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„Das ist eine alte russische Tradition“

Foto: Drop of Light, Shutterstock

(iz). Während Bomben und Raketen auf ukrainische Städte fielen, haben sich viele Menschen und Politiker in aller Welt überrascht gezeigt. Sie hätten, so hieß es häufig in den letzten Wochen, eine solche Eskalation des Konflikts um die Ukraine nicht erwartet. Dabei gab es in den letzten beiden Jahrzehnten ausreichend Stimmen aus den Nachbarländern Russlands sowie der Fachwissenschaft, die andeuteten, was sich jahrelang im Kreml zusammenbraute. Nicht zuletzt wissen die Menschen im Nordkaukasus oder in Syrien, zu was russische Politik und Militär fähig sind.

Hierzu sprachen wir mit der tschetschenischen Schriftstellerin und Journalistin Maynat Kurbanova. Sie wurde 1974 in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny geboren, wo sie an der Tschetschenischen Staatlichen Universität Journalismus studiert hat. Ab 1991 arbeitete sie als Journalistin für russische Massenmedien. Während des zweiten Tschetschenienkrieges schrieb Maynat Kurbanova für renommierte Medien wie die „Nowaja Gazeta“ und Radio Swoboda. Ihre Artikel und Kolumnen wurden von der Nachrichtenagentur AFP übernommen und erschienen auch in Medien wie der FAZ, der „Süddeutschen Zeitung“ oder „Le Monde Diplomatique“.

Anfang der 2000er Jahre musste sie nach Drohungen gegen die eigene Person wegen ihres engagierten Journalismus Russland verlassen. Zuerst in Deutschland lebend, wo sie an Programmen und Stipendien teilnahm, lebt Maynat Kurbanova seit längerer Zeit in Wien. Ihre preisgekrönten Essays und Erzählungen wurden in verschiedenen Sammlungen aufgenommen. In der österreichischen Hauptstadt engagiert sie sich neben ihrem Schreiben auch zivilgesellschaftlich. So sitzt sie im Vorstand des Vereins „Ariadne – Wir Flüchtlinge für Österreich“.

Mit ihr sprachen wir über Parallelen zwischen dem jetzigen Krieg gegen die Ukraine und dem russischen Vorgehen in Tschetschenien, über imperiale russische Traditionen, die Benutzung von Sprache in der Propaganda sowie den bisherigen „Russlandkitsch“ in der deutschen Gesellschaft.

Islamische Zeitung: Liebe Maynat Kurbanova, Sie wurden 1974 in Grosny geboren, haben dort Journalismus studiert und nach dem Ende ihres Studiums für russische und ausländische Medien gearbeitet. Sie waren insbesondere in Tschetschenien und im Nordkaukasus aktiv und erlebten die Zeit die Tschetschenienkriege. Wie haben Sie auf den Beginn des russischen Angriffs am 24. Februar reagiert?

Maynat Kurbanova: Nun. Sehr überrascht hat es mich nicht, weil ich in den letzten Jahren beobachten konnte, wie die russische Propagandamaschine funktioniert. Nach ihrem Muster wurden die Tschetschenen zu Feinden erklärt und überall in Russland verfolgt, bevor dann zum Krieg übergegangen wurde. Dann waren Georgier die nächsten offiziellen Feinde Russlands. Ihr Land wurde zum Ziel gemacht. So ging die Propaganda gegen Georgien vor. Und seit 2014 war es die Ukraine.

Fernsehen ist das Hauptmedium in Russland. Das Land besteht ja nicht nur Moskau, Sankt Petersburg oder anderen Großstädten. Die meisten Menschen leben in den Provinzen und schauen Fernsehen. Sie glauben alles, was dort erzählt wird. Die ganze Propagandamaschinerie ist darauf ausgerichtet, die Ukrainer und Ukrainerinnen zu entmenschlichen und zu Nazis zu machen. Sie werden als Feind beschrieben, der Tag und Nacht davon träumen würde, Russland zu schwächen, es anzugreifen usw. Vor dem Hintergrund war es auch nicht schwer vorauszusehen, dass das nicht einfach so endet, sondern mit einem Angriffskrieg fortgesetzt wird. Daher hat es mich nicht überrascht.

