Das Älterwerden im Islam: Wann ist ein Mensch ein Mensch? Von Tasnim El-Naggar

Ausgabe 205

(iz). Muslime unterschiedlichster Cou­leur leben in Deutschland bereits seit mehr als 50 Jahren. Und wie es das Leben so mit sich bringt…, neue Generationen kommen hervor, die erste Generation wird älter, und einige haben sich gar schon vom diesseitigen Leben verabschiedet. Doch wie ist es, als muslimischer Migrant in Deutschland alt zu werden? Welche Herausforderungen bringt das mit sich? Was sagt der Islam über das Altern? Und mit welchen Selbstverständlichkeiten sind wir jungen Muslime hier aufgewachsen?

Viele der älteren Menschen, denen ich in Berlin begegne, schieben ihren Rollator allein vor sich hin, stützen sich schwer auf ihren Gehstock – manche von ihnen sind körperlich aber auch noch sehr fit. Sie kämpfen sich durch die Stadt, die U-Bahn, sind für jedes Gespräch und für jede Ablenkung dankbar. Manche von ihnen schieben die Gardine ihrer ­kleinen Wohnung bei jeder Bewegung vor dem Fenster zurück. Sie warten auf etwas, auf jemanden. Aber er, sie oder es kommt nicht, oder nur selten. Die kleine Wohnung bleibt leer, meistens. Das ist die Einsamkeit der Alten, die sich in einer Gesellschaft, die das Junge verehrt und das Alte an den Rand drängt, zunehmend ausbreitet.

Vor Kurzem hörte ich, als ich auf die U-Bahn wartete, wie eine Frau zu einer anderen sagte, dass sie gern Kinder gehabt hätte und ihr das leider nicht vergönnt war. Aber dann relativierte sie ihre Aussage: „Na ja, wobei man ja auch nicht weiß, ob die eigenen Kinder später für einen da sind, für einen sorgen werden.“ Ich stutzte, und wurde dann plötzlich sehr traurig. Denn mir wurde klar, dass das, was sie da gerade gesagt hatte, bereits eine gesellschaftlich anerkannte, normalisierte Tatsache war.

Dass sich Kinder um ihre Eltern kümmern, ist demnach ein Plus, aber keines­falls zu erwarten. So bleiben sie im Alter oft nicht nur allein, sondern auch ­einsam zurück. Wer möchte sie schon haben? Auch vom Staat werden sie als Ballast gesehen – Arbeitskraft können oder dürfen sie nicht mehr sein, Geld brauchen sie trotzdem, und das nicht zu knapp. Es sind die Jungen und Junggebliebenen, die den Trend vorgeben. Hippe Klamot­ten, helle Farben, enge Jeans, weiter Ausschnitt, laute Musik, viele Freunde, guter Job, voller Terminkalender… das alles gehört zu den Erwartungen an einen Menschen, der mitten im Leben der heutigen Zeit steht.

So kommt es, dass selbst ältere Menschen diesem Trend so lange wie möglich treu bleiben wollen. Dies zu tun ist ihr volles Recht, wenn dies ihre eigene Entscheidung ist. Aber gleichzeitig führen die Ideale, die hinter diesem Bild stecken, doch zu seltsamen Verrenkungen und fatalen Fehlschlüssen.

Wann ist ein Mensch ein Mensch? Nur, wenn er sich nach diesem Trend richtet, nur, wenn er diesen gesellschaft­lichen Idealen folgt? Anstatt die Quali­täten und Stärken von älteren Menschen zu betonen und positiv zu nutzen, werden sie heutzutage oftmals abgewertet, verkannt, abgeschoben – in die kleine Wohnung am Stadtrand oder gar ins Altersheim. Auch bei Muslimen wird dieser Trend – glücklicherweise noch langsam – sichtbar. In Berlin entstand das erste türkische Altersheim in Deutschland, das auch muslimischen Ansprüchen gerecht wird, im Jahre 2006. Dort kann in der Muttersprache kommuniziert werden; es wird auf Schamgrenzen, auf die Möglichkeit das Gebet zu verrichten und auf Halal-Essen geachtet. Immerhin.

Viele Faktoren haben dazu geführt, dass Menschen in Alten- und Pflegeheime „abgeschoben“ werden, aber ich denke es sind vor allem zwei: Zum einen ist es das Verkommen – ja, ich sage bewusst Verkommen – der Gesellschaft zu einer Leistungsgesellschaft. Arbeiten, machen, tun, malochen – leistungsfähig sein bis zum Abwinken, das ist die Devise, und wer das nicht mehr kann, der hat auch seinen Wert für diese Art von Gesellschaft verloren. Zum anderen ist es nach ­meiner Einschätzung aber auch der Verlust der Religion, die dem Glauben an das unmittelbar Sichtbare weicht.

Der Trend, so lange wie möglich so jung wie möglich zu bleiben, hängt auch damit zusammen, dass immer weniger an ein Leben nach dem Tod geglaubt wird. Dass Ärzte und Forscher sich um ein immer längeres und gesünderes Leben ihrer Patienten bemühen, ist sicherlich lobenswert. Es führt aber auch dazu, dass der Wert des Altwerdens und -seins keiner mehr ist. Denn nach dem Altern gibt es ja nichts mehr… Der Glaube an das Sichtbare ohne das Bewusstsein für das Unsichtbare, aber doch vorhandene, sieht nicht gern die Falten, die Gebrechlichkeit, die Langsamkeit alter Menschen.

