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Alles Theorie oder was?

studierende
Foto: Rido, Adobe Stock

Ende Mai dieses Jahres hat der US-amerikanische Islamwissenschaftler Caner K. Dagli auf der Plattform Twitter eine Reihe Aphorismen zum Einfluss postmoderner Theorien auf die Islamwissenschaft beziehungsweise Islamische Theologie veröffentlicht. In Folge hat er sie zu einem Eintrag auf seiner Webseite zusammengefasst.

Wir zitieren hier auszugsweise aus den Postings. Daglis Anmerkungen sind auch für Muslime in Deutschland und Europa von Bedeutung, da sie den Einfluss und die Veränderungen beleuchten, die dieses Denken auf das Verständnis von Islam und seine Debatte bei uns hat.

Ratschlag für junge Akademiker: Zu viel der heutigen „Islamwissenschaft (oder Islamkunde)“ ist drittklassige postmoderne Kulturkritik. Denkfaules Gerede über Muslime als bunte Mischung ethnischer, gegenderter und sexueller Gruppen mit „Islam“ als einer symbolischen, kulturellen Markierung. Lasst euch nicht wie andere vor euch von dieser Blase vereinnahmen.

Man sieht das Spektakel fest angestellter Wissenschaftler an großen Forschungseinrichtungen, die nicht einmal richtig klassisches Arabisch lesen können. Sie unterwerfen einen großen islamischen Universalgelehrten (oder ein ganzes Feld) einer Analyse auf Grundlage eines Bezugssystems nach Michel Foucault, der „Queer-Theorie“ oder irgendeines anderen Prestigeprojekts.

Gelehrte in Islamstudien schreiben ganze Bücher, die als eine Analyse (von Aspekten des Islam) durch die Perspektive von Foucault strukturiert sind. Nicht einmal eine Begründung, warum jemand das tut. Foucault wird ohne Argument vorausgesetzt. Es ist erstaunlich.

Viele graduierte StudentInnen und sogar junge KarriereprofessorInnen wissen nicht (ich auch nicht), dass es ganze akademische Studienfelder gibt, die beinahe vollkommen nutzlos sind. Sogar noch schlimmer, denn sie entziehen der substantiellen und notwendigen Arbeit vielversprechende Gelehrte.

Ich habe viele Stellenbewerber befragt. Es ist verblüffend, wie viele in kontinental(europäisch)er Theorie versunken sind. Sie verdirbt die Fähigkeit eines Gelehrten, klar zu denken, zu schreiben und zu sprechen. Viele clevere Leute haben die Stelle nicht bekommen, weil sie nicht erklären konnten, an was sie forschten.

Es ist einfach nur traurig, jemanden zu fragen, wie man diese Idee einem Neuling erklärt, und dabei zuzusehen, wie diese Person in sich zusammenfällt. Leute, deren Forschung erheblich grundlegend auf Primärquellen basiert, leisten beinahe immer bessere Arbeit als jene, die in postmoderne „Theorie“ eintauchen.

Es gibt viel Wertvolles in den akademischen Islamstudien. Und es gibt viele Projekte, die unerledigt bleiben, weil talentierte, junge Gelehrte ihre Zeit mit Klimbim verschleudern.

Nachdem ich das alles gesagt habe: Ich bin fest angestellt und kann es mir leisten, das zu sagen. Man sollte keinen unnötigen Streit anfangen und immer gemeinsame Schnittmengen finden. Man wird oft angenehm überrascht sein vom guten Willen der Leute, wenn man nicht besonders empfindlich ist und höflich bleibt.

Wenn man den Anhängern der postmodernen Theorie widerspricht oder ihren Pariser Top-Philosophen kritisiert, werden sie einem zuerst sagen, dass man die Sache nicht begreift. Oder man wird sprichwörtlich beleidigt. Bietet man ihnen eine gründlich fundierte Kritik und zitiert ihre Quellen, weisen sie das mit einer Version dieses Gambits zurück: „Deine Frage zeigt in sich, dass Du Teil der Unterdrückungsstruktur bist.“ Oder es gibt mehr Beleidigungen und Emojis. Oder man tut so, als gäbe es die Frage nicht.

