man nicht „mit der neuen Administration immer einer Meinung sein“, teilt Außenminister Heiko Maas mit: Schließlich habe „Europa“ eigene Interessen.

Kurz vor dem Personalwechsel im Weißen Haus hat die EU mit der Einigung auf ein Investitionsabkommen mit China dem US-“Decoupling“, auf das auch die Biden-Administration setzt, eine klare Absage erteilt. Gestern hat darüber hinaus ein führender CDU-Außenpolitiker ein Plädoyer für eine neue Zusammenarbeit mit Russland publiziert, die Washington klar ablehnt.

Beim Streben nach einer eigenständigen EU-Weltmachtposition können Berlin und Brüssel sich auf eine Mehrheit in der Bevölkerung stützen. So sprechen sich laut einer aktuellen Umfrage 67 Prozent der Bewohner von zehn EU-Staaten und Großbritannien für größere militärische Unabhängigkeit aus; zwei Drittel lehnen es ab, sich im Machtkampf gegen China auf Seiten der USA zu positionieren.

USA: „Kaputt“

Die Umfrage, die nach der Wahl in den Vereinigten Staaten im Auftrag des European Council on Foreign Relations (ECFR) von Datapraxis und YouGov durchgeführt wurde, zeigt Ergebnisse, die in weiten Teilen als vorteilhaft für die Berliner Außenpolitik und ihr Streben nach einer größeren Eigenständigkeit der EU gelten können. Die Forderung nach größerer Eigenständigkeit hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel im Mai 2017 in die Parole gefasst: „Wir Europäer müssen unser Schicksal in die eigene Hand nehmen“.

In der Umfrage stimmten 67 Prozent der Ansicht zu, „Europa“ könne sich „nicht immer auf die USA verlassen“; es müsse deshalb nun die eigenen militärischen Kapazitäten stärken. Gegenteiliger Auffassung waren nur zehn Prozent.

Zugleich äußerten 61 Prozent, sie hielten das politische System der Vereinigten Staaten für „kaputt“; der Einschätzung, es funktioniere nach wie vor gut, schlossen sich lediglich 27 Prozent an. Ebenfalls nur 27 Prozent urteilten, man könne sich nach dem Wahlsieg von Donald Trump im November 2016 noch ernsthaft auf die USA verlassen. Durchschnittlich 32 Prozent, in Deutschland sogar 53 Prozent, verneinten dies.

Mehrheit für Neutralität

Recht widersprüchlich sind auch sonst die Auffassungen zum Bündnis mit den USA. Zwar waren 57 Prozent der Meinung, ihr Land sei zum Schutz vor einer Militärinvasion in gewissem Maß oder sogar sehr vom Schutz durch die Vereinigten Staaten abhängig. Dies entspricht der in Berlin dominanten Position, die Mitgliedschaft in der NATO sei – unbeschadet aller Bemühungen um den Aufbau eigener Streitkräfte in der EU – nach wie vor unabdingbar.

Gleichzeitig ist allerdings die Bereitschaft gering, sich in den Machtkämpfen zwischen den USA und Russland bzw. China klar auf die Seite Washingtons zu schlagen. Insgesamt gingen 57 Prozent davon aus, in zehn Jahren werde China „wahrscheinlich“ oder sogar „sicherlich“ mehr Macht innehaben als die Vereinigten Staaten; nur 19 Prozent waren vom Gegenteil überzeugt. Dennoch wünschten nur 22 Prozent (Deutschland: 16 Prozent), ihr Land solle sich bei einem konkreten Streit zwischen den USA und China auf US-Seite positionieren; 60 Prozent (Deutschland: 66 Prozent) plädierten dagegen für Neutralität. Fast identische Zahlen ergaben sich für einen Streit zwischen den USA und Russland: 23 Prozent verlangten eine Positionierung auf Seiten der Vereinigten Staaten (Deutschland: 16 Prozent), 59 Prozent (Deutschland: 66 Prozent) favorisierten jedoch Neutralität.

