,

Debatte: Würde ist positiver als Ehre

Ausgabe 333

Würde
Foto: Internet Archive Book Images, via flickr | Lizenz: gemeinfrei 1.0

Während Ehre das Selbst ist, wie es von anderen wahrgenommen wird, wird Würde von Gott aufgrund unseres Menschseins verliehen.

(Renovatio). Kinder, vor allem in den ersten Lebensjahren, nehmen die Normen der Kultur, in der sie geboren und aufgewachsen sind, schnell auf. Ein wichtiger Teil dieser Einführung ist das Lernen der normativen Regeln für Sprache, Spiel, Respekt und Würde sowie der Normen des moralischen Empfindens. Die ersten Grundsätze, die sie aufnehmen, beziehen sich auf Grenzen, die von den Eltern oder Bezugspersonen gesetzt werden.

Wenn sie zum Beispiel zu sprechen beginnen, werden ihnen die Sprachregeln – wie die Subjekt-Verb-Übereinstimmung und die korrekte Verwendung der schwierigen, unregelmäßigen Verbkonjugationen – durch Korrekturen vermittelt.

Schon Kinder kennen Gerechtigkeit

Kinder widmen sich dem Spiel – ob daheim oder in der Schule. Ihre Spiele – mit verschlungenen Regeln, die Begriffe werden müssen – sind bedeutende Entwicklungswerkzeuge für sie. In Gesellschaft mit organisierten und komplexen Spielen stellen Schiedsrichter sicher, dass die Spieler die Regeln befolgen.

Kinder – natürlich frei von Verstellungen und Täuschungen – sind inhärent geneigt, Regeln ernst zu nehmen. Häufig reagieren sie entrüstet, wenn sie beobachten, wie andere sie offen missachten. Ihre Empörung – die Beobachtung der Ungerechtigkeit eines Betrügers – löst ihr moralisches Wachstum aus. Richtig und falsch werden zu gewichtigen Worten.

Foto: Pxhere.com

Unterschiedliche Kulturen – unterschiedliche Konzepte

Kulturen unterscheiden sich in ihrer Herangehensweise, wie sie Kindern das Gefühl für Recht und Unrecht vermitteln und festlegen, wie sie Rechte fördern und Unrecht wiedergutmachen können. Ein wesentlicher Unterschied hängt mit Religiosität oder ihrem Fehlen zusammen. In solchen, in denen viele religiös bleiben, führen Eltern oft biblisch abgeleitete Konzepte von Belohnung und Bestrafung ein.

Sie fördern Nachahmung prophetischer oder weiser Charaktere und warnen vor Gottes Zorn oder schlechtem Karma für diejenigen, die gegen Moralvorstellungen verstoßen beziehungsweise göttliche Sanktionen missachten.

Andere Kulturen, insbesondere die zeitgenössischen säkularen, haben einen eher humanistischen Ansatz. Sie argumentieren auf Grundlage moralischer Grundannahmen – wie die Wahrheit sagen. Diese gelten als selbsterklärend und manifestieren sich beim Handeln guter Menschen. Mit anderen Worten, diese Personen legen aufrichtiges moralisches Verhalten an den Tag, lügen nicht, stehlen nicht und halten sich an die Regeln des Gesetzes.

Jungen Menschen diese grundlegenden Verhaltensregeln beizubringen, braucht Zeit und stete Aufmerksamkeit. Die meisten Jugendlichen durchleben Phasen des Widerspruchs, des Ausreizens von Grenzen und des Handelns gegen den Status quo. Sie stellen gewohnheitsmäßig die kulturellen Sitten in Fragen. Eine Verschiebung in diesen tauscht üblicherweise unter ihnen auf.

Zeit der Ignoranz

Die vorislamischen Araber lebten in einer Umgebung, die alle Eigenschaften einer Ehrenkultur hatte. Im Qur’an wird diese Zeit als Dschahilijja bezeichnet. Damit gemeint ist „eine Zeit der Unwissenheit“ genauso wie „die Zeit gewaltsamer Intensität“. Das Wort Dschahil meint „ignorante Person“ und beschreibt auch „gewaltsam intensiv“. Damit wird jeder beschrieben, der wutentbrannt auf jede Kränkung reagiert.

Er „kocht über“, wenn er getriggert wird. Die Wut, die einen Menschen verzehrt, der sich von einem anderen verunglimpft beziehungsweise angegriffen fühlt, offenbart das Wesen der primitiven Ehrenkultur. Der Dschahil verliert leicht die Fassung, kocht über und schlägt auf jeden ein, der seiner Meinung nach seine Ehre, die seines Clans sowie seiner Familie beleidigt hat.

