Beobachtungen aus dem muslimischen „Seelenkeller“. Von Anja Hilscher

Ausgabe 206

(iz). Irgendwas mit „Kaplan“ und ein paar andere türkische Wörter standen auf der Tüte. Selma hatte das Vollkornbrot dort hineingesteckt, um es ihrer Freundin zu bringen. Aus irgendeinem Grund hatte Selma dauernd zu viel Brot – ein Phäno­men, das schwer zu erklären war. Sie hängte die Tüte an den Lenker ihres Rades, stieg auf und fuhr gemächlich die Straße runter. Die Nachmittagssonne begann bereits, die Hauswände in zunehmend warme Gelbtöne zu tauchen. Selma hielt ihr Gesicht ins Licht und ließ sich wärmen – jede Minute des heißen Sommertages genießend. Bis zur Wohnung ihrer Freundin waren es nur drei Häuserblocks. Am Ziel angekommen, lehnte sie das Rad gegen die Hauswand, nahm die Tüte ab und klingelte. Nach einer kleinen Weile hörte sie, wie ­Marta, die Tochter ihrer Freundin, vom Balkon schrie. „Selmaaa?!! Mama ist nicht da. Ich mach auf!“ Der Türöffner summte und Selma trat in die dämmrige Kühle des Treppenhauses. Ihre Augen brauchten einige Sekunden, um sich an das Dun­kel zu gewöhnen.

Das Haus war ein fünfstöckiger Altbau, Baujahr um 1910. An den Wänden Jugendstilkacheln. Genau die Sorte Wohnhaus, gelegen in einem zum trendigen Multikultiviertel avancierenden Stadtteil, das die Vermieter heutzutage gerne aufmotzen und teuer vermieten. „‘Gentrifizierung’ nennt sich das!“, dachte Selma, und musste dabei ein leichtes Würgen unterdrücken. „Nächstes Mal wähl ich noch linker!“ Sie stellte die Tüte an den Treppenabsatz ins Halbdunkel. „Kaplan“, stand darauf. „Jeder Vollhonk weiß, dass ‘Kaplan’ ein türkischer Nachname ist, der vor einigen Jahren ­ziemlich viele Schlagzeilen gemacht hat!“ dachte Selma weiter. Auch Meike würde das wissen, die Selma zwar schon alleine aus Zuneigung nicht als „Vollhonk“ ­bezeichnen würde, die aber in rein „deutschem“, leitkulturgeprägtem Umfeld lebte. Von Selma mal abgesehen. Warum hatte sie eigentlich ausgerechnet diese Tüte nehmen müssen? Freudsche Fehlleistung?

Meike und sie kannten sich gut. So gut, wie man sich eben kennen kann, wenn man sich erst kennenlernt, wenn man schon fast ein halbes Leben gelebt hat. Nur sehr einfach gestrickte Gemüter haben in diesem Alter einen Charakter, der nicht viele Facetten hat. Natürlich kannte Meike nicht alle Interessen Selmas, alle Gedanken, Eigenschaften und Meilensteine ihres Lebens – und sie Meikes auch nicht. Das an sich war es nicht. Der springende Punkt war: Meike kannte auch Selmas Weltbild nicht. Das heißt – in Wirklichkeit kannte sie natürlich einen großen Teil davon, aber da war noch etwas. Dieses dunkle Geheimnis.

Das dunkle Geheimnis eines modrigen, klammen Kellers, in den man sich einfach nicht rein traut. Jeder kennt diese Keller aus der Kindheit. Man hat sich so manches Mal bereit erklärt, den ganzen Abwasch alleine zu machen, wenn man nur dafür nicht den Reis oder die rote Grütze aus dem Keller holen ­musste. Natürlich ist man schon x-ten Mal ­unten gewesen. Man weiß, dass dort weder Ratten noch Zombies lauern. Allerhöchstens schwarze Spinnen, die zwar schlimm sind, aber auch wieder längst nicht so schlimm wie die fliegenden, sirrenden Schnaken. Man weiß auch, dass dort keine Leichen liegen. Trotzdem geht man ungern runter. Man malt sich in Gedan­ken immer wieder irgend etwas diffus Bedrohliches, nicht näher zu Beschreibendes, aber sehr Schreckliches aus.

In Selmas Fall hatte dieser Keller voller (imaginierter) Leichen einen Namen: ­Islam. Ihr dunkles Geheimnis. Der Abgrund in Selmas Seele, der Meike zutiefst unheimlich war. So unheimlich, dass sie sich in Selmas Keller nicht nur nicht hinunterwagte, sondern auch nie ­darüber sprach. Um den Teufel nicht an die Wand zu malen. Selma fand das einerseits ärgerlich, andererseits auch lustig. Gott sei Dank hatte Meike denselben Humor wie sie. Selma war sich nicht ganz klar, was sie dazu trieb, Meike mit ­Hilfe dieses Humors immer wieder zu provozieren. Wollte sie Meike beweisen, dass ihr Humor auch in den finsteren Tiefen eines muslimischen Seelenkellers nicht versiegte? Dass auch religiöse Menschen manchmal lachen, und zwar durchaus laut und dreckig (aber nur an Feiertagen, nicht zu oft!). Versuchte sie, Meikes kindische Furcht quasi auf homöopathische Weise zu behandeln? Sie wusste es nicht.

Sie betrachtete die „Kaplan“-Tüte kurz, überlegte einen Augenblick, welche Wirkung sie auf ihre Freundin ausüben ­würde. Vielleicht würde sie gar nicht auf die Idee kommen, dass Selma sie hier hin gestellt hatte. Vielleicht aber doch. Dann würde sie wahrscheinlich denken: „Diese Selma – wo die das Teil wieder aufgegabelt haben mag. Kaplan! Vielleicht in irgendeinem dubiosen türkischen ‘Kulturverein’, wo die Scheiben abgedunkelt sind. Oder in einer Moschee…“ Bei diesem Wort würde sie sich etwas gruseln. Möglicherweise dachte sie aber gar nichts Derartiges, und Selma war einfach ein bisschen paranoid. Was aber durchaus spannend sein konnte, so erlebte man wenigstens dauernd etwas!

Sie verließ das Treppenhaus und hielt unwillkürlich die Hand vor die Augen. Die gleißende Sonne blendete immer noch stark, wenn man aus der Dunkelheit trat. Ohne weiter nachzudenken, holte Selma ihr Handy heraus. „Die Türktüte von Kaplan – du weißt schon: ehemaliger Kalif von Köln und Hassprediger – die ist von mir! Da ist Brot drin!“, tippte sie und schickte Meike die SMS. Dann schloss sie ihr Rad auf. Sie hatte es geschenkt gekriegt – ein echtes Oldtimerrad! Sie ­setzte sich drauf und ließ sich langsam die abschüssige Straße runterrollen. Richtung „Netto“. Jeden Moment des traumhaften Sommertages genießend.