Trotzdem war das ein Schock und ich hatte ein Déjà-vu. Es ist so, dass wir 1994, als ich noch jung war, vor Beginn des ersten Kriegs mit Freunden und Freundinnen diskutiert haben, wie der unvermeidbare Konflikt wohl aussehen würde. Hatten wir damals gedacht, dass er mit neuen, bis dato unbekannten Waffen geführt wird? Wissen Sie, wir hätten uns nie denken können, dass die mit Panzern kommen, die wir schon aus dem Zweiten Weltkrieg kannten und einfach auf Menschen schießen würden. Russland hat ständig mit neuesten Waffen angegeben. Aber dann kamen sie tatsächlich mit diesen Panzern. Das waren schmutzige, verängstigte und deswegen auch sehr, sehr grausame Soldaten und Söldner. Diese Panzer, der Schmutz, diese unendlichen Bombardierungen … und so ist das jetzt auch in der Ukraine. Deswegen war es für mich ein Déjè-vu-Moment. Alles, was sie da jetzt machen, haben wir 1:1 in Tschetschenien erlebt.

Islamische Zeitung: In der Ukraine werden seit Wochen zivile Ziele in Mariupol, Kiew, Charkiw und anderen Städten in Grund und Boden gebombt. Also ist das für Sie eine Wiederholung dessen, was in Tschetschenien passiert ist.

Maynat Kurbanova: Das ist unglaublich, aber es ist tatsächlich 1:1. Es ist eine Wiederholung. Und wird auch von Propaganda begleitet. Die zivilen Ziele wie in Mariupol sollen demnach von den Ukrainern bombardiert, vernichtet und angegriffen worden sein. Genau so war es damals auch. Tschetschenien ist im Gegensatz zur Ukraine mit seinen nicht einmal 17.000 Fläche Quadratmeter ja ein Fleck. Und es wurde behauptet, dass die tschetschenischen Widerstandskämpfer selbst ihre Städte bombardieren würden. Keiner hat darüber nachgedacht, dass sie nie einen Kampfjet gehabt haben. Womit hätten sie das denn tun sollen? Dennoch wurde es so von der russischen Propaganda dargestellt.

Und wissen Sie, was erstaunlich ist? Die Russen haben das geglaubt. Die Propaganda hat funktioniert. Die Menschen in der Provinz haben daran geglaubt, dass es nur Bilder sind, die wie in Tschetschenien von den Angegriffenen gemacht worden seien. Dass die sich selbst angreifen und töten würden, um es den Russen in die Schuhe zu schieben. Genau so ist das jetzt. Und die russische Armee geht in den letzten Jahrzehnten, in jedem Krieg, den sie geführt hat – in Tschetschenien, in Georgien, in Syrien und jetzt in der Ukraine –, gezielt gegen zivile Ziele vor. In Tschetschenien waren das die ersten Ziele, die bombardiert wurden: Hochhäuser, Museen, Universitätsgebäude, Theater, Kindergärten und Schulen. Jetzt geschieht es in der Ukraine. Der Unterschied ist, dass die Welt Gott sei Dank mit offenen Augen hinschaut. Damals waren ihre Augen verschlossen.

Islamische Zeitung: Russland ist ein jahrhundertealtes Imperium mit einer in Deutschland kaum bekannten Gewaltgeschichte gegen Minderheiten und nichtrussische Bevölkerungen – von der Vertreibung der Tscherkessen, über die Deportation ganzer Völker unter Stalin bis zu den Kriegen im Nordkaukasus. Sehen Sie hier unabhängig von der politischen Herrschaftsform in Moskau eine historische Kontinuität Russlands?

Maynat Kurbanova: Das ist eine alte russische Tradition. In Russland sind die Machthaber und dank Propaganda auch die Russinnen und Russen – ausgenommen von einer Handvoll Intellektueller – ganz besessen von allem Großrussischen. Sie sind sehr chauvinistisch. Es ist ganz wichtig für sie, die russische Welt – sie nennen das „Russki Mir“ – überall auf der Welt zu verbreiten. Diese Ideologie ist von sehr großer Bedeutung. Wissen Sie, selbst der ärmste Bewohner aus einem zerfallenen russischen Dorf träumt von Großrussland. Sie mögen nichts zu essen haben, das wäre in Ordnung; wichtig ist, dass die Russen etwas in der Welt zu sagen haben. Dieser Chauvinismus wird von der Regierung genährt, und über das Fernsehen verbreitet. Das war immer so.