„Nicht immer einer Meinung“

Unabhängig von der Frage, wie sich Berlin und Brüssel im Konfliktfall tatsächlich entscheiden würden, bietet demnach die Stimmung in der Bevölkerung der Bundesregierung wie auch der EU Rückendeckung beim außenpolitischen Manövrieren. Prinzipiell wirbt das Berliner Establishment unverändert für eine enge Zusammenarbeit mit der neuen Biden-Administration. Außenminister Heiko Maas bekräftigte gestern, er gehe davon aus, dass es jetzt wieder eine bessere Kooperation zwischen Deutschland und den USA geben werde: Darauf deuteten „alle Signale“ hin, „die wir im Moment empfangen“.

Ähnlich äußerte sich der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen (CDU): „Im Stil, im Ton kann man jetzt wieder über alles reden.“ Dabei sagte Röttgen voraus, zahlreiche bisherige Streitpunkte blieben bestehen, etwa der Konflikt um die Höhe des deutschen Militärhaushalts und der Streit die Erdgaspipeline Nord Stream 2; diese Konflikte seien parteiunabhängig. Maas schloss sich an: „Es wird nicht so sein, dass wir mit der neuen Administration immer einer Meinung sein werden – weil wir in Europa natürlich auch unsere Interessen haben und die Situation in Europa oftmals auch nicht vergleichbar ist.“

Künftige Konflikte

Entsprechend haben die Bundesregierung und die EU-Kommission kurz vor dem Personalwechsel im Weißen Haus Positionen festgeklopft, die in Washington Widerspruch erregen. So hat sich die EU – auf maßgebliche Initiative der Bundesregierung – Ende Dezember, noch unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft, auf ein Investitionsabkommen mit China geeinigt, das nicht nur Unternehmen aus der Union das Chinageschäft erleichtern, sondern auch den US-Bemühungen um eine – von Berlin klar abgelehnte – wirtschaftliche Entkopplung („Decoupling“) von der Volksrepublik entgegenwirken soll.

Umgekehrt hat vor kurzem der künftige „Indo-Pazifik-Koordinator“ im Nationalen Sicherheitsrat der Vereinigten Staaten, Kurt Campbell, angekündigt, Washington werde an Chinas „gelenkter Entkopplung“ festhalten. Streit darüber ist ebenso absehbar wie bezüglich der am Dienstag vorgestellten Pläne der EU-Kommission, die Rolle des Euro im globalen Finanzsystem zu stärken und so die Dominanz des US-Dollar zu schwächen. Darüber hinaus hat Brüssel vor, die EU-Wirtschaft besser gegen Finanzsanktionen zu schützen – faktisch gegen solche der Vereinigten Staaten.

„Auf Russland zugehen“

Als Hinweis darauf, dass Berlin dezidiert auf Eigenständigkeit besteht, kann ein Namensartikel des stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Johann Wadephul gelten, den die zuverlässig transatlantisch orientierte Frankfurter Allgemeine Zeitung gestern druckte – am Tag der Amtseinführung von US-Präsident Biden. Wadephul erklärt darin, „politisch“ habe es „zu jeder Zeit Anknüpfungspunkte zur Zusammenarbeit“ mit Russland gegeben; es sei nun „an der Zeit, diese aufzugreifen“.

Die Forderung kommt zu einer Zeit, zu der der designierte US-Außenminister Antony Blinken Pläne mitgeteilt hat, die auf eine Verschärfung der Spannungen mit Moskau hinauslaufen; so spricht er sich etwa für einen NATO-Beitritt Georgiens aus. Wadephul weist darauf hin, dass Berlin NATO-Aufnahmegespräche mit Georgien bereits in der Vergangenheit verhindert hat, und plädiert für konkrete Schritte der Kooperation mit Russland – mit dem „Ziel eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes von Lissabon bis Wladiwostok“.

Die Forderung, die als ein rotes Tuch für Washington gelten kann, verbindet der CDU-Außenpolitiker mit dem Hinweis, es sei „nicht ausgemacht“, „auf welcher Seite“ Moskau im Großkonflikt zwischen dem Westen und China stehe; auch im Hinblick darauf solle die EU nun „auf Russland zugehen und Deutschland dazu den Anstoß geben“.