Ich glaube aber, dass der Islam mit seinen Werten dazu noch eine Alternative bieten kann. So heißt es auf einer Webseite: „Das Altern ist nach islamischem Menschenbild als ein Teil des menschlichen Lebens zu verstehen, der zur Natur des Menschen gehört.“ Es handelt sich also nicht um eine Abnormität, um ein abweichendes Phänomen, sondern um eine Sache, die ebenso wie die Kindheit oder das Erwachsenwerden zum Leben dazugehört.

Und dabei kann jeder seinen Platz in der Familie, in der Gemeinde und auch in der Gesellschaft finden. Eine der wichtigsten Tugenden des Islam ist es, die Eltern zu ehren, zu lieben und zu respektieren – in erster Linie die Mutter, da sie ihre Kinder auf die Welt gebracht, ernährt, sich gesorgt und sie erzogen hat, aber auch der Vater. Im Idealfall haben beide Elternteile ihren Kindern in der Kindheit Liebe und Fürsorge entgegengebracht – so sollen es die Kinder mit ihren Eltern im Alter machen. Allah warnt im Qur’an davor, die Eltern im Alter respektlos zu behandeln. In Sure Al-’Isra, 23 heißt es: „Und dein Herr hat befohlen: ‘Verehrt keinen außer Ihm, und (er­weist) den Eltern Güte. Wenn ein Elternteil oder beide bei dir ein hohes Alter erreichen, so sage dann nicht «Pfui!» zu ihnen und fahre sie nicht an, sondern sprich zu ihnen in ehrerbietiger Weise.’“ Und der Prophet Mohammed, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, spricht in einem Hadith zu seinem Gefährten: „Oh, Anas, erbarme die Jüngeren und ehre die Älteren, so wirst du zu meinem Gefährten! Wer die Kleinen nicht erbarmt und die Rechte der Älteren gegenüber sich selbst nicht beachtet, gehört nicht zu uns!“

Hier muss ich an eine lehrsame Geschichte denken: Vater und Sohn sitzen auf der Bank. Der Sohn liest ­Zeitung, während der alternde Vater einen Spatzen erblickt und seinen Sohn fragt: „Was ist das?“ Der Sohn antwortet ihm: „Ein Spatz.“ Der Vater wiederholt die Frage noch etliche Male, bis der Sohn die Geduld verliert und seinen Vater wütend anschreit, dass er aufhören solle zu ­fragen. Daraufhin erzählt er ihm, dass der Sohn seinen Vater als Kind genau diese Frage, „Was ist das?“, 21 Mal gefragt hatte, und der Vater hat jedes Mal mit einem Lächeln und einer Umarmung „ein Spatz“ geantwortet. Der Sohn bereut sein Verhalten zutiefst. Aber seien wir ehrlich – wer von uns erweist dem Alter wirklich seine Ehre, ohne mit der Wimper zu zucken? Wer von uns erhebt sich von seinem Sitzplatz und bietet ihn an, wenn ein älterer Mensch den Raum betritt? Ach, es gibt doch genug Platz…

Wer von uns schätzt den reichen Erfahrungsschatz und das unermessliche, wertvolle Wissen von älteren Menschen heute? Na, wir haben doch Schaikh Google und die unendlichen Weiten des Internets, und die Welt verändert sich doch so schnell, da haben die Alten doch keine Ahnung…

Wer von uns hört geduldig zu, wenn ältere Menschen von ihrem Leben erzählen?

Mensch, das ist doch Schnee von gestern…

Wer von uns fragt die Älteren – Eltern, Großeltern, Verwandte, Bekannte – um Rat, wenn es um wichtige Entscheidungen wie Beruf, Ehe usw. geht? Ich weiß es doch besser als sie…

Und wer ist bereit etwas aufzugeben, um seinen Eltern beizustehen und sie in hohem Alter vielleicht auch zu pflegen? Ja, es stimmt, in dieser Gesellschaft geht die Karriere meist vor, davor sind auch wir nicht gefeit, und nicht immer ist es möglich den Beruf für die Eltern auf Eis zu legen. Dennoch: Deutschland ist dabei einen riesigen demographischen Wandel zu vollziehen, sodass es immer mehr ältere und immer weniger ­jüngere Menschen geben wird. Und auch wir werden höchstwahrscheinlich irgendwann zu den Älteren gehören.

Wünschen wir uns also ein angenehmes familiäres wie gesellschaftliches Klima, so tun wir nur gut daran nach der qur’anischen Maxime die Älteren ihrem Recht entsprechend gut zu behandeln. Wünschen wir uns das Beste für unser Diesseits, auch im Alter, so tun wir ebenfalls gut daran, die Älteren ihrem Recht entsprechend gut zu behandeln. Nicht umsonst heißt es: „Keiner von euch ist gläubig, bis er für seinen Bruder wünscht, was er für sich selbst wünscht.“

Und das Gute ist: Wir können genau jetzt damit anfangen. Lasst uns einen neuen Trend nach alten, aber doch aktuellen Werten setzen!