In Tschetschenien kennen wir das seit mindestens vier Jahrhunderten. Andere Minderheiten, Sie haben Tscherkessen erwähnt, kennen das genauso lange wie wir. Die Ukrainer auch seit ein paar Jahrhunderten. Das ist eine alte russische Tradition des Imperiums. Für das Großrussentum ist kein Opfer zu schade oder zu groß.

Islamische Zeitung: Nach Ansicht von BeobachterInnen und Leuten vor Ort finden sich unter russische Rekruten, die in der Ukraine eingesetzt sind, überproportional viele Nichtrussen wie Kaukasier, Zentralasiaten oder Sibirier. Ist das die andere Seite der Moskauer Politik, dass man einerseits Minderheiten verfolgt und sie dann andererseits in den eigenen Kriegen vorrangig verheizt?

Maynat Kurbanova: Ja und nein. Das ist in gewissem Sinne logisch. Schauen Sie, in Russland gibt es über 70 Minderheitenvölker. Und die sind wehrpflichtig; mit 18 Jahren muss in Russland jeder männliche Staatsbürger zur Armee. In solchen Kriegen werden in erster Linie die Rekruten vorgeschickt.

In Großstädten wie Moskau, Sankt Petersburg oder Samara, wo die Menschen mehr oder weniger Geld haben, gibt es die Möglichkeit, ihre Söhne vom Frontdienst freizukaufen. Die berühmte russische Korruption … da kann man es irgendwie versuchen oder man schickt die Söhne ins Auslandsstudium. Solange sie dort lernen, können sie auch nicht eingezogen werden. In Dörfern, in Kleinstädten und in Provinzen – und daraus besteht Russland hauptsächlich – gibt es keine Möglichkeit, die Söhne von der Wehrpflicht freizukaufen.

Andererseits bekommen sie für die Teilnahme an den Kriegen auch mehr Sold. Wenn ein durchschnittlicher Angestellter oder Arbeiter in Russland einen geringen Lohn erhält (der Mindestlohn liegt bei umgerechnet 160 Euro), bekommen sie für den Kriegseinsatz das Zehn- oder Zwanzigfache. Das ist sehr attraktiv für bitterarme Menschen. Die Armut der Menschen in den Provinzen ist ein Aspekt, der nicht zu unterschätzen ist.

Islamische Zeitung: Als Journalistin und Autorin arbeiten Sie tagtäglich mit Sprache. Die Moskauer Begründung für den Krieg und seine Rechtfertigung arbeitet stark mit der Verkehrung und Entfremdung von Begriffen. So wurden Putins Gegner schon vorher entweder als „Nazis“ oder als „Schwule“ denunziert. Ist diese Instrumentalisierung von Sprache eine spezifische Eigenschaft der Moskauer Politik?

Maynat Kurbanova: Das ist keine neue Tradition. In der Sowjetunion zum Beispiel wurden Andersdenkende als „Spione“, als „fünfte Kolonne“ und notfalls auch als „Verrückte“ dargestellt. Und sie wurden tatsächlich zwangsweise in die Psychiatrie eingewiesen. Die Psychiatrie war der verlängerte Arm des Kremls und seiner Politik. Das ist jetzt auch nicht viel anders. Wie Sie sagten, werden diese Menschen als „Verräter“ und „Schwule“ bezeichnet. Vor allem in der patriarchalischen Gesellschaft der muslimischen Minderheiten ist das oft eine Kennzeichnung, die mit dem sozialen Tod gleichzusetzen ist. Das sind altbewährte Methoden vom FSB, vom KGB und vom NKWD bis zurück in die Zeit von Stalin, die jetzt von der Regierung und ihren Anhängern übernommen werden.