Die Vorstellung von Ehre war so stark in dieser Kultur, dass Leute im Voraus weibliche Säuglinge aus Angst lebendig begruben, sie könnten im Erwachsenenalter die Familie entehren. Im Qur’an wird auf diese inhumane Praxis Bezug genommen: „(…) und wenn das lebendig begrabene Mädchen gefragt wird, wegen welcher Sünde es getötet wurde (…)“. (At-Takwir, Sure 81, 8-9)

Diese Praxis der Dschahilijja besteht weiterhin unter einer kleinen Minderheit von nahöstlichen Christen und Muslimen, die sich veranlasst sehen, ihre Töchter oder Schwestern aus vorgeblicher Scham zu ermorden, die sie angeblich der Familie oder dem Clan gebracht hätten. Rache ist eine weitere Eigenschaft – jeder Ermordete muss durch Angehörige oder Stammesmitglieder gerächt werden.

Die ignoranten Araber glaubten, dass bei einem Mord eine Art rachsüchtiger Geist freigesetzt wurde, der den Clan so lange verfolgte, bis er den Tod der Person vergelten konnte. Der Prophet wies diese Vorstellung zurück: „So etwas wie Hammah gibt es nicht.“

Auch heute gibt es Ehrenkulturen

Ausprägungen von Ehrenkultur finden sich in modernen Gesellschaften auf der ganzen Welt. Im frühen Amerika beispielsweise umging das Duell als Überbleibsel der europäischen Ehrenkultur das Gesetz. Im Jahr 1804 wurde einer der wichtigsten Gründerväter Amerikas, Alexander Hamilton, in einem Duell getötet, bei dem es um Gerüchte ging, die der damalige Vizepräsident Aaron Burr in die Welt gesetzt hatte.

In den Vereinigten Staaten entwickelten sich die Ehrenkulturen im Zuge der zunehmenden Alphabetisierung und Technisierung zu Subkulturen. Beleidigungen und Kränkungen, die eine Reaktion zur Verteidigung der Ehre rechtfertigten, waren so weit verbreitet, dass sie sich in populärer Musik und Filmen widerspiegelten.

Soziologen haben traditionell Aspekte im Süden gefunden; einer Lebensart, die durch den Landadel und die Dominanz des evangelikalen Protestantismus nach der Kolonialzeit und der Vorkriegszeit geprägt war. Das, was manche als „Cracker-Kultur“ bezeichnen, existiert immer in armen weißen Familien und ist ein Überbleibsel von Traditionen aus Irland und dem englisch-schottischen Grenzgebiet.

Foto: Fadia Williams

Würde kommt von Allah

Würde entzieht sich uns oft. Wir wissen, dass sie eine Eigenschaft ist, die Würdigkeit, Adel, Anmut, Charakter, Wertschätzung usw. widerspiegelt. Aber sie bleibt eher etwas, das wir spüren, als etwas, das wir klar definieren und kennen; geschweige denn aufzeigen können. Mit anderen Worten: Wir erkennen sie, sobald wir sie sehen. Und wir wissen um ihr Gegenteil und spüren, wenn wir verunglimpft wurden oder uns selbst erniedrigten.

Während Ehre das Selbst ist, wie es von anderen wahrgenommen wird, wird Würde von Gott aufgrund unseres Menschseins verliehen: „Und Wir haben ja die Kinder Adams geehrt.“ (Al-Isra, Sure 17, 70) Wir müssen sie schützen und bewahren. Sie kann uns nicht von anderen genommen werden, sondern durch eigenes Handeln schwinden oder sogar verlorengehen.

Die Definition für Würde dreht sich um die Idee des edlen Verhaltens. Eine würdige Person praktiziert Tugend und verhält sich anmutig, angemessen und anständig. Seinen Ursprung hat sich im lateinischen Wort für „wertvoll“, was auf einen Wert verweist. Das, was wir an uns selbst wertschätzen, zwingt zu einem angemessenen Auftreten, das unserer Menschlichkeit entspricht.

Dass Menschen einen Wert haben, ergibt sich aus der Idee der Menschenwürde. Indignation, eine Ableitung von Würde, bezieht sich auf „Zorn über etwas Unwürdiges, Niederträchtiges oder Unehrenhaftes“. Empörte Personen richten ihre Wut beziehungsweise Verachtung auf etwas, das sie als Ungerechtigkeit empfinden oder das der Anerkennung nicht würdig ist; auf etwas, das Tadel verdient. Eine Demütigung zielt darauf ab, die Würde eines anderen herabzusetzen.

Kommt es zu unerträglichen Konflikten, schreibt die Kultur der Würde direkte, aber gewaltfreie Maßnahmen vor – wie einen ausgehandelten Kompromiss, der auf eine Problemlösung abzielt. Gelingt das nicht, müssen die Personen zur Polizei gehen beziehungsweise sich an die Gerichte wenden; es wäre falsch, das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen. Bei schwerwiegenden Vergehen wenden Menschen dieser Lebensweise das Recht ohne Scham an. Gemäß ihrer Ethik der Zurückhaltung und Toleranz ist dies nicht unbedingt ihr erster Ausweg.