Diese Unfähigkeit oder Unwilligkeit, auf Kritik oder Fragen zu antworten oder diese sogar zu beantworten, sollten Wissenschaftler unbedingt vermeiden. Das passiert, wenn die Top-Philosophen ihnen beibringen, dass es bei Wahrheit und Güte im Grunde nur um Machtverhältnisse geht.

Natürlich handelt nicht jeder (eine Menge netter Leute) so, der „Theorie macht“. Aber wenn man Gelehrter ist und versucht, Kritik zu üben oder offen anderer Meinung zu sein, wird man diese Art irrationaler Zurückweisung von Seiten einer beträchtlich großen Gruppe erfahren. Diese wird hierzu oft vulgär und bösartig.

Deshalb rate ich jungen Akademikern, dieser Blase fernzubleiben. Man soll sich nicht zur Ansicht schikanieren lassen, dass der einzige Umgang mit Rassismus, Frauenrechten oder den Unterdrückten „ihr“ Weg sei. Man soll sich nicht von ihnen zu dem Schluss mobben lassen, dass Kultiviertheit bei ihnen beginnt und aufhört.

Um ein konkretes Gegenbeispiel zu nennen: Schaikh Hossein Nasr spricht seit beinahe einem halben Jahrhundert über die Beziehung zwischen Macht und Wissensproduktion sowie dem erkenntnistheoretischen/ideologischen Rahmen. Er hat mehr als jeder andere dafür getan, afrikanische, südostasiatische und andere Ausdrucksformen des Islam in den Vordergrund zu rücken. Ganz schweigen, dass er lange vor vielen anderen Ökologie in der muslimischen Welt thematisierte. Er lehrte Muslime seit Jahrzehnten, wieder das Selbst ihrer eigenen Erkenntniswege zu beanspruchen und ihre Geschichte von ihrem Standpunkt aus zu lernen.

Es ist daher albern, beschuldigt zu werden, sich nicht um die Armen und Unterdrückten zu kümmern, wenn man gegen die irrationalen Grundlagen und den moralischen Nihilismus der postmodernen Philosophie Einspruch einlegt. Das Gleiche gilt für den Vorwurf, den Zusammenhang zwischen Wahrheit und Macht nicht zu begreifen. Man kann auch ohne sie kultiviert sein.

Das liegt nicht nur daran, dass ich ein traditioneller Muslim bin. Hier ist die Position des Islamwissenschaftlers Devin Stewart zum Stellenwert der „Theorie“ bei Religionswissenschaften: „Ich bin wirklich neugierig, ob es irgendwo Menschen gibt, die ungehalten und empört darüber sind, dass das Wissen vom Konfuzianismus die Fähigkeit erfordert, Chinesisch zu lesen.“

Übrigens habe ich nie behauptet und glaube auch nicht, dass man klassisches Arabisch beherrschen muss, um von Dingen zu sprechen, die mit Muslimen zu tun haben. Aber bei Studien zum Inhalt des Qur’an, der Hadithe, Al-Ghazali oder Ibn ‘Arabi? Absolut.

Vor Kurzem gab es ein lautes Getue zu Leuten, die über Rumi schreiben, ohne Persisch zu lesen. Genau die gleichen Leute sind ungehalten, legt man ihnen nahe, dass Arabisch zum Studium des Islam nötig sein könnte. Hier sehe ich Ungereimtheiten.

Einige Anmerkungen zu „Theorie“ für diejenigen, die möglicherweise nicht wissen, was diese im Kontext der akademischen Islamwissenschaft bedeutet. Als ich mit dem Studium begann, hatte ich nur eine grobe Vorstellung von ihr, während andere sich stark mit ihr beschäftigten. Sie bedeutet wahrscheinlich etwas anderes, als manche erwarten.

Theorie als allgemeiner Begriff bezieht sich auf das, was keine reine Empirie beziehungsweise Datenwert ist. Vielmehr ist es ein intellektueller Prozess (eine Formel, ein Algorithmus, eine Faustregel), um Erfahrungen zu sammeln, sowie Muster, Verbindungen, Gruppierungen usw. zu finden. Eine Theorie verarbeitet das Rauschen in ein Signal.