Islamische Zeitung: Der deutsche Historiker Karl Schlögel hat zu Kriegsbeginn den Deutschen und insbesondere den Linken unter ihnen vorgeworfen, dass sie an „Russlandkitsch“ litten. Auch andere Stimmen sind der Ansicht, dass wir zu lange die historischen und aktuellen Erfahrungen von Menschen, die im Nahbereich Russlands wohnen, ignoriert hätten. Teilen Sie diese Ansicht?

Maynat Kurbanova: Ja. Ich kenne das noch lange vor dem Ukrainekrieg. Als ich zuerst nach Deutschland aus Tschetschenien geflüchtet bin, habe ich immer wieder solche Diskussionen gehabt. Ich habe regelmäßig auf meinen Lesungen oder Podiumsdiskussionen Menschen getroffen, die dieses oder jenes gesagt haben und dann mit dem Satz schlossen: Aber wir lieben Russland. Meine Antwort darauf lautete: Nein, nicht ihr liebt Russland. Wir tun es, die unter ihm leiden. Und wir, die wir uns für Russland einen demokratischen Weg wünschen und versuchen, diesem autoritären und verbrecherischen Regime zu widerstehen, lieben Russland. Wir wollen es als ebenbürtigen und gleichwertigen Partner und Nachbar sehen. Dieses kitschige „Wir lieben Dostojewski und Tolstoi“ kann man nicht mehr hören. Was soll das? Dostojewski ist lange tot und war dazu noch Antisemit. Man kann russische Kultur lieben – die Literatur oder die Musik. Ich bin mit russischer Literatur, Kunst und Kultur aufgewachsen.

Das ist das eine. Das andere ist aber dieses jahrzehntelange verbrecherische Regime. Putin ist über 20 Jahre lang an der Macht. Es ist eine Generation aufgewachsen, die denken, dass Wort „Putin“ sei der Begriff für den Staatschef. Sie kennen das nicht anders. Das zu unterstützen und irgendwie mit diesem „Aber!“ zu kommen, dafür habe ich keinen Nerv mehr.

Bei Tschetschenien konnte ich das noch halbwegs verstehen. Tschetschenien war klein. Da kam auch noch dieser muslimische Faktor hinzu. Es war leichter, die Augen zu verschließen. Jetzt, wo das in der Ukraine, dem zweitgrößten Land Europas, eins zu eins wiederholt wird, immer noch mit diesem – wir haben Sie es genannt? – „Russlandkitsch“ zu kommen … dafür habe ich keine Entschuldigung und kein Verständnis. Ich finde es auch erstaunlich, dass anstatt Schröder, diesem russischen Laufburschen, jetzt Sahra Wagenknecht zur Hauptsprachführerin Putins mutiert.

Islamische Zeitung: Es gibt noch ein zweites „Aber“ im Umgang mit Russland. Das ist das berühmte „Aber der Westen“. Und kommt gerade von Leuten wie Frau Wagenknecht…

Maynat Kurbanova: (lacht) Ja, das kenne ich natürlich. Wissen Sie, das klingt für mich wie das Lieblingsargument in diesem Krieg von russischen Trollen. Oder auch „Wo wart ihr acht Jahre lang, als der Donbass und Luhansk bombardiert wurden?“ Das bewegt sich für mich auf der gleichen Ebene.

Momentan haben wir einen verbrecherischen Krieg Russlands gegen die Ukraine. Damit sollten wir uns aktuell befassen. Ich kann mir gut vorstellen, dass all die Menschen, die jetzt gegen Russlands Krieg sind, die gleichen waren, die gegen die Kriege von Amerika und des Westens in anderen Ländern protestierten. Dieses Argument taugt nichts. Wir haben momentan eine Situation, mit der wir uns konkret befassen sollten. All dieses „Aber“ dient nur zur Verwischung der aktuellen Debatte und Situation; zur Relativierung dessen, was Herr Putin in der Ukraine macht und zuvor auch in Syrien, Georgien und anderen Ländern gemacht hat. Seit wann rechtfertigt das Verbrechen eines Menschen die Verbrechen der anderen? Wie kommt man überhaupt zu dieser Argumentation?

Islamische Zeitung: Wir bedanken uns, dass Sie sich die Zeit für das Gespräch genommen haben.