Foto: Drazen Zigic, Shutterstock

Opferkultur erinnert an Ehrenkultur

Vor allem in den USA erleben wir derzeit den rasanten Aufstieg einer Opferkultur, die ihre Wurzeln in der Ehrenkultur hat und der Idee von Würde wenig Beachtung schenkt. Sie gefährdet jene Lebensweise, die einige der zivilisiertesten Gesellschaften der Menschheitsgeschichte hervorgebracht hat; in denen Menschen vieler Ethnien und Glaubensrichtungen gedeihen und mit einem beispiellosen Maß an Respekt leben.

In dieser Sichtweise leiten sich Wert und Würde aus dem eigenen Opferstatus ab. Je mehr man sich benachteiligt fühlt, desto größer wird die Selbstwertschätzung. Der wahrgenommene Täter verliert seinen moralischen Status, während der eigene wächst. Diese Denkweise entwickelt sich seit einiger Zeit in der akademischen Welt.

Aber die meisten Menschen waren sich ihrer Perspektiven und Grundsätze bis vor kurzem nicht bewusst, als ein neues Vokabular in der Öffentlichkeit auftauchte, um eine Vielzahl von Phänomenen zu beschreiben. Plötzlich sind neue Worte – von Mikroaggressionen, über Heteronormativität bis zu Triggerwarnungen – auf der Zunge und den Postings unzähliger sozialer Experten, Protestierenden und öffentlichen Intellektuellen.

Wahrgenommene Ungerechtigkeiten und Schäden für die Opfer führten zu einem Bekehrungseifer, der den öffentlichen Diskurs verstärkt und verdunkelt. Man stellt diese Perspektiven unter Gefahr von „Canceling“ in Frage. Man wird für die Verletzung ungeschriebener Regeln verschrien. Befreit von der Vergangenheit glauben sie, alles wäre frei wählbar – ohne eine Gegenstimme.

Wie die Autoren Campbell und Manning es ausdrücken: „Die Ideale der Menschenwürde sind keine feststehende Moral mehr. Das Programm für Mikroaggressionen verwirft eines der wichtigsten Gebote der Kultur der Würde – Beleidigungen und Kränkungen zu ignorieren – und ermutigt stattdessen zumindest einige Menschen, sie zur Kenntnis zu nehmen und etwas dagegen zu unternehmen. Der Gedanke dahinter ist, dass solche Beleidigungen Schaden verursachen, genau wie Gewalt.“

Indem sie eine solche Disintermediation fördert, ähnelt die Opferkultur den traditionellen Ehrenkulturen. Der Unterschied zwischen beiden liegt in ihren Wertvorstellungen. Letztere legt Wert auf Reputation, und erstere auf die eigene Position als rechtlose Person: Je mehr man unterdrückt wird, desto mehr Recht erwirbt man, gehört zu werden. Und umso wichtiger wird es, den vermeintlichen Unterdrücker zum Schweigen zu bringen oder zu „canceln“.

Die Betonung des Kollektivs vor dem Individuum repräsentiert eine zweite Abkehr von einer würdevollen Existenz. Die Opferkultur postuliert eine Vielzahl von Identitätsgruppen als verbündet im Gegensatz zu einem Herrschaftssystem, das von weißen Männern kontrolliert wird. Die Identität ist an die Gruppe beziehungsweise Subkultur gebunden – oder in ihr gefangen. Der Opferstatus einer Person ergibt sich aus der Gruppenidentität, der sie angehört. Wenn man sich mit mehr als einer Untergruppe identifiziert, erhöht Intersektionalität diesen weiter.

Die Agenda der neuen Opferkultur entpuppt sich als eine Strategie zur Propagierung einer materialistischen Weltanschauung. Sie zielt darauf ab, die derzeitige Kultur der Würde zu zerstören und eine neue Gesellschaft zu errichten. Dieser Prozess, den der malaysische Philosoph Syed Naquib al-Attas als Säkularisierung – im Unterschied zum Säkularismus – bezeichnete, setzt voraus, dass Religion vollständig aus der öffentlichen Arena entfernt wird. Daher ist die kulturelle Integration einer neuen Generation in ein Gefühl der Opferrolle und des Ressentiments von entscheidender Bedeutung für die Verwirklichung des Projekts.

Eine Ironie besteht darin, dass die Befürworter der Opferkultur behaupten, sich für Vielfalt einzusetzen, und dennoch religiösen Männern und Frauen gegenüber feindselig und ablehnend eingestellt sind. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Der Glaube an einen Gott der Offenbarung bleibt ein Hindernis auf ihrem Weg zu einer chimärenhaften Utopie.

Die Vorstellung, dass ein Schöpfer der Menschheit einen göttlichen Bund offenbart, in den Männer und Frauen einzutreten und den sie zu erfüllen haben, hindert die Gläubigen daran, den Träumen gnostischer Gottesmänner zu folgen.