Daher ist „Theorie“ die eigene Regel oder Richtlinie für Interpretation. Das heißt der Beschäftigung mit einigen Aspekten der Welt und sie durch neue Konzepte und Kategorien verständlicher zu machen. Im Idealfall hilft sie uns, die notwendigen Verbindungen von jenen zu trennen, die nur wahrscheinlich oder möglich sind.

Wenn Gelehrte über den theoretischen Teil ihrer Arbeit sprechen, meinen sie: Welchen Bestand an Ideen/Konzepten benutzt man konsequent und zusammenhängend, um das zu deuten und zu verstehen, über was man schreibt? Würde jemand anderes mit dem gleichen Konzept beim gleichen Ergebnis ankommen?

Mit anderen Worten, ein theoretischer Anspruch könnte so aussehen: „Wenn x gegeben ist, hat man y. Und wenn es y gibt, weiß man, was z ist.“ Ein anderer Experte könnte sagen: „Eigentlich nicht. Wenn x gegeben ist, könnte man y bekommen. Aber z ergibt sich notwendigerweise aus y.“ Das ist ein theoretischer Austausch.

Wenn eine Theorie ausdrücklich gemacht wird, ist sie eine Art wenn-dann-Formel; ein Sortiermechanismus, um unsere Erfahrung der Welt neu zu organisieren. Das ist extrem weit gefasst und bedeutet in gewissem Sinne, dass die Theorie eng mit Rationalität verwandt ist oder sogar mit ihr übereinstimmt.

Die Rolle von Theorie als Konzepte oder Ideen, die wir nutzen, um Erfahrung verständlicher zu machen, ist so alt wie Philosophie. Das gilt für die natürliche Welt, menschliche Beziehungen, Recht und Metaphysik. Es ist im Wesentlichen unmöglich, keine Theorie zu haben in diesem allgemeinen Sinne eines Deutungsrahmens.

Wenn Leute nun auf den Fluren der akademischen Welt (genauer gesagt, bei Sozial- und Humanwissenschaften) „Theorie“ sagen, dann meinen sie das auf die Weise, wie wenn Muslime „al-Kitab“ sagen. Es gibt viele Bücher. Sagt man aber „das Buch“, dann wird verstanden, dass damit ein besonderes Buch (der Qur’an) gemeint ist.

Hört man „Theorie“ ohne Zusatzerklärung, ist damit nicht die allgemeine Kategorie des Theoretischen, des Rationalen oder des Philosophischen gemeint. Sie meinen es auf die Weise, in der Sufis über „den Weg“ sprechen. Nicht nur irgendeinen Weg, sondern einen sehr speziellen und besonderen Weg.

Zu Beginn ist nicht erkenntlich, dass beim Zuhören mit „Theorie“ eigentliche „DIE Theorie“ gemeint ist. Was ist „DIE Theorie“? Sie ist eine sehr spezifische Sammlung von kontinentaleuropäischen Ideen von Leuten wie Faucoult, Derrida, der Frankfurter Schule – mit einem Rückbezug zu Nietzsche und Marx. Sie ist komplex.

Mein Punkt ist: Gegen „DIE Theorie“ zu argumentieren, ist etwas anderes, als über Theorie zu diskutieren. Einige Fanatiker geben vor, das Ablehnung von „DER Theorie“ das Gleiche sei, wie eine Ablehnung von Theorie. Das ist ein unehrlicher Gebrauch von Mehrdeutigkeit. Theorie ist unvermeidlich in jedem geistigen Vorhaben. „DIE Theorie“ ist es nicht.

Wenn man also Diskussionen wie die jüngste über Theorie versus Text in der Islamkunde verfolgt, dann geht es nicht um einen Streit zwischen theoretisch unkultivierten Arabisch-Lesern und superkultivierten Analytikern von Religion. Es geht um eine antirationale und moralisch-skeptische Philosophie und ihre Angemessenheit im Studium